Bürgerkrieg und Terrorismus

Syrien: Humanitäre Katastrophe in Jarmuk

Nach Kobane ist nun Jarmuk, ein südlicher Vorort von Damaskus mit palästinensischem Flüchtlingslager, zum Ort der Hölle geworden. 16.000 Zivilisten sind den Milizen des IS ausgeliefert.

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Je länger der Bürgerkrieg in Syrien wütet, desto grausamer werden seine Auswüchse. Nackte Gewalt und Panik greifen um sich. Rund die Hälfte der gesamten syrischen Bevölkerung ist auf der Flucht. Mehr als drei Millionen Syrer haben ihr Land verlassen. Die Spirale aus Gewalt und Gegengewalt hat den ganzen Konflikt verrohen lassen.

Brutal gehen alle vor: das unbarmherzige Regime des Bashar al-Assad, die regimetreuen Baath-Brigaden, die oppositionelle Freie Syrische Armee, die schiitischen Hisbollah-Milizen, die vom Iran unterstützten Quds-Milizen, die radikal-sunnitische Al-Nusra-Front, die ebenso radikale Islamische Befreiungsfront und die Bürgerwehren der Minderheiten. Auch die Kurden sind nicht zimperlich.

Doch die Terrormilizen des selbsternannten „Islamischen Staates“ (IS) haben den Horror in eine neue Dimension gehoben. Wo sie auftauchen, folgen Grauen und Tod. Um ihr Leben zu fürchten haben alle nicht-muslimischen und nicht-sunnitischen Minderheiten sowie all jene, die sich nicht rechtzeitig dem Reglement des IS unterworfen haben.

Die Hölle von Jarmuk

Jarmuk (Al Yarmouk) ist ein Vorort südlich von Damaskus. Der Ort ist nach einem gleichnamigen Fluss benannt, der an einigen Abschnitten die Grenze im Dreiländereck von Israel, Syrien und Jordanien bildet. In Jarmuk leben seit Jahrzehnten hauptsächlich Palästinenser. Lange Zeit galt der Vorort als größtes palästinensisches Flüchtlingslager in ganz Syrien. Mehr als 150.000 Menschen haben dort gelebt – bis der Bürgerkrieg begann. Mittlerweile sind die meisten geflohen. Diejenigen, die – aus welchen Gründen auch immer – geblieben sind, befinden sich in Lebensgefahr.

Bereits zu Beginn des Bürgerkrieges kam es in diesem Distrikt zu heftigen Kämpfen. In dem von Palästinensern bestimmten Ort agierten Kämpfer der „Volksfront zur Befreiung Palästinas“, einer militanten Gruppe, die für ein unabhängiges Palästina kämpft und traditionell von der syrischen Regierung geduldet und sogar unterstützt wurde. Dementsprechend standen sie zu Beginn des Bürgerkrieges auf der Seite des Präsidenten Assad. Ihre Gegner waren die Kämpfer der Freien Syrischen Armee, die für eine Revolution und Beseitigung des Regimes kämpfen.

Nun sind die dort verbliebenen Palästinenser und Syrer den IS-Milzen ausgeliefert. Anfang April lieferten sich die IS-Milizen mit den dort verschanzten Kämpfern der Freien Syrischen Armee Gefechte. Die Terrormilizen des IS sollen dabei den größten Teil des Viertels eingenommen und unter ihre Kontrolle gebracht haben. Die dort verbliebenen 16.000 bis 18.000 Zivilisten, darunter mehrere tausend Kinder, Frauen und alte Menschen, sind der Willkür der neue Besetzer unterworfen. Eine funktionierende Infrastruktur gibt es nicht mehr. Nahrung und Wasser sind knapp. Krankheiten breiten sich aus.

Wie unter anderem The Guardian und The Irish Times berichten, sollen die Milizen des IS bei Einnahme des Flüchtlingslagers und Stadtviertels palästinensische Flaggen verbrannt und Zivilisten enthauptet haben. Die Kämpfe gehen weiter. Von allen Seiten werde das Viertel mit Granaten beschossen.

Wie reagieren die Palästinenser und die PLO?

Die Palästinenser im Gazastreifen, im Westjordanland, im Libanon und in Jordanien sind über diese Nachrichten entsetzt. Doch diese Stimmung ist nicht ungeteilt. Trotz der Horrorszenarien gibt es auch Palästinenser, die mit dem IS sympathisieren. Unter den IS-Kämpfern sollen sich einige Palästinenser befinden.

Wie soll nun die offizielle Vertretung der Palästinenser, die PLO (Palästine Liberation Organization), darauf reagieren? Die Meinungen und Stimmungen sind geteilt. Lange Zeit schien man mehrheitlich gehofft zu haben, die palästinensischen Angelegenheiten aus dem Konflikt in Syrien heraushalten zu können. Doch das Bürgerkriegsdrama hat nun auch sie eingeholt.

Nach einem Bericht von Al Jazeera America möchte die PLO nicht militärisch eingreifen und keine Kämpfer dorthin senden, um den IS aus den palästinensischen Flüchtlingsorten in Syrien hinauszutreiben. Doch auch in diesem Punkt scheint man nicht mit einhelliger Stimme zu sprechen. Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas hat die Ansicht geäußert, sich aus dem Syrienkonflikt herauszuhalten. Jedoch soll er Beauftragte nach Damaskus gesandt haben, um die Lage zu klären. Es sind derzeit widersprüchlich Aussagen im Umlauf, wie sich die PLO mittelfristig in dieser Situation verhalten soll.

UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon ist entsetzt

Bereits am Donnerstag äußerte sich der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki-Moon, zur humanitären Katastrophe in Jarmuk. Wie unter anderem Al Arabiya berichtet, nannte der Generalsekretär die Situation in Jarmuk „den dunkelsten Ort der Hölle“. Das Flüchtlingslager würde immer mehr einem Todeslager ähneln. Man dürfe nicht beistehen und dem Massaker zusehen, meinte Ban Ki-Moon.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Reaktion sowohl der Weltöffentlichkeit als auch der internationalen Politik auf das Drama in Jarmuk wesentlich distanzierter und indifferenter ausfällt, als bei den Anschlägen auf das Pariser Satire-Magazin Charlie Hebdo. Es ist zu befürchten, dass in der Medienöffentlichkeit eine gewisse Abstumpfung gegenüber den Gräuel in Syrien stattgefunden hat.

Die Eingeschlossenen von Jarmuk brauchen einen Fluchtkorridor

Die Situation der Eingeschlossenen von Jarmuk ist schier hoffnungslos. Zwar soll einigen hundert Zivilisten die Flucht geglückt sein. Doch die meisten kommen nicht heraus. Das Stadtviertel ist nahezu komplett besetzt und von verschiedenen, sich gegenseitig bekämpfenden Gruppierungen und Milizen umzingelt. Die Menschen von Jarmuk bräuchten einen Fluchtkorridor. Doch der müsste zunächst freigekämpft und gesichert werden. Bis jetzt ist nicht klar, wer ein solches Vorhaben organisieren und koordinieren könnte.

Syrien ist mittlerweile so verworren und zersplittert, zerstört und ins Chaos gerissen, dass man sich an den Dreißigjährigen Krieg erinnert fühlt. Die wechselnden Allianzen und Fronten der sich bekriegenden Milizen und Truppen und die Tatsache, dass mehr als zehn Millionen Syrer ihr Heim, Hab und Gut verloren haben, haben ein unvorstellbares Chaos hervorgerufen. Mehr als zweihunderttausend Menschen haben bereits ihr Leben verloren.

Stichwort: GeoAußenPolitik

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Gravatar: Klartexter

Die Unterstützung der kleinen Opposition gegen die Assad-Regierung durch den Westen, hat nicht nur zum ISIS bzw. IS geführt, sondern in der Folge auch zur humanitären Katastrophe in Jarmuk und weiteren Teilen Syriens. Überall wo sich die USA, die Nato und ihre Verbündeten und die EU reinhängen, dort gibt es entsetzliche humanitäre Katastrophen.

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