Ein Essay in fünf Folgen

Heiraten oder brennen, Teil IV

Ehe und Familie stecken in der Krise. Manchmal sieht es so aus, als ob die Homo-Ehe die Rettung wäre. Andreas Lombard hält das für unwahrscheinlich. Die Homo-Ehe würde das Problem eher vergrößern, statt es zu lösen. Daher ist sie ein Problem aller. In fünf Teilen veröffentlicht die »Freie Welt« exklusiv das Schlusskapitel aus Lombards Buch »Homosexualität gibt es nicht«. Lesen Sie nach Dienstag Teil drei heute die vierte Folge der Serie »Heiraten oder brennen«.

Andreas Lombard. Foto: privat
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Heiraten oder brennen, Teil IV

 

 

 

Die Leidenschaften werden gerade dort ausgebremst, wo sie vermeintlich Raum bekommen, in der Anarchie der Sitten. »Kinder ja, aber heiraten – wozu?«, fragte eine junge Laborassistentin schon in dem Euthanasie-Film Ich klage an aus dem Jahre 1941. Die Anarchie der Sitten wiederum wird balanciert von einer autoritären Hygiene. Von der nationalsozialistischen Eugenik führt ein gerader Weg zu den Verhütungskampagnen der Bundesgesundheitszentrale, nur mit dem Unterschied, dass damals im Interesse der Volksgesundheit der Nachwuchs das Ziel war und heute (im Interesse völkischen Verschwindens?) die Verhütung: »Wir schützen uns, weil wir uns lieben«, steht unter dem Bild zweier Männer, die nackt im Bett liegen. Im Falle von Mann und Frau ist der »Schutz«, wie wir gelernt haben, nicht weniger geboten, nur dass man die Vielfalt der Gründe, die dieser Notwendigkeit untergeschoben wird, nicht mehr ohne weiteres bemerkt.

Die Nation verlangte große Opfer, aber die »westliche Staatengemeinschaft« tut es nicht minder. Der Weg führt von der Kriegsanleihe zur Umlage für den Ökostrom, vom Opfer der eigenen Kinder als Soldaten, damals für das Vaterland, zum freiwilligen Verzicht auf sie – zur Rettung des Klimas? In den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts war es nur leichter zu erkennen, dass die kollektive Askese in Form von staatlichen Forderungen und Beschränkungen nichts anderes versprach als den verherrlichten Tod. Auch das Aussterben der eigenen Familie kann auf eine verherrlichte Form des Todes hinauslaufen, wenn diese Welt für unwert befunden wird, sie mit Kindern noch länger zu bereichern.

Schon Aristoteles vermutete, dass in Kreta die Päderastie eingeführt worden sei, um der Überbevölkerung zu begegnen. Das nationalsozialistische Fortpflanzungsgebot barg dieselbe Negation der Leidenschaft wie die spätere Geburtenkontrolle, die in die Förderung der Homosexualität überging. Vermutlich gibt es in jeder Epoche viele gute Gründe, bestimmten persönlichen Abenteuern zu entsagen. Ein Ehepaar, das drei oder mehr Kinder hat, billigt seinem Nachwuchs die Mehrheit zu. Mutter und Vater erlauben der Zukunft, stärker zu sein, als sie es sind. Es fällt auf, wie viele Eltern sich dazu nicht mehr entschließen können. Schon in Oscar Wildes Roman Das Bildnis des Dorian Grey heißt es: »Ein neuer Hedonismus – das ist es, was unser Jahrhundert braucht.« Den »blutigen Irrgarten der Leidenschaften« hat Wilde noch als solchen benannt. Er konstatierte, dass für seinesgleichen weder die Lebenserfahrung noch das Gewissen eine »treibende Kraft« sei: »Alles, was sie [die Erfahrung] in Wirklichkeit bewies, war, daß unsere Zukunft ebenso sein würde wie unsere Vergangenheit und daß wir die Sünde, die wir einmal mit Ekel und Widerstreben begangen hatten, oft und mit Genuß wiederholen würden.« Folglich wird schon in Wildes Roman aus dem Jahre 1890, die »neue Norm« errichtet. Die Treue im Gefühlsleben wird genauso denunziert wie die Konsequenz im Geistesleben – als »das Zugeständnis, versagt zu haben«.

Wilde war sich noch bewusst, dass die Konzeption eines individuellen Glücks, das den anderen nicht so nimmt, wie er ist, sondern ihn ersehnt nach den Maßgaben des eigenen Mangels und Begehrens, dass diese »sexuelle Panik«, die nach Rougemont um 1820 schon begann und nach dem Ersten Weltkrieg zu einem spürbaren Anstieg der Scheidung und der »Verlobung auf Probe« führen würde, dass all dies nicht das persönliche Glück, sondern die persönliche Verzweiflung und Anarchie steigert. Das ist nicht leicht zu erklären, und heute ist es vielleicht schwieriger denn je. Wir wollen beides, die Leidenschaft und die Sicherheit, die Geborgenheit und die Ekstase, »wir wollen natürlich alles«, wie die frühere Berliner Kultursenatorin und diplomierte Psychologin Adrienne Goehler mit sympathischer Offenheit wissen ließ. Was diesseits von »allem« liegt, ist nicht genug. Und trotzdem ist und bleibt es ein »Paradoxon ohnegleichen« (Rougemont), dass die brennende Leidenschaft für die Krönung der Ehe gehalten wird und die Ehe für die Krönung der brennenden Leidenschaft.

Tatsächlich wird die Ehe immer öfter gemieden. Und das, obwohl in einer unverbindlichen Beziehung der Austausch sexuellen Vergnügens, der nicht unbegrenzt anhalten kann, für beide Seiten eine permanente Kraftanstrengung und Enttäuschungsgefahr darstellt. Gewisse Erwartungen müssen erfüllt werden, um die Beziehung zu erhalten, und die Entspannung, die nötig wäre, um diese Erwartungen vielleicht sogar erfüllen zu können, wird aus der Unverbindlichkeit der Lage gerade nicht gewonnen. Vor, während und nach dem entspannten Zurücksinken muss die Haltbarkeit der Glücksgefühle ständig überprüft werden. Was aber ständig mit Gewalt festgehalten werden muss, weil es ständig gefährdet ist, rächt sich mit gähnender Leere, mit einer emotionalen Implosion, die keiner der beiden, die eben noch »ein Fleisch« waren, sich erklären kann. Mit bürgerlicher Moral ist das Problem nicht zu lösen, mit Ratgeberbüchern ebenso wenig. Es ist vielleicht überhaupt nicht zu lösen, weil wir nicht wissen, woher es eigentlich kommt. Die nackte Verzweiflung muss uns verführt haben, seine Lösung von denen zu erhoffen, die dem Problem statt der Lösung eine neue und noch anspruchsvollere Variante hinzufügen.

Es gibt aus unserer schwierigen Lage vermutlich keinen Weg zurück, auch das ist wahr. Aber die Wertschätzung des Glücks von Ehe und Familie, das es nicht nur gab, sondern immer noch gibt, ist nicht nur auf Vergangenes bezogen, sondern auch auf Gegenwärtiges. Lebendige Gegenwart ist auch die dynamische Leidenschaft, die mit jenen, eher statischen Institutionen versöhnt werden soll. Da wir uns aber nicht mehr trauen, zwischen guter und schlechter Leidenschaft zu unterscheiden oder zwischen zu viel Leidenschaft und zu wenig (obwohl wir den Unterschied kennen und ständig erleben), werden alle Versuche müßig sein, nach dem Vorbild der Gleichstellung die Leidenschaft mit der Ehe zu versöhnen. Diese Hoffnung, dass die Gesetzgebung ein Problem lösen könnte, das nur das Leben selbst lösen kann, mutet ungefähr so aussichtsreich an wie die Forderung eines Katholiken unter Berufung auf den Katechismus, einfach die Finger von der Sünde zu lassen. Ich gestehe, dass ich dieser Aufforderung eher zuneige als jener Hoffnung, aber ich bilde mir nicht ein, dass das eine oder andere aus sich heraus irgendein Problem lösen würde. Das Problem ist die Unordnung der Seele, die Thomas von Aquin »Sünde« genannt hat. Der Kirchenlehrer argumentierte mit dieser Formel nicht dogmatisch, sondern psychologisch.

Die Moderne hat darauf geantwortet. Sie hat versucht, das Problem der Sünde durch direkte Beruhigung und Abschaffung der Gewissensqualen zu lösen. Was zuvor eine objektive Verfehlung war, soll seit dem Tode Gottes nur noch ein subjektives »Problem« sein. Es scheint, dass dieses Problem allein aus einer falschen, einengenden Objektivität entstand, der man nur ihre Autorität zu nehmen brauche (»freie Liebe« und »offene Ehe«). So wurden die Sünden von gestern zu den »Schuldkomplexen« und »Schuldgefühlen« von heute, und im Rahmen von Psychotherapie und reformierter Seelsorge können sie, so die Hoffnung, überwunden werden, um den Trieb zu befreien und das »Selbst« leichter anzunehmen. An die Stelle der göttlichen Ordnung tritt eine materialistische und subjektivistische Anthropologie, die einen gnostisch erlösenden Prozess der Erkenntnis und der Selbsterkenntnis verspricht.

Was heute rein formal als problematische Spannung zwischen »Ich« und »Welt« beschrieben werden kann, war zuvor eine von der Ursünde angeregte Weise, die göttliche Ordnung zu verfehlen. Seit Rousseau wird die Spannung zwischen »Ich« und »Welt« aber anders aufgelöst, nämlich durch einseitigen Freispruch des Ichs und eine umso härtere Verurteilung der Welt. Die Welt, das sind die Eltern, die Gesellschaft und die Summe unserer traumatisierenden Erfahrungen. Der Fehler wird vorzugsweise außen gesucht, in einer für unmenschlich erklärten »Konstruktion« und nicht mehr im Verhalten des jeweiligen Klägers. Böse kann dieser Mensch gar nicht mehr sein – es sei denn, er wäre der jeweils andere, der diesen mit seinen Zumutungen traktiert wie der Lehrer, der seine Schüler schlägt. Aber auch der schlagende Lehrer fühlt sich nur aus den »falschen« Gründen schuldig und kann seinerseits auf Exkulpation durch aktive Bereinigung seines Gefühlshaushaltes hoffen.

Dem Anschein nach ist jeder im Recht. Jeder Kläger gewinnt den vom ihm angestrengten Prozess. So entsteht aber eine Klageschrift, die wie ein ewiger Kettenbrief bis zum Jüngsten Tag weitergereicht wird und niemals irgendwo ankommt, was im Gegenzug, wie wir von Kafka wissen, das Schuldgefühl steigert, weil früher oder später alle vor einer Anklage stehen, deren Urgrund sie nicht mehr begreifen und auch nicht mehr begreifen können. Aktuell ist das Böse »Weiß Männlich Hetero« (Theater Hebbel am Ufer, Berlin, vgl. Kap. II). Das heißt in unserem Zusammenhang, dass das Böse nicht auf irgendwelche konkreten Handlungen eines weißen, heterosexuellen Mannes zurückgeführt werden kann, sondern offenbar dessen bloßer Existenz entspringt. Sie wird zum Skandal, sodass der Angeklagte sich ziemlich hilflos am Kopf kratzen und sich vergeblich fragen wird, was er den Herren Dramaturgen getan haben mag, die im Zweifelsfall genauso weiß männlich hetero sind wie er selbst.

Das Schuldgefühl, von dem wir uns eigentlich befreien wollten, wird als Unbehagen in der Kultur endemisch und zur Ursache einer ebenso häufigen Schwermut. Der im 20. Jahrhundert aufbrechende Existenzialismus, das innere Nachbeben des modernen Krieges, ist nichts anderes als die depressive Kehrseite millionenfacher Verfolgung. In Amokläufern kommt beides zusammen, die Depression und die Aggression. Sie versuchen von einem Tag auf den anderen, einen Schlusspunkt zu setzen, indem sie einfach um sich schießen. Der Pilot, der die ihm anvertrauten Passagiere in den Tod fliegt, folgt womöglich nur der Idee der Gleichheit, indem er glaubt, von seiner eigenen Lebensmüdigkeit auf die der anderen schließen zu dürfen. Das von vornherein exkulpierte und von allen Hemmungen befreite Individuum kann zum besonders leistungsstarken Motor eines Bösen werden, für das es keinen Begriff mehr gibt. Es geht in die Leidensfalle einer systematischen Exkulpation, in der es die Chancen seiner Rettung nicht mehr zu erkennen vermag. Auch der Suizident und der Amokläufer sind bekanntlich janusköpfig vereint.

Aus »Homosexualität gibt es nicht« von Andreas Lombard, Berlin (Edition Sonderwege) 2015

Die vorherigen Folgen finden Sie auf »Freie Welt« am 17., 18. und 22.03. Die fünfte und letzte Folge erscheint  am 24.03. (Do).








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