Buchrezension Die letzten Tage Europas

»EU heute: Der Größenwahn einer neuen Politikerkaste«

»Ich fürchte, eine weitere Menschen beglückende Idee ist im Begriff, totalitäre Züge anzunehmen.« (Henryk M. Broder)

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Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen – Henryk M. Broder liebt EUROPA! Allerdings hat der „WELT“-Autor eine Vorstellung von EUROPA, die mit der jetzigen politischen Konstruktion wenig, bis sehr wenig zu tun hat: Wie kann es beispielsweise sein, so fragt Broder, dass ein europäischer Spitzenpolitiker freimütig erklärt, Europa könne wegen seiner strukturellen Demokratiedefizite niemals Mitglied der EU werden? Wie kommt es, dass es für jede unmaßgebliche Bagatelle detaillierte Regeln gibt (vom Gemüse bis zum Kondom), aber nicht für den Umgang mit Diktaturen? Kann es angehen, dass die spanische Polizei „europaskeptische“ Demonstranten niederprügelt wie unter Franco? Der Publizist entlarvt in seinem neuen Buch das Europa der Bürokraten und der Gleichschaltung als eines, das geprägt ist von einem neuen Totalitarismus, erfunden und propagiert von einer Politikerkaste, die die europäischen Völker in Geiselhaft genommen hat: Das uns verordnete Europa sei alternativlos, heißt es, wer es ablehnt, gefährde den Frieden. Broders schlüssige Antwort: „Es gibt nur eine einzige Sache, die alternativlos ist – und das ist der Tod.“

Die EU zwischen Größenwahn und Inkompetenz

Bekannt dürfte sein, dass wenn Henryk M. Broder argumentiert, es extrem polemisch zugeht: „Ich habe keine Angst vor Populismus. Ganz im Gegenteil“ gehört zum literarischen Credo des 67jährigen, der im Hauptberuf als Autor der Tageszeitung „Die Welt“ tätig ist. Deshalb: je tabubehafteter ein Thema ist, umso lustvoller ist Broder dabei. Streit ist hier natürlich vorprogrammiert – und dem wird durchaus lustvoll nachgegangen. Mal legt er sich mit dem Appeasement gegenüber den Islamisten an („Hurra, wir kapitulieren“), mal mit der Verwertung des Holocaust („Vergesst Auschwitz!“).

Nun also die EU – vielmehr deren Organisationsformen und Berufseuropäer. Das Resultat, wenig überraschend, gerät nicht eben zum Poesiealbum für der EU-Kommissionen. Eine erste Kostprobe: „Auf diesem Projekt lastet der Fluch des Größenwahns und der Inkompetenz. Diese Mischung wurde schon dem Luftschiff ,Hindenburg‘ und dem Luxusliner ,Titanic‘ zum Verhängnis (...)“.

Die EU – Mangel an Demokratie

Und gewohnt streitlustig steigert sich der 1946 in Kattowitz geborene Publizist weiter. Bereits auf den ersten Seiten des Buches zitiert der Autor den jetzigen Spitzenkandidaten der europäischen Sozialdemokraten Martin Schulz mit der Aussage: „Wäre die EU ein Staat, der die Aufnahme in die EU beantragen würde, müsste der Antrag zurückgewiesen werden – aus Mangel an demokratischer Substanz“. Wer glaubt, dies sei ein Druckfehler oder völlig aus dem Zusammenhang gerissen, der irrt. Martin Schulz hat das tatsächlich und (bei YouTube) nachprüfbar, geäußert. Selbstverständlich legt Broder dann noch nach: „Dieselben Leute, die nicht in der Lage sind, einen Bahnhof, einen Flughafen oder eine Konzerthalle zu bauen (...), machen sich auf, das Klima zu retten (...) Es ist, als würde man Bastlern, die es nicht einmal schaffen, eine Märklin-Anlage unfallfrei zu betreiben, die Leitung der Deutschen Bahn und des Flughafens Frankfurt anzuvertrauen. Wie die Konstrukteure der TITANIC überzeugt waren, dass sie ein Schiff gebaut hatten, das in der Lage war, allen Gefahren zu trotzen.“ Dass die damaligen Offiziere für ihre Unfähigkeit vor Gericht gestellt wurden, ist dann allerdings der große Unterschied zwischen den ehrenvollen Seemännern S.M. und heutigen Beamten, die sich zusätzlich noch mit einer strafbefreienden Immunität abgesichert haben; ein Fakt, der allerdings erst nach den Recherchen zum Buch offenbar wurde.

Kasse machen auf dem Rücken Europas

Wenig überraschend, dass sich der Mitbegründer des Polit-Blogs „achgut.de“ mit seinen Äußerungen in Brüssel wenig Freunde macht. Die EU als „das Ergebnis omnipotenter Phantasien impotenter Bürokraten zu bezeichnen“, scheint den sonst auf Kuschelkurs mit Journalisten liegenden Eurokraten dann doch zu weit zu gehen und so lässt der Präsident der Europa-Union Deutschland, Rainer Wieland mitteilen: „Broder enttäuscht mich und bewegt sich auf einem erstaunlich niedrigen Niveau. Seine Thesen gründen sich auf Halbwissen und bedienen zielgerichtet die Vorurteile vieler Menschen. Da will jemand auf dem Rücken Europas Kasse machen. (…).“ Na ja, scheint Broder dem Herrn Wieland erwidern zu wollen, wer hier wirklich Kasse macht.... Und veröffentlicht eine zweiseitige Tabelle über die Bezahlung in deutschen Ämtern im Vergleich zur Bezahlung von Tätigkeiten in der EU (Bundespräsident: 18.083 Euro; Präsident der EU-Kommission: 29.154 Euro); selbst ein Saaldiener verdiene 4.146 Euro (natürlich ohne Auslandszulage).

Abstimmungen als Farce

Natürlich sind auch Schilderungen einiger Grotesken und Sinnlosigkeiten zu finden, ohne die ein Buch über Brüssel und Straßburg wohl (leider) nicht auskommt. Broder beschreibt sie allerdings sehr genüsslich. Ohne dabei zu vergessen, dass diese Unsinnigkeiten eine Menge Geld und Aufwand gekostet haben und noch immer kosten. Aber wie sagt Broder treffend: „Wenn es aber um Geld geht, hört der Spaß nicht auf, nein, er fängt erst richtig an.“

Broder findet dann allerdings wieder schnell zu den wesentlichen Skandalen zurück: Anders als in jedem richtigen Parlament, so der Autor, gibt es im Europaparlament keine Regierungsfraktion und keine Opposition: „Wer einmal eine Abstimmung miterlebt hat, der weiß, was der Begriff „Farce“ bedeutet. Im Minutentakt wird über Vorgaben der EU-Kommission entschieden, wobei die Berichterstatter bzw. Fraktionssprecher ein Handzeichen geben: Daumen nach oben bedeutet Ja, Daumen nach unten bedeutet Nein. Dementsprechend „stimmen“ die Abgeordneten ab. In jeder Studentenvertretung einer Fachhochschule geht es demokratischer zu.“

Europa oder Auschwitz

Aber Broder hat auch journalistische „Fußarbeit“ verrichtet und sich den Redebeitrag des Martin Schulz anlässlich einer IG Metall Veranstaltung angehört. „Der Firnis der Zivilisation ist dünn“, so Schulz, weshalb der gelernte Buchhändler, seit 1994 im EU-Parlament „so vehement für das europäische Einigungswerk kämpft“. Es geht schließlich um Alles: „Wir riskieren, zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Fehler des frühen 20. Jahrhunderts zu wiederholen“. Soll heißen: Geht die Geschichte mit der EU daneben, versinken die Völker in Krieg und Not. Die derart erschreckten Gewerkschaftler, so Broder, mussten jetzt einfach einsehen, dass auf der Rednertribüne IHR Mann stand, der sie alle vor dem Chaos retten wird. Schulz for Präsident! Für die nächsten Jahre! Natürlich geht der streitbare Broder mit solchen Äußerungen hart ins Gericht und entlarvt sie, als das was sie sind: unglaublicher Blödsinn und die gnadenlose Selbstinszenierung eines „Eurokraten“. Um dann daran zu erinnern, dass „Martin Schulz einem Parlament vorsitzt, das mehr mit dem Obersten Sowjet der ehemaligen SU als mit der Bezirksverordnetenversammlung von Kreuzberg-Friedrichshain gemein hat.“

Die Lösung?

Henryk M. Broder hält es mit David Cameron: eine Art innehaltender Pause, in der das europäische Projekt nicht weiter vorangetrieben, sondern grundsätzlich überdacht werden soll. „Während dieser Auszeit findet eine öffentliche Debatte über die Zukunft Europas statt. In jedem Land und grenzübergreifend (...). Und nach zwei, drei oder vier Jahren wird dann abgestimmt, für oder gegen den Euro, für oder gegen die EU, in welcher Form auch immer, als Staatenbund oder als Bundesstaat, als lose Föderation, als Kibbuz, als Kolchose (. . .).“

Fazit

Was Broders Text von gängiger EU-Kritik angenehm abhebt, ist nicht nur der wirklich unterhaltsame, erfrischende Broder-Sound, sondern vor allem die überhaupt nicht EU-feindliche Grundhaltung. Der in Berlin und Virginia/USA lebende Autor bekennt ganz offen: „Ich muss zugeben, dass mir EUROPA lange egal war. (...) Ich habe noch nie an einer Europawahl teilgenommen, ich weiß nicht einmal, wer mich im Europäischen Parlament vertritt.“ Das hat sich nun geändert: Auf die Idee, der EU seine publizistische Aufmerksamkeit zu widmen, habe ihn der unsägliche Glühbirnen-Dirigismus der Union gebracht: „Ich fürchte, eine weitere Menschen beglückende Idee ist im Begriffe, totalitäre Züge anzunehmen.“ Und ebenfalls sehr (ungewohnt) selbstkritisch wird nachgelegt: „Was für ein gigantisches Wahngebilde die praktische Umsetzung der „europäischen Idee“ aber tatsächlich hervorgebracht hat, ist mir erst bewusst geworden, als ich den Text abgeschlossen hatte.“ Trotz des absolut ernsthaften Gegenstandes, eine ebenso unterhaltsam-polemische wie höchst lesenswerte Lektüre.

Henryk M. Broder: DIE LETZTEN TAGE EUROPAS. Wie wir eine gute Idee versenken, ISBN: 978-3-8135-0567-2; 19,99 Euro

Cover

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