Rezension Thomas Weber

Das Ende eines Mythos und die Banalität der Wahrheit

Die Biografen Hitlers haben die Vita des Diktators recht unterschiedlich gedeutet – bisher waren sich allerdings die seriösen Historiker einig: Die Fronterlebnisse im Ersten Weltkrieg waren entscheidend für den späteren Aufstieg des Diktators - während sich Hitler selbst zum tapferen Frontsoldaten stilisierte und dessen Freiwilligen-Regiment, eine verschworene Kampfgemeinschaft, den Keim der späteren NS-Bewegung gebildet habe.

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Diese Darstellung wurde bereits von der NS-Propaganda verbreitet und von späteren Biografen (u.a. Fest und Kershaw) weitgehend übernommen. In seinem Buch zerstört nun er Historiker Thomas Weber diesen Mythos. Anhand noch nie ausgewerteter Akten des sogenannten List-Regiments, in dem Hitler diente, zeichnet Weber ein ganz anderes Bild: Hitler war keineswegs der mutige Soldat an vorderster Front, sondern als Meldegänger meist weit hinter den Frontlinien tätig. Das Regiment war keine homogene Einheit, sondern bestand aus Rekruten unterschiedlichster Anschauungen. Kaum einer trat nach dem Krieg der NSDAP bei, viele standen dem späteren NS-Regime kritisch gegenüber – sind von der Gestapo verhaftet worden und starben im Konzentrationslager. Nicht zuletzt will der Historiker Thomas Weber zeigen, dass Hitler ebenso orientierungslos aus dem Krieg herauskam, wie er hineingegangen war.

Hitler machte der Krieg, Stalin die Revolution

Noch im Tode präsentierte sich Hitler und sein Mythos - auf dem feldgrauen Militärrock des Selbstmörders prangten zwei Auszeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg: das Verwundeten-abzeichen und das Eiserne Kreuz I. Klasse. Auf die war Hitler zeitlebens stolz, weil an ihnen der „Schmutz von Frankreich und der Schlamm von Flandern klebten“. „Jeden Tag“, habe er „sein Leben aufs Spiel gesetzt“ und „dem Tod ins Auge gesehen“. Wie „durch ein Wunder“ am Leben geblieben - den Stahlgewittern trotzend – habe er ab 1914 als „Freiwilliger“ seine „bescheidene Kraft im ersten, dem Reich aufgezwungenen Weltkrieg“ eingesetzt. Bis heute gilt nach verbreiteter Lesart, dass das Erlebnis Erster Weltkrieg, Hitler so radikalisiert habe, dass er sich zum überzeugten, gnadenlosen Judenhasser entwickelte. „Der Krieg machte Hitler, so wie die Revolution Stalin gemacht hatte“, urteilt etwa der britische Historiker Richard Overy, und auch dessen Landsmann Ian Kershaw glaubt, Hitlers Weltbild habe damals „an Schärfe gewonnen“. Joachim Fest, dessen Opus magnum „Hitler“ höchste Standards setzte, war ebenfalls überzeugt von dieser Art Wechselspiel.

Der Frontkämpfer im Stahlgewitter

Thomas Weber ist da ganz anderer Meinung. Der Geschichtswissenschaftler aus Hagen, der an der Universität Aberdeen lehrt, schöpfte aus einem Aktenbestand, der bis dahin erstaunlicherweise so gut wie unbemerkt im Bayerischen Hauptstaatsarchiv lagerte. Es sind Papiere über Hitlers Regiment, die Brigade, die Division, Gerichtsdokumente samt Zeugenaussagen und beschlagnahmte Feldpostbriefe. Als Adolf Hitler im Jahr 1932 seine mythische Selbstdarstellung als Frontsoldat des Ersten Weltkrieges vor Gericht ausfechten musste, schrieb ihm ein ehemaliger Kamerad vom Regimentsstab des List-Regiments: „Nun es ist einmal Ansicht sämtlicher Grabensoldaten, dass die vom Regimentsstab schon zu den Etappenschweinen gehören.“ Damit gab er der Kritik anderer Soldaten an Hitlers Selbstinszenierung Recht. „Adolf wir können es nicht aus der Welt schaffen, dass wir eben Regimentsstabler waren.“ Aus nahe liegenden Gründen ließen die Propagandastrategen in der NSDAP diesen Brief in den Untiefen des Parteiarchivs verschwinden. Mit großer Akribie hat Thomas Weber Dokumente wie diese zu Hitler und dem List-Regiment im und nach dem Ersten Weltkrieg aufgespürt, um den Kriegsmythos zu widerlegen und Hitler als das zu entlarven, was er war: ein Regimentsmeldegänger, der unter eher vorteilhaften Bedingungen Dienst hinter den vorderen Linien verrichtete und den Offizieren vom Regimentsstab näher stand als den Frontsoldaten. Ein erstaunliches Detail kommt in diesem Zusammenhang auch zur Sprache: wer später den Erzählungen vom Frontkämpfer Hitler widersprach, wurde gnadenlos verfolgt - und ins KZ gesteckt. Auch Hugo Gutmann, einer der jüdischen Offiziere, geriet 1937 in die Fänge der Gestapo und saß zwei Monate in Haft, wegen „verächtlicher, herabwürdigender und unwahrer Äußerungen über den Führer“. Dabei hatte eben jener Leutnant hatte dafür gesorgt, dass Hitler, wie im Übrigen alle Meldegänger, mit dem Eisernen Kreuz I. Klasse dekoriert worden war. Jenen Orden, den er dann auch im Tode trug.

Zwischen Selbstverstümmelung und Gehorsamsverweigerung

Hitlers politische Identität, so lautet deshalb Webers provokante Schlussfolgerung, sei wohl kaum durch traumatische Fronterlebnisse entstanden. Er sei bei seiner Rückkehr aus dem Krieg „vollkommen offen und formbar“ gewesen und hätten „zu diesem Zeitpunkt noch in verschiedene Richtungen gelenkt werden“ können. Weber weist nach, dass zwischen Hitlers Kriegsdienst als Regimentsordonnanz und den Fronterfahrungen der Infanteristen Welten, lagen und es ist das Verdienst des Autors, Hitlers Erfahrungskontrast offen zu legen. Die Spannungen zwischen ,vorn‘ und ,hinten‘ herauszuarbeiten und die von Hitler und der NS-Propaganda geschaffenen zählebigen Annahmen über sein Frontsoldatentum und das List-Regiment zu korrigieren. Die 300-seitige Rekonstruktion des Kriegseinsatzes des Königlich Bayerischen Reserve-Infanterie-Regiments Nr. 16 wird dabei zu einem packend geschriebenen und absolut lesenswerten Beitrag zur Erfahrungsgeschichte an der Westfront. Auf der Grundlage von Regimentsakten, Akten der Militärgerichtsbarkeit und Selbstzeugnissen analysiert Weber akribisch die personelle Zusammensetzung des List-Regiments, das Zusammen- und Gegeneinanderwirken seiner Teileinheiten, die Beziehungen zwischen den Rängen und zu den Gegnern. Er erörtert Reichweite und Grenzen der Kameradschaft und zeichnet den dramatischen Stimmungsverfall unter den Infanteristen in der zweiten Kriegshälfte nach, als sich Selbstverstümmelungs- und Desertionsversuche häuften und selbst offene Gehorsamsverweigerungen gegenüber Vorgesetzten mitunter ungeahndet blieben. All dem stellt Weber durchaus pointiert Hitlers Zufriedenheit im Kreis des Regimentsstabs gegenüber, liefert Charakterporträts der Personen seiner nächsten Umgebung und beschreibt Hitler als einen gegenüber Vorgesetzten diensteifrigen und unterwürfigen, ansonsten eigenbrötlerischen und weltanschaulich noch nicht entschiedenen Gefreiten. Mit Hitlers räumlicher und emotionaler Isolierung von den Leiden der Frontsoldaten und jenen der Heimat liefert das Buch ein erstaunliches Zusatzargument, weshalb Hitler beide Welten nie verstand.

Hitler – vom V-Mann zum Diktator

Aus dem Krieg ging Hitler orientierungslos hervor. Mit dem Ende des List-Regiments löste sich auch Hitlers Welt auf. Hin- und hergerissen zwischen sozialistischen und rechtsnationalistischen Verheißungen, diente Hitler zunächst als gewählter Soldatenrat der bayerischen Räterepublik, ehe er nach deren Scheitern die Seite wechselte und als eine Art V-Mann einer Untersuchungskommission mehrere Revolutionskameraden ans Messer lieferte. Erst jetzt, so argumentiert Weber überzeugend, erscheint Hitler als radikaler Antisemit und glühender Antibolschewist. In der Deutschen Arbeiterpartie fand Hitler dann im September 1919 eine neue Heimat. Das Gros der List-Veteranen blieb der Partei auch in den Folgejahren fern. Dank fast minutiöser Recherche gelingt es Weber, die Lebensverläufe Hitlers und diverser List-Veteranen nach dem Krieg aufzudecken. Mit Hitlers Kriegsmythos und dessen politischer Instrumentalisierung beim Aufstieg zur Macht und während des „Dritten Reichs“ greift Thomas Weber ein wichtiges Forschungsthema auf – gerade im Kontext zur 100ten Wiederkehr des Beginns des Ersten Weltkriegs. Die beeindruckend Recherche und intensive, sorgfältige Widerlegung erfundener und nachträglich manipulierter Elemente dieses Mythos war längst überfällig und verdienen deshalb umso größere Anerkennung. Hinzu kommt, dass Webers Behandlung der Quellen und des Bildmaterials nur als vorbildlich zu bezeichnen sind. Den Mythos „Hitler im Ersten Weltkrieg“ unterzieht der Historiker einer akribischen Prüfung, deren Ergebnis in durchaus zugespitzten Thesen vorgetragen wird, die das Bild des hoch dekorierten Weltkriegssoldaten in Frage stellen. Überzeugend zeigt Weber, dass Hitler keineswegs der Frontsoldat „par excellence“ war und dass die in den zwanziger Jahren einsetzende Mystifizierung Hitlers durch Anhänger wie Gegner mit zahlreichen Fabulierungen durchsetzt war.

Thomas Weber: „Hitlers erster Krieg: Der Gefreite Hitler im Weltkrieg – Mythos und Wahrheit“

Hitlers erster Krieg

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