Gastbeitrag von Robert Royal

Ein großer Vorfahre aus jüngster Zeit

Für uns, die wir ein Jahrhundert später in uralte Fragen in neuzeitlichen Formen verwickelt sind, sind die Maritaner hilfreiche Vorfahren: nah genug, um ein Gefühl der Kontinuität zu vermitteln, und anders genug, um zu zeigen, wie die große Tradition selbst unter den aussichtslosesten Umständen wieder aufleben und erblühen kann.

Jacques Maritain/Bild: The Public Discourse
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[Wir veröffentlichen einen Gastartikel von Robert Royal* mit freundlicher Erlaubnis in eigener Übersetzung. Original hier zu finden.]

Ein junger Mann und eine junge Frau spazieren im Sommer 1901 durch den Pariser Jardin des Plantes. Und sie dachten über Selbstmord nach. Es war keine romantische Verzweiflung. Sie waren verliebt und wollten leben. Aber als Studenten der Naturwissenschaften an der Sorbonne wurde ihnen beigebracht, dass die Welt keinen Sinn hat, sondern nur eine willkürliche Ordnung, die - so glaubten die Wissenschaftler - zufällig und irgendwie entstanden ist. Eine solche Welt schien ihnen unerträglich. Sie wollten mehr, etwas, das der Liebe und dem Leben einen Sinn, eine Würde und ein Ziel geben würde.

Der junge Mann war Jacques Maritain, später der einflussreichste katholische Philosoph des zwanzigsten Jahrhunderts. (Am Freitag jährte sich sein Todestag zum fünfzigsten Mal.) Die Frau war Raïssa Oumançoff, Russin und Jüdin, die nach ihrer Konvertierung (durch den Romancier und bekennenden Verrückten Léon Bloy) zur Dichterin und mystischen Schriftstellerin wurde. Die Welt versucht immer, der Frage, die sich ihnen stellte, auszuweichen - oder zumindest die Antwort zu verschieben. Letztlich ist das unmöglich, das wussten auch die modernen Existentialisten ganz genau: Entweder Gott oder das Nichts.

Für uns, die wir ein Jahrhundert später in uralte Fragen in neuzeitlichen Formen verwickelt sind, sind die Maritaner hilfreiche Vorfahren: nah genug, um ein Gefühl der Kontinuität zu vermitteln, und anders genug, um zu zeigen, wie die große Tradition selbst unter den aussichtslosesten Umständen wieder aufleben und erblühen kann.

Viele Katholiken, die es besser wissen sollten, verunglimpfen den Neo-Thomismus, den Maritain und andere in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zu fördern halfen. Gewöhnlich, weil sie die spätere personalistische und kommunitaristische Nouvelle Théologie und ihre Entwicklungen in Figuren wie Karol Wojtyla und Joseph Ratzinger bevorzugen. Damit wird jedoch eine Spaltung innerhalb der Vielstimmigkeit der katholischen Tradition geschaffen, die nicht sein muss, insbesondere Jahrzehnte später, wenn wir brauchen, was beide Strömungen uns geben können.

Für mich persönlich war es in den 1970er Jahren als Student an einer Ivy-League-Universität ein Geschenk des Himmels, Maritain (durch »Zufall«) und die ganze aristotelisch-thomistische Welt mit ihrer intellektuellen Solidität, ihren sorgfältigen Unterscheidungen und ihrer lebhaften Auseinandersetzung mit Kunst und Poesie zu entdecken. (Als einer der TCT-Gründer, Michael Novak, Maritains magistrales Werk Creative Intuition in Art and Poetry las, musste er einige Male spazieren gehen, um wieder zu Atem zu kommen). Für mich war die Scholastik ein Bollwerk gegen das Chaos der 1960er Jahre. Und das aus gutem Grund.

Kardinal Newman, der weder Aristoteliker noch Thomist war, schrieb: »Solange wir Menschen sind, können wir nicht anders, als zu einem großen Teil Aristoteliker zu sein, denn der große Meister analysiert nur die Gedanken, Gefühle, Ansichten und Meinungen der menschlichen Art. Er hat uns die Bedeutung unserer eigenen Worte und Ideen gesagt, bevor wir geboren wurden. In vielen Bereichen richtig zu denken, bedeutet, wie Aristoteles zu denken, und wir sind seine Jünger, ob wir wollen oder nicht, auch wenn wir es nicht wissen.«

Hinter den Feinheiten und der Komplexität von Aristoteles und Aquin liegt das, was Chesterton Vernunft nannte, die tief in der Wirklichkeit verwurzelt ist, nicht sozial konstruiert, wie die Sophisten in jedem Zeitalter behaupten, sondern der Rahmen der Welt, in der wir leben, und auch die Wahrheit über unser eigenes Wesen. Eine Einführung in den Thomismus erhalten Sie in einem TCT-Kurs von einem anderen Gründer dieser Website, dem großen Ralph McInerny, der auch The Very Rich Hours of Jacques Maritain geschrieben hat. Unbedingt lesen.

Als älterer Staatsmann, der nicht mehr so anfällig für das Chaos ist, wende ich mich oft an Platon, Augustinus und die neueren Theologen und Philosophen, die sich wie Newman auf die frühen Kirchenväter berufen. Wir brauchen dringend den Personalismus und den Kommunitarismus, den sie anstreben. Aber solche Anliegen waren Maritain nicht unbekannt (vgl. seine Person und das Gemeinwohl, Wahrer Humanismus, usw.). Und ohne aristotelische/thomistische Vernunft werden wir die menschliche Person oder Gemeinschaft nicht wiederfinden.

Der schiere Umfang (etwa 14.000 Seiten in meiner französischen Ausgabe des Gesamtwerks) und das Ausmaß seines Werks sollten unsere Aufmerksamkeit erregen. Niemand sonst hat den Wunsch Leos XIII. in Aeterni Patris nach einer thomistischen Erneuerung der Gesellschaft mit einer solchen Kreativität umgesetzt - und hatte eine solche Resonanz weit über die katholische Kirche hinaus. Neben seinen Werken über Philosophie, Theologie, Geschichte, die Heilige Schrift und das Judentum beeinflusste Maritain auch das öffentliche Leben. Schon bevor er durch den Einmarsch der Nazis in Frankreich ins Exil gezwungen wurde, hatte er die »christliche Demokratie« ausgearbeitet, eine substanzielle Alternative zum Kollektivismus des Kommunismus, zum wissenschaftlichen Rassismus des Nazismus und zum politischen Totalitarismus des Faschismus.

Ich besitze The Things That Are Not Caesar‘s (London, 1939), eine Übersetzung des französischen The Primacy of the Spiritual, die aufgrund des säurehaltigen Papiers, auf dem sie gedruckt ist, zerfällt, aber ein Schatz aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs ist. Der Titel spricht Bände: Die moderne Politik versucht, wie wir heute selbst in Amerika nur zu gut wissen, alles zu verschlingen, auch die Bereiche des geistigen Lebens. Die christliche Demokratie nach dem Modell Maritains trug zur Bildung politischer Parteien bei, die entscheidend dazu beitrugen, den Sowjetkommunismus aus Westeuropa und mehreren lateinamerikanischen Ländern fernzuhalten.

Nach dem Krieg wurde Maritain zum französischen Botschafter beim Heiligen Stuhl ernannt. Er spielte eine entscheidende Rolle bei der Ausarbeitung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen. Trotz des traurigen Schauspiels, das die UNO in den folgenden Jahren bot, ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte keine geringe Leistung.

Auch die Europäische Union wurde ursprünglich von Christdemokraten in Frankreich (Robert Schumann), Deutschland (Konrad Adenauer) und Italien (Alcide de Gasperi) auf den Weg gebracht. Ihre Vision war gut, weil die katholische Soziallehre und Maritains Beiträge dazu gut waren. Aber wie das heutige Amerika - das sich weit von seinen verfassungsmäßigen Wurzeln entfernt hat - hat die EU einige der totalitären Merkmale angenommen, die Maritain in ihren früheren Formen bekämpfte.

Dies sind viele und großartige Beiträge für die Kirche und die Welt, die nur wenige Jahrzehnte zurückliegen und die es verdienen, in unserer eigenen unruhigen Zeit untersucht zu werden. Die alten Grundlagen sind nicht für immer verloren, weil sie es nicht sein können. Sie warten nur darauf, dass wir sie wiederbeleben, natürlich mit kreativen Anpassungen an unsere Zeit.

Und ich persönlich stehe in der Schuld des Maritain, der mich aus der Unordnung der 1960er Jahre gerettet hat. Dante war nicht weniger erleichtert, als Virgil auftauchte, der von den drei heiligen Frauen geschickt wurde, um ihn aus dem dunklen Wald zu führen. Lies ihn.

*Robert Royal ist Chefredakteur von The Catholic Thing und Präsident des Faith & Reason Institute in Washington, D.C. Seine jüngsten Bücher sind Columbus and the Crisis of the West und A Deeper Vision: Die katholische intellektuelle Tradition im zwanzigsten Jahrhundert.

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Ekkehardt Fritz Beyer

… „Dies sind viele und großartige Beiträge für die Kirche und die Welt, die nur wenige Jahrzehnte zurückliegen und die es verdienen, in unserer eigenen unruhigen Zeit untersucht zu werden. Die alten Grundlagen sind nicht für immer verloren, weil sie es nicht sein können. Sie warten nur darauf, dass wir sie wiederbeleben, natürlich mit kreativen Anpassungen an unsere Zeit.“ …

Was z. B. in Sachen Ukraine hätte längst erledigt sein können?
https://tkp.at/2023/05/04/rfk-jr-zelensky-haette-konflikt-mit-russland-durch-nein-zur-nato-vermieden/

Ist es nicht schon sehr viel mehr als nur merkelwürdig, das Selenskyjs Berater schon jetzt darauf kommt?
https://www.merkur.de/politik/krieg-verantwortlich-selenskyjs-berater-macht-auf-einmal-den-westen-fuer-den-ukraine-zr-92239121.html

Erklärt das vielleicht sogar, dass die US-Nato ihrer Phantasie auf einmal freien Lauf lässt und behauptet, ihr befreundete Dienste hätte den ´Verdacht`, die Russen könnten die Pipelines der Ostsee nun insgesamt verminen?
https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/verdacht-der-nato-russland-vermint-pipelines-und-kabel-in-der-ostsee-li.345567

In der Hoffnung, auch die Russen würden ´springen`, wenn es der Sep mit seinem Ole in der Rückhand aus dem Oval Office diktiert?
https://www.welt.de/politik/ausland/article237068437/Nord-Stream-2-Scholz-hat-entschieden-die-Gas-Pipeline-auf-Eis-zu-legen.html

Im Wissen all dessen kann der einfache Normalo natürlich schon mal ausrasten!
https://deutsch.rt.com/inland/169408-was-kostet-die-beleidigung-von-politikern/

Da die Gefahr eines solchen Fehltritts(?) – anhand nicht nur der auch m. E. völlig absurden ´Aktionen` unserer scheinbar immer intellenter werdenden und etwa deshalb vom Volk(?) gewählten(?) Politiker – scheinbar von Tag zu Tag zunimmt:

Hier einige Tipps für den Fall der Fälle:
https://ggr-law.com/persoenlichkeitsrecht/faq/beamtenbeleidigung-darf-man-amtstraeger-beleidigen/

Ja mei, so empfinde auch ´ich`:

„Die Demokratie ist ein großes Versprechen, das andauernd gebrochen wird“!!! https://www.rubikon.news/artikel/die-demokratie-simulation-2

Gravatar: Ekkehardt Fritz Beyer

… „Eine solche Welt schien ihnen unerträglich. Sie wollten mehr, etwas, das der Liebe und dem Leben einen Sinn, eine Würde und ein Ziel geben würde.“ …

Weil sie sich in einer noch lang nicht so schlimmen Situation befanden, wie sie die mit Abstand meisten Menschen der westlichen Hemisphäre ab spätestens anno 2030 wohl erwarten dürfen/sollen/müssen?
https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/509657/Keine-Privatsphaere-und-kein-Eigentum-Die-Welt-im-Jahr-2030-nach-Wunsch-des-Weltwirtschaftsforums

Wofür dann auch dieses Schwab & Co. den Karlspreis erwarten?
https://www.berliner-zeitung.de/news/berlin-besuch-sahra-wagenknecht-kritisiert-verleihung-von-karlspreis-an-wolodymyr-selenskyj-li.345237

Allerdings: Stände er nicht ebenso ´erneut` unserer(?) auch m. E. längst aus dem Underground(?) agierenden -noch immer(?) heißgeliebt(?) - Allmächtigen(?) aus gleichem Grund ebenso zu, wie auch entsprechenden ´Briten`
https://uncutnews.ch/usa-und-vereinigtes-koenigreich-schlossen-geheime-pakte-um-impfstoffreaktionen-zu-verbergen/,
den größten Übeltätern ´überhaupt`
https://www.berliner-zeitung.de/news/der-groesste-uebeltaeter-ist-neue-regierung-in-berlin-us-analyst-greift-scholz-an-li.338586
oder als weiteres Beispiel einer von der Leyer???
https://www.ffh.de/video/mediathek/361102-mehr-als-200-ngos-warnen-bruessel-vor-moeglichem-gesetz-ueber-auslaendische-einmischung.html

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