Gastbeitrag von Lars Patrick Berg, MdEP

Der kranke Mann am Bosporus – ein unsicherer Kantonist in der Nato

Die Entscheidungsträger in der EU und in der NATO werden nicht umhinkönnen, sich jetzt mit der Frage zu befassen, inwieweit die Nato-Mitgliedschaft der Türkei noch den Interessen der übrigen Bündnispartner entspricht.

Foto: Πρωθυπουργός της Ελλάδας / flickr.com / CC BY-SA 2.0 (Ausschnitt)
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“Carry a big stick, you will go far“ (“…trage einen großen Knüppel, dann wirst du weit kommen“). Diese Worte von Präsident Theodore Roosevelt kennzeichneten die Hegemonialpolitik der Vereinigten Staaten um 1900. Roosevelt unterstrich damit das vermeintliche Recht der USA, sich in Angelegenheiten anderer Nationen in Nord- und Südamerika einzumischen und diese – wenn nötig – durch Machtdemonstration des Militärs gefügig zu machen. Schaut man heute auf die jüngsten Entwicklungen an der Ostflanke der Nato, hat sich der türkische Machthaber Erdogan diesen sprichwörtlichen Knüppel zu eigen gemacht, um damit den langgehegten Traum von einem neuen Osmanischen Reich zu realisieren und – für ihn viel dringlicher – die Aufmerksamkeit seiner Landsleute vom wirtschaftlichen Dilemma abzulenken, in das er die Türkei in den fünf Jahren seiner Präsidentschaft geführt hat.

Während sich im Vorjahr die Preise von Waren und Dienstleistungen in der Türkei um 15 Prozent verteuert haben, ist der Wert der türkischen Lira um ca. 45 Prozent gefallen. Grund genug für Erdogan, um zumindest auf außenpolitischem Gebiet den starken Mann zu spielen. Am 9. Oktober 2019 leiteten Luft- und Artillerieangriffe den Einmarsch türkischer Truppen auf syrisches Staatsgebiet ein. Dabei handelte es sich um einen Alleingang der Türkei, der weder mit den Nato-Partnern abgestimmt war noch deren Zustimmung hatte. Die Invasion der türkischen Armee im Norden Syriens wurde vom Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages als eindeutiger Verstoß gegen geltendes Völkerrecht bewertet (Zitat: “Mangels erkennbarer Rechtfertigung stellt die türkische Offensive im Ergebnis offensichtlich einen Verstoß gegen das Gewaltverbot aus Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta dar“). Die internationalen Reaktionen auf diesen Akt der Aggression waren jedoch erstaunlich zaghaft und ambivalent. So wurden die am 14. Oktober 2019 von der US-Regierung verkündeten Sanktionen bereits zwei Wochen später wieder aufgehoben. Am 14. Oktober verurteilten die EU-Außenminister in einer einstimmigen Erklärung die türkische Invasion und riefen die EU-Mitgliedsstaaten dazu auf, Waffenexporte in die Türkei zu stoppen. Dieses entschiedene “Du-Du…!“ des Westens hat den türkischen Sultan offenbar nicht im Geringsten beeindruckt, da die Türkei keine nennenswerten Folgen zu verzeichnen hatte. Totalitäre Regime deutlich in ihre Schranken zu weisen, zählt offensichtlich nicht zu den Stärken europäischer Demokratien. So erinnert die Reaktion auf den türkischen Einmarsch in Syrien in vielerlei Hinsicht an die “Appeasement-Politik“ der 1930er Jahre, mit der britische und französische Politiker die Aggression der deutschen Diktatur zu beschwichtigen versuchten. Damals wie heute fehlten deutliche Worte - wurden keine roten Linien gezogen. Ein entschiedenes Auftreten ist ausgeblieben. Man kann nur hoffen, dass die unentschlossene Haltung des Westens nicht zu ähnlich fatalen Folgen führt, wie sie im Jahre 1939 entstanden.

Dass es den politischen Entscheidungsträgern westlicher Demokratien schwerfällt, gegenüber der Türkei deutlich Position zu beziehen, mag der komplexen Lage im Vorderen Orient geschuldet sein. Hier gilt es nicht nur, die verschiedenen Interessen der beiden Großmächte Russland und USA gegeneinander abzuwägen, sondern gleichzeitig die Türkei als geopolitische Schnittstelle zwischen den sensiblen Regionen Eurasien, des Balkans sowie des arabischen Raums einzubeziehen. Durch ihre strategische Lage kommt der Türkei hinsichtlich der Bewältigung der Flüchtlingskrise sowie in der Terrorbekämpfung eine wachsende Bedeutung zu. Eine Bedeutung, der sich Erdogan nur allzu bewusst ist. So spielt er nicht nur die beiden Großmächte geschickt gegeneinander aus, sondern verfügt angesichts der Flüchtlingsströme mit der Puffer-Funktion der Türkei über ein Machtmittel, das ihm erlaubt, die EU zu politischen und letztlich auch finanziellen Zugeständnissen zu zwingen. Gelder, die er zur Bewältigung der Finanzkrise in seiner Heimat dringend nötig hat. Geht die EU auf die Forderungen des türkischen Präsidenten ein, unterschreibt sie damit nicht nur ihre eigene Erpressbarkeit, sondern hält auch künstlich eine Autokratie am Leben, deren Tage gezählt wären, sollte sich der Volkswille bei den nächsten Wahlen in der Türkei tatsächlich durchsetzen. Eine Fortsetzung der Beschwichtigungspolitik seitens der EU würde Erdogan lediglich in der Dreistigkeit seiner Forderungen bestätigen. Es ist an der Zeit, dass die Politiker der EU eine realistische Sicht auf die Probleme entwickeln, die sich in der Türkei ankündigen, und sich endlich von ihrer rosaroten Brille verabschieden. Dass diese Brille genauso wenig zur Problembewältigung geeignet ist, wie durch sie Eisbären zu Himbeeren würden, hatte schon Franz-Josef Strauß klar erkannt.

Wie ernst es um die Beziehungen der Türkei zur EU bestellt ist, zeigt sich deutlich am Beispiel Zyperns. Die Entdeckung von unterseeischen Gasreserven in der Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) dieses EU-Mitglieds im Jahr 2011 hatte Streitigkeiten zur Folge, die jedoch nur wenig Aufmerksamkeit in den Medien erregten. Die Türkei stellt nicht nur das Recht der Republik Zypern in Frage, diese Erdgasvorkommen in den eigenen Hoheitsgewässern zu fördern, sondern hat bereits im Mai 2019 eine Bohrplattform mit Militärschiffen dorthin entsandt. Daraufhin haben Zypern und Griechenland einen Haftbefehl gegen türkische Bohrschiffe erlassen, deren Aktivitäten sich in deutlichem Widerspruch zu internationalem See- und Hoheitsrecht befinden. Die EU verurteilte die Exploration sowie die Bohrungen der Türkei im östlichen Mittelmeerraum als illegitim und illegal. Eine Verurteilung mit geringem Effekt, denn schon im Juli 2019 war der Rat gezwungen zu “bedauern“, dass die Türkei trotz wiederholter Aufforderung der EU, ihre illegalen Aktivitäten im östlichen Mittelmeer einzustellen, die Bohraktivitäten westlich von Zypern fortgesetzt und eine zweite Bohroperation nordöstlich von Zypern in den Hoheitsgewässern Zyperns eingeleitet hatte. Erdogan stellt sich taub und der Streit eskaliert weiter. Die Seerechtskonvention der Vereinten Nationen definiert die Hoheitsgewässer eines Landes als eine Zone von 12 Seemeilen. Die ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ), in der Fischerei-, Bergbau- und Bohrrechte geltend gemacht werden können, kann sich jedoch auf weitere 200 Meilen erstrecken. Beträgt die Seedistanz zwischen zwei Ländern jedoch weniger als 424 Meilen, müssen diese eine Trennlinie zwischen ihren AWZ vereinbaren - und genau darin liegt das Problem. Die Türkei hat die UN-Seerechtskonvention nicht unterzeichnet, da das Dokument den Inselgebieten, einschließlich Zypern, erhebliche Rechte einräumt. Ankara beansprucht stattdessen Rechte auf der Grundlage seines Kontinentalschelfs. Bildlich gesprochen erscheint die türkische Mannschaft zu einem Fußball-Turnier, dessen Regeln sie genauso wenig anerkennt, wie dessen Schiedsrichter. Der Ausgang dieses Turniers wird damit absehbar, es sei denn die anderen Teilnehmer entscheiden sich unisono dafür, den Wettstreit unter diesen Voraussetzungen nicht stattfinden zu lassen.


Ein geschlossenes und entschiedenes Auftreten der EU ist gefragt. Bislang beschränkte sich dieses Auftreten lediglich auf die Kürzung von Mitteln für sog. “Heranführungshilfen“ aus dem EU-Haushalt, die dem Zweck dienen sollten, “in der Türkei messbare und ausreichende Verbesserungen in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Menschenrechte und Pressefreiheit zu erreichen“. Nach der negativen Bewertung der Rechtsstaatlichkeit im EG-Jahresbericht vom Mai 2018 wurden die “Heranführungshilfen“ im Oktober 2018 gekürzt. Darüber hinaus wird aufgrund der jüngsten Aktivitäten der Türkei (Bohrungen in zypriotischen Hoheitsgewässern sowie die Militäraktionen in Syrien) eine weitere Kürzung der EU-Mittel in einer Bandbreite von 150 bis 400 Mio. EUR für 2020 erwogen. Nachdem das Europäische Parlament die Kommission in seiner Entschließung vom März 2019 dazu aufforderte, die Beitrittsgespräche mit der Türkei auszusetzen, ist der Sinn dieser sog. “Heranführungshilfen“ (nämlich die Türkei an einen EU-Beitritt heranzuführen) ohnehin grundsätzlich relativiert. Erdogans Politik hat einen EU-Beitritt der Türkei für absehbare Zeit unmöglich gemacht. Dennoch fließen nach wie vor Millionenbeträge nach Ankara, zuzüglich der Beihilfen für die Unterbringung der Syrienflüchtlinge.


Die Liste der provokativen Alleingänge ist lang. Ob es die erklärte Gegnerschaft zum Energieprojekt Nordstream 2 (einem Projekt in deutschem Interesse) ist, die Anschaffung des russischen Raketen-Abwehrsystems S-400 durch das Nato-Mitglied Türkei (trotz massiver Bedenken der USA), das andauernde Säbelrasseln Erdogans vor der Küste des EU-Mitgliedsstaates Zypern oder die unverhohlene Drohung, die Flüchtlingsströme unkontrolliert nach Westeuropa durchzuwinken – dies alles lässt den kranken Mann am Bosporus aus der Perspektive Europas zu einem unsicheren Kantonisten werden. Erdogan wird weiter am Weltfrieden zündeln, sollte ihm nicht in aller Deutlichkeit Einhalt geboten werden. Die Entscheidungsträger in der EU und in der NATO werden nicht umhinkönnen, sich jetzt mit der Frage zu befassen, inwieweit die Nato-Mitgliedschaft der Türkei noch den Interessen der übrigen Bündnispartner entspricht.

 

 

Autorenbeschreibung Lars Patrick Berg MdEP:

 

Lars Patrick Berg war 2013 Gründungsmitglied des Landesverbandes der Alternative für Deutschland (AfD) in Baden-Württemberg und wurde im März 2016 als Abgeordneter in den Landtag von Baden-Württemberg Wahlkreis Tuttlingen-Donaueschingen gewählt. Mit der Europawahl 2019 wechselte er ins Europaparlament und legte sein Landtagsmandat nieder. Dort ist er in den drei Ausschüssen Außen, Menschenrechte und Sicherheit und Verteidigung. Berg ist Jahrgang 1966 und besuchte das Jesuitenkolleg St. Blasien. Nach dem Wehrdienst studierte er Osteuropäische und Mittelalterliche Geschichte in Tübingen, Heidelberg und München. Später absolvierte er einen Aufbaustudiengang an der Universität Leipzig und der Partneruniversität in Moskau. Er ist Reserveoffizier der Bundeswehr und stellvertretender Vorsitzender der Desiderius-Erasmus-Stiftung. Berg war unter anderem als wissenschaftlicher Berater und Pressesprecher beruflich tätig. Schwerpunktthemen seiner parlamentarischen Arbeit sind internationale Außen- und Europapolitik sowie Innere Sicherheit, Polizei, Terrorismusbekämpfung und die Bundeswehr. Er betreibt einen YouTube-Kanal, ist auf Facebook und Twitter präsent und hat eine Homepage: http://www.larspatrickberg.de/

 

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Thomas Pahn

Herr Beyer, offensichtlich haben Sie nicht verstanden, was Herr Berg hier betont hat, nl. dass es sich nicht nur um einen mit der Nato unabgestimmten Einsatz der türkischen Armee handelte sondern gleichzeitig auch um einen Verstoß gegen das Völkerrecht. Von "völkerrechtswidigen Einsätzen der Nato" hingegen, finde ich nichts in den Zeilen des Herrn Berg. Auch keine Forderung, solche nur nach Beschluss des "Deutschen Bundestages" stattfinden zu lassen. Abschließend sei angemerkt, dass demjenigen ein deutlicher Vorteil entsteht, der auch wirklich lesen kann.

Gravatar: Unmensch

Typisch ist diese Grund-Agressivität, immer unter jener Schwelle die eine deutliche Reaktion unausweichlich machte - und somit können die Beschwichtiger weiterhin mit Erdogan kollaborieren, ohne es wagen zu müssen etwas tun zu müssen.

Gravatar: Fatih Aksu

Es müsste heißen der kranke, alte Mann vom Rhein, wenn mann sich die Demographie und die Lage der deutschen Industrie anschaut. Die Türkei ist kerngesund und stärker als je zuvor.

Gravatar: Ekkehardt Fritz Beyer

... „Am 9. Oktober 2019 leiteten Luft- und Artillerieangriffe den Einmarsch türkischer Truppen auf syrisches Staatsgebiet ein. Dabei handelte es sich um einen Alleingang der Türkei, der weder mit den Nato-Partnern abgestimmt war noch deren Zustimmung hatte. Die Invasion der türkischen Armee im Norden Syriens wurde vom Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages als eindeutiger Verstoß gegen geltendes Völkerrecht bewertet (Zitat: “Mangels erkennbarer Rechtfertigung stellt die türkische Offensive im Ergebnis offensichtlich einen Verstoß gegen das Gewaltverbot aus Art. 2 Ziff. 4 VN-Charta dar“).“ ...

Dürfen völkerrechtswidrige Einsätze der Nato https://www.zeit.de/news/2018-04/20/gutachten-militaerschlag-in-syrien-war-voelkerrechtswidrig-180420-99-971838
inzwischen etwa nur gemeinsam durchgeführt werden und das seit Neuem etwa auch nur nach Beschluss des „Deutschen Bundestages“???

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