Dr. Gérard Bökenkamp Friedrich Naumann Stiftung für die Freiheit

Reformen besser früher als später - Interview Gerard Bökenkamp

Freie Welt sprach mit dem Berliner Historiker Dr. Gérard Bökenkamp über den Zustand der schwarz-gelben Koalition, die Reformpolitik und den Regierungsstil von Angela Merkel.

Dr. Gérard Bökenkamp ist Historiker und Referent am Liberalen Institut der Friedrich Naumann Stiftung für die Freiheit.  Bökenkamp beschreibt in seinem Buch "Das Ende des Wirtschaftswunders" die Hintergründe für den Weg in Staatsverschuldung und Massenarbeitslosigkeit seit Ende der sechziger Jahre und die Versuche politisch gegenzusteuern.

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FreieWelt.net:  Unter Helmut Kohl hat schwarz-gelb fast 16 Jahre regiert? Jetzt hört man täglich von Misstrauen, Streit, ja sogar Beleidigungen. Warum finden CDU/CSU und FDP in der Regierung einfach nicht zusammen?

Gérard Bökenkamp: Solche Streitigkeiten wie heute zwischen CDU, CSU und FDP hat es eigentlich immer gegeben. Franz Josef Strauß hatte es zeitweise am liebsten gesehen, wenn die FDP ganz aus dem deutschen Parteiensystem verschwunden wäre. In vielen Situationen haben sich CSU und FDP in der Regierungskoalition aber auch verbündet, um sich gegen die CDU durchzusetzen. Nach der Bundestagswahl von 1987 waren die Streitigkeiten so groß, dass selbst von einer Rücktrittsdrohung Kohls berichtet wurde. Geißler, Blüm und auch Schäuble haben oft mit der Annäherung an die SPD gedroht, um die FDP unter Druck zu setzen. 
Koalitionen sind eben niemals Liebesheiraten, auch bürgerliche Koalitionen nicht. Darum ist ein Abgesang auf die Bundesregierung nach meiner Ansicht verfrüht. Letztlich wird die Zukunft dieser Regierung einerseits von der wirtschaftlichen Entwicklung abhängen. Aber darauf hat sie selbst nur begrenzten Einfluss. Wesentlich wird sein, ob Frau Merkel doch noch ungeahnte Führungsqualitäten bei sich entdeckt und die FDP ihr Profil wieder stärken kann.

Freiewelt.net:  Man sagt aber doch Frau Merkel habe viel von Helmut Kohl gelernt und Kohl hat immerhin 16 Jahre das Land regiert. Wo sehen Sie die Unterschiede zwischen dem Führungsstil von Angela Merke und von Helmut Kohl?

Gérard Bökenkamp: Da gibt es schon ganz erhebliche Unterschiede. Die oft geäußerte Behauptung Kohl hätte wie Merkel alles ausgesessen, ist so einfach nicht richtig. Kohl hat oft die Zügel locker gelassen und Aufgaben delegiert, das war Teil seines Führungsstils. So hat er am Anfang seiner Regierungszeit die Wirtschaftspolitik weitgehend den "drei heiligen Königen" Finanzminister Gerhard Stoltenberg, Wirtschaftsminister Lambsdorff und Arbeitsminister Blüm überlassen. Wenn die drei sich geeinigt hatten, war es faktisch beschlossen.
Aber Kohl hat auch in bestimmten Situationen immer wieder entschlossen eingegriffen, wenn diese Strategie nicht funktionierte und hat dann zentrale Entscheidungen getroffen und durchgesetzt. Der Anstoß für die Privatisierungen in den achtziger Jahren, die schnelle Durchführung der deutsch-deutschen Währungsunion, den Solidarpakt von 1993, der Bruch mit den Gewerkschaften 1996, und die Verabschiedung des Euro gingen wesentlich auf Kohls Initiative zurück. Was immer man von diesen Entscheidungen im Einzelnen halten mag, so waren es doch echte Führungsleistungen. So etwas haben wir bei Bundeskanzlerin Merkel bisher nicht gesehen.

FreieWelt.net: Frau Merkel hat auch ein anderes Verhältnis zu ihrer Partei als Helmut Kohl.

Gérard Bökenkamp: Frau Merkel nimmt weder auf ihre Partei noch auf ihren Koalitionspartner Rücksicht. Kohl ging es schon aus wohlverstandenem eigenem politischem Interesse darum, dass zwischen den Konservativen, den Liberalen und dem Sozialflügel in der Koalition ein Gleichgewicht herrscht. Jede dieser Gruppen sollte die Möglichkeit haben, der Politik insgesamt – wenigstens zähneknirschend- noch zu zustimmen. Das war eine extrem schwierige und oft kaum zu bewältigende Aufgabe, aber ohne dieses Koalitionsmanagement hätte das christlich-liberale Bündnis unter Kohl nicht 16 Jahre Bestand gehabt. Ansätze für ein solches Koalitionsmanagement sind  bei Frau Merkel bisher nicht zu erkennen.


FreieWelt.net: Was war der größte Fehler der jetzigen Bundesregierung?

Gérard Bökenkamp: Nun – vergleichen wir einmal die Regierungsübernahme durch die christlich-liberale Koalition im Herbst 1982 und die Regierungsübernahme im Herbst 2009. In beiden Fällen ist die Bürgerliche Regierung in einer schweren Haushaltskrise an die Regierung gekommen, die weite Teile der Bevölkerung in Sorge versetzte, aber sie haben ganz unterschiedlich darauf reagiert. Der neue Finanzminister der Regierung Kohl Gerhard Stoltenberg hat, unterstützt von Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff, sofort ein „Notprogramm“ beschlossen, das drastische Einschnitte vorsah.
Die Regierung Merkel hat sich hingegen dazu entschieden einfach Nichts zu tun und die Wahlen in NRW abzuwarten. Einige Parteistrategen hielten das wohl für klug, in Wirklichkeit war das eine politische Kamikaze-Strategie. Kaum etwas empfindet der Bürger als beunruhigender als eine Bundesregierung,  die in einer schweren Schuldenkrise die Hände in die Taschen steckt.
Die Ergebnisse fielen entsprechend unterschiedlich aus. Die Regierung Kohl wurde bei den Neuwahlen im Frühjahr 1983 trotz unpopulärer Sparbeschlüsse bestätigt, bei den NRW-Landtagswahlen im Frühjahr 2010 wurde die Regierung Merkel für ihren Entscheidungsaufschub hingegen abgestraft.

FreieWelt.net: Die FDP hat bei den Bundestagswahlen mit 14 Prozent einen triumphalen Wahlerfolg erreicht und ist in kurzer Zeit in den Umfragen auf unter fünf Prozent abgestürzt. In der FDP wird jetzt über einen „sozialeren“ Kurs diskutiert. Sollte die FDP vom Image der Wirtschaftspartei wegkommen und an ihrer sozialliberalen Tradition als Bürgerrechtspartei anknüpfen?

Gérard Bökenkamp: Bürgerrechte sind wichtig, und sollte gerade auch der FDP wichtig sein, aber die Vorstellung es gebe für eine reine Bürgerrechtspartei einen Platz im Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland ohne die Kernkompetenzen Steuern und wirtschaftliche Freiheit ist nach meiner Ansicht eine Illusion und für die FDP ist das eine politisch lebensgefährliche Illusion.
Sehen wir uns einmal die "goldene Zeit" des Sozialliberalismus an, die Phase zwischen 1969 und 1982 als die FDP mit der SPD in einer Regierung war.  Man spricht von der sozialliberalen Ära oft so, als sei damals die FDP eine reine Bürgerrechts- und gesellschaftspolitisch liberale Partei gewesen. Nach der Bundestagswahl 1972 hat sich die FDP jedoch mit den ausgesprochen profilierten Wirtschaftsministern Hans Friderichs und Otto Graf Lambsdorff positioniert.
Warum haben die Bürger damals FDP gewählt: Sie wussten, solange der Kanzler Helmut Schmidt heißt und der Wirtschaftsminister von der FDP kommt, haben linke Experimente etwa beim Spitzensteuersatz und bei der Verstaatlichung von Unternehmen keine Chance.  Das Thema Steuersenkung war auch damals für die FDP so wichtig,  dass der SPD-Fraktionschef Herbert Wehner der FDP vorwarf, sie habe mit ihren Forderungen nach Steuerentlastung die Koalition unter die "Steuerschraube geklemmt." 
Selbst in der sozialliberalen Ära war es die Wirtschaftskompetenz, die die Partei getragen hat. Für die FDP gilt mehr als für jede andere Partei Bill Clintons berühmter Wahlkampfslogan: "It´s the economy stupid." 


FreieWelt.net: In den Umfragen hat Rot-Grün wieder eine Mehrheit. Ist eine von der SPD geführte Bundesregierung eine denkbare politische Alternative?

Gérard Bökenkamp: Das Dilemma der Sozialdemokraten, ja das Dilemma der Linken insgesamt, ist, dass sie zwar die Unzufriedenheit über Sparpolitik und "soziale Ungerechtigkeit" in der Opposition auf ihre Mühlen leiten können, aber keine Chance haben mit ihren Konzepten das Land dauerhaft erfolgreich zu regieren. Dies Dilemma hat sich in den siebziger Jahren aufgetan, als es durch Staatsverschuldung und Arbeitslosigkeit plötzlich nichts mehr zu verteilen gab.  In der Opposition hat die SPD damals "Reformen" versprochen und an der Regierung gemerkt, dass das Geld dafür einfach nicht da war.
Auch heute würden die Sozialdemokraten wieder feststellen, dass es nichts zu verteilen, dafür aber viel zu sanieren gibt und dass ihre Parteibasis das dauerhaft psychologisch nicht verkraftet. Sowohl 1982 als auch 2005 ist die SPD-Führung letztlich daran gescheitert, dass sie  die notwendigen Reformen der eigenen Partei nicht mehr vermitteln konnte. Wenn die SPD oder sogar eine Linksregierung unter Einschluss der Partei Die Linke an die Macht kommt, würden sie schnell dieselben Probleme mit den eigenen Leuten haben wie unter Helmut Schmidt und Gerhard Schröder.


FreieWelt.net: Sie stellen fest, dass es nichts mehr zu verteilen gibt, weil die Verschuldung so hoch ist. Gilt das aber nicht auch für Steuersenkungen? Können wir uns angesichts der hohen Verschuldung Steuersenkungen überhaupt leisten?

Gérard Bökenkamp: Die Senkung von Steuern hat das Ziel langfristig zu höherem Wachstum beizutragen und ohne Wachstum sind – so wie unsere Systeme nun einmal aufgebaut sind – weder unsere Sozialversicherungen, noch unsere Haushalte sanierbar. Das Wachstum schlägt auf die Beschäftigung durch und an der Beschäftigung hängen fast alle sozialen Sicherungssysteme. Daraus darf man aber nicht ableiten, dass man die Steuern senkt und sich keine Gedanken um die Gegenfinanzierung macht. Im Gegenteil: Die Gegenfinanzierung ist die eigentliche politische Leistung. Das Ziel der Steuersenkung hängt ohne das Konzept der Haushaltssanierung praktisch in der Luft. Beides gehört eng zusammen.  Nur wenn Einnahmen und Ausgaben gesenkt werden, lässt sich die Staatsquote insgesamt zurückführen.
Es wäre auch falsch, den Eindruck zu erwecken, dass es keine Zielkonflikte zwischen Haushaltssanierung und Steuersenkungen geben kann.  Und sicher war es auch ein gravierender Fehler sich nach der Bundestagswahl nicht argumentativ mit diesem Einwand auseinanderzusetzen und Steuersenkungen zu fordern ohne Ansatz für die Gegenfinanzierung.
Wenn man Steuern senkt, gibt es natürlich erst einmal weniger Einnahmen – keine Frage. Es gibt zwar einen Selbstfinanzierungseffekt durch höheres Wachstum, aber der kommt natürlich nicht auf Knopfdruck. Deshalb müssen die Mittel für Steuerentlastungen aus dem Haushalt aufgebracht werden. Diesen Streit zwischen Haushalts- und Wirtschaftspolitik gab es auch schon zwischen Stoltenberg und Lambsdorff in den achtziger Jahren. Aber letztlich ist aus den Konflikten doch ein tragfähiges Konzept geworden, die „symmetrische Finanzpolitik“, die auch heute umgesetzt werden kann.


FreieWelt.net: Was bedeutet "symmetrische Finanzpolitik"?

Gérard Bökenkamp: Als erstes konzentriert man sich ganz auf die Rückführung der Ausgaben und der Neuverschuldung, im nächsten Schritt nutzt man die gewonnenen Spielräume im Haushalt um die Bürger zu entlasten.  Die Entlastungen führen mittel- und langfristig zu höherem Wachstum. Die daraus resultierenden Einnahmen werden dann im Idealfall wieder für den Schuldenabbau verwendet. So dreht man die Staatsquote in einer Spirale nach unten. In der Theorie klingt das natürlich einfacher, als es in der politischen Praxis ist. In der Praxis geht es natürlich nicht ohne Streit und Konflikte.
Nach weitergehenden Schritten zur Haushaltssanierung hatte die Regierung Kohl für 1986 und 1988 und 1990 Steuerentlastungen auf den Weg gebracht. Die ersten Entlastungen kamen besonders den Familien zu Gute, die letzte Steuerreform betraf dann alle Steuerzahler. Auf diese Weise konnte die Staatsquote gesenkt werden.
Der Streit um die Gegenfinanzierung hat zwar erst einmal zu einem Popularitätstief der Regierung geführt, aber im Herbst 1989  - also noch vor der Wiedervereinigung – setzte ein kräftiger Aufschwung ein und brachten steigende Mittel in die Sozialkassen und das Ziel des ausgeglichenen Haushalts war in greifbarer Nähe. Bei allen Einschränkungen - den zusätzlichen sozialen Leistungen, Subventionen und den kosten für die EG, Streit in der Koalition und mit den Bundesländern – kann man doch insgesamt eine positive Bilanz der ersten Hälfte der christlich-liberalen Koalition in der Ära Kohl ziehen.

FreieWelt.net: Was können wir aus der historischen Erfahrung für die aktuelle Politik lernen?

Gérard Bökenkamp: Das ist natürlich eine schwere Frage, da sich nichts 1 zu 1 übertragen lässt. Grundsätzlich lässt sich vielleicht Folgendes sagen: Je früher man Reformen anpackt, umso besser. Bei der Verabschiedung einer Reform in welchem Bereich auch immer, muss man mit harter Kritik rechnen. Die Einsparungen sind sofort spürbar, die Vorteile und die Entlastungen zeigen sich erst nach einigen Jahren.  Das war zum Beispiel das Problem der Steuerreform von 1998. Man hat sie zu spät verabschiedet als die Bundestagswahlen schon in Sichtweite waren und ist dann an der SPD-Mehrheit im Bundesrat gescheitert. Für eine wirklich große Steuerstrukturreform ist es wohl heute schon zu spät- besonders angesichts der veränderten Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat. Daher sollte sich die Bundesregierung jetzt massiv auf die Haushaltssanierung konzentrieren, um die finanziellen Grundlagen für eine Steuerreform nach der Bundestagswahl zu legen. Besser für die Koalition wäre es, wenn sie spätestens 2011 alle finanzpolitischen Weichen für die Haushaltssanierung gestellt hätte und nicht später unter dem Druck der Umstände gezwungen ist, Einsparungen unter weit ungünstigeren Bedingungen zu verabschieden.

Das Interview führte Sven von Storch


Literatur: Gérard Bökenkamp: Das Ende des Wirtschaftswunders. Geschichte der Sozial-, Wirtschafts-, und Finanzpolitik der Bundesrepublik 1969-1998, Lucius&Lucius 2010.


Foto: FreieWelt.net

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Rolf Lenkewitz

Es ist sicher so dass der Beitrag auf einer jahrelangen gründlichen Beobachtung der realen Verhältnisse und des Machbaren beruht. Auch sind die Forderungen im Rahmen der Gegebenheiten nachvollziehbar. Mir persönlich fehlt jedoch die Miteinbeziehung der wahren Dimension der globalen Finanzkrise, die aktuell von einer ganzen Reihe von Ökonomen, die in der Financial Times Deutschland aktuell zu Wort kommen, vom Aussmaß und Wirkungen her größer und ernster definiert wird. Die Dimension der Krise und die bisher weltweit erarbeiteten Ergebnisse deuten darauf hin, dass Haushaltssanierungen im Sinne von Einsparungen und Steuerreformen, egal nun ob symmetrisch oder nicht keine Lösung für die komplexe Systemkrise samt immenser Verschuldung ermöglicht.
Jedwede Reform muss in einer globalisierten Welt grenzüberschreitend sein. Mir ist der Beitrag etwas zu konservativ, es wird zuviel ausgeklammert was die Aussagen relativieren, gerade jetzt sollten wir zu neuen Ufern aufbrechen. Die angesprochenen Reformen sollten eben sich nicht auf Bereiche
konzentrieren sondern auf das gesamte System. Nicht nur für diesen Beitrag, sondern auch für andere Beiträge wird eine Überprüfung erfolgen durch die
Ereignisse bis Mitte 2011.

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