Interview mit Adorján Kovács

»Müssen Islam historisch-kritisch untersuchen«

Der Koran ist ein unerforschtes Buch, erklärt Adorján Kovács. Doch die zeitgenössische Islamwissenschaft tut wenig dazu, diesen Zustand zu ändern. Sie behindert die freie Forschung.

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FreieWelt.net: Heutzutage wird wieder viel über den Islam geredet. Doch was wissen wir überhaupt über ihn?

Adorján Kovács: Da darf ich gleich etwas weiter ausholen. Wenn Sie mit »wir« Muslime und Nichtmuslime meinen, aber unter »Wissen« das von der kritischen Vernunft Erkannte, muss ich sagen: offiziell sehr viel Falsches, wirklich Gesichertes aber viel, viel weniger. Es gibt ja eine Unmenge an Literatur. Doch ist es sehr widersprüchlich, je nachdem, wem man Gehör schenkt oder was man unter Islam versteht: Islam als Identität, als politische Ideologie, als Glaube?

Schauen wir zunächst einmal auf das, was gläubige Muslime selbst über den Islam erzählen; man kann das heute im Internet zum Beispiel auf islam.de, der Webseite des Zentralrats der Muslime, nachlesen. Das ist fast immer ein, wenn ich so sagen darf, ziemlich unreflektiertes Narrativ; man liest die immer gleichen heiligen Geschichten. Da fällt zum Beispiel sofort auf, dass man angeblich über fast jeden Tag und sämtliche Verwandten und Bekannten im Leben des islamischen Propheten, also einer Person der Spätantike, Bescheid wissen will und das für historische Tatsachen hält. Außerdem fällt ein das gesamte private und öffentliche Leben durchsetzendes Regelsystem einer Gesetzesreligion auf, das Vorschriften bei Aktienerwerb und Leasing macht und auf Nasenbluten oder Kosmetika im Ramadan eingeht. Für Muslime ist also in fast naiver Weise alles klar und eindeutig – aber nur weil Entstehung und Regelsystem so gut wie nicht hinterfragt werden. Das sollte aber für einen modern denkenden Menschen kein akzeptabler religiöser Zugang mehr sein.

Wer sich daher als Nichtmuslim oder auch als aufgeklärter »Kultur-Muslim« nicht auf die Legenden der Orthodoxie verlassen und sich lieber selbst ein Bild machen und wissen will, woher das alles kommt, für den sind die wesentlichen Überlieferungen leicht in guten Übersetzungen erreichbar: Das sind der Koran, also das heilige Buch des Muslime, nach orthodoxem Verständnis eine fehlerlose Kopie der Worte Gottes und daher für Muslime bindend; dann die Sunna, das ist der »Brauch« des Propheten, traditionell überliefert in so genannten Hadithsammlungen, also Zehntausende angeblich authentischer Worte und Taten des Propheten, die darum ebenfalls für die islamische Lebensordnung und das Recht verbindlich sind; dann die Sira, eine Art Prophetenbiographie von Ibn Isḥāq beziehungsweise Ibn Hishām. Das sind auch schon die wichtigsten Werke, die selbstreferentiell aufeinander verweisen und ein geschlossenes System bilden, auf das sich so gut wie alle islamischen Gelehrten beziehen.

Die Forschung darf nicht die Annahmen der Religion übernehmen

FreieWelt.net: Dass der Islam auf nichthinterfragten Annahmen beruht, ist doch eigentlich verständlich, oder?

Adorján Kovács: Dies mag noch verständlich sein, aber leider bilden diese oft legendenhaften Berichte auch den Ausgangspunkt fast aller Forschung westlicher Islamwissenschaftler, die durch kein Bekenntnis gebunden sind, die keinem sozialen Konformitätsdruck unterliegen und die eigentlich den historischen-kritischen Standards einer Universität verpflichtet sein sollten. Andere grundlegende Werke wie die Annalen, also das Geschichtswerk von aṭ-Ṭabarī sind immerhin in Bibliotheken greifbar beziehungsweise digital in Übersetzungen im Internet verfügbar.

Alle diese Werke sind allerdings lange nach den behaupteten Ereignissen entstanden. Diese Überlieferungen sind also historisch unbrauchbar, das heißt es sind keine wissenschaftlich verlässlichen Quellen, wenn es um die Zeit geht, die sie beschreiben. Sie sind allerdings sehr wertvolle Quellen, wenn man etwas über die Zeit erfahren will, in denen sie entstanden sind, mit anderen Worten über die Zeit, in der der Islam in der heute noch gültigen Form sich herausgebildet hat. Muslimen ist ein Zweifel an der Authentizität der Texte und ihres Inhaltes verboten, weshalb die Überlieferungen auch nie wirklich kritisch von ihnen hinterfragt wurden. Bringt man aber dieses selbstreferentielle System mit primären Quellen in Konkurrenz, tauchen sofort gravierende Probleme der Glaubwürdigkeit auf.

Schließlich zielt Ihre Frage auf den Islam als wissenschaftlichen Forschungsgegenstand. Zwar wurde schon im 12. Jahrhundert der Koran ins Lateinische übersetzt und haben Philosophen wie Nikolaus von Kues sich intensiv mit ihm auseinandergesetzt, doch muss man den Beginn der westlichen Islamwissenschaft im 19. Jahrhundert ansetzen. Gelehrte wie Gustav Weil, William Muir, Ignaz Goldziher und andere arbeiteten nach der historisch-kritischen Methode und konstatierten schon früh, dass die islamischen Überlieferungen meist völlig unbrauchbar sind, weil es sich nicht um primäre Quellen handelt. Das islamische Narrativ muss demnach korrigiert werden.

Hier findet sich nun die Merkwürdigkeit, dass im 20. Jahrhundert wieder die klassischen Orientalisten die Oberhand gewannen, die meinten, der traditionellen islamischen Überlieferung könne vertraut werden. Was man beispielsweise heute in jeder Enzyklopädie, auf Wikipedia und in praktisch allen Einführungsbüchern zum Thema islamische Frühgeschichte lesen kann, ist nichts anderes als eine Nacherzählung des traditionellen Berichts der islamischen Orthodoxie. Die Gründe dafür sind vielfältig, aber selten wissenschaftlich begründet. Daher stehen wir heute vor der irritierenden Tatsache, dass wir über den Islam und seinen Ursprung in Wahrheit noch relativ wenig wirklich fundiert wissen.

FreieWelt.net: Können Sie genauer ausführen, warum das so ist?

Adorján Kovács: Wie ich gerade sagte, liegt dies vor allem daran, dass von Muslimen hier außer der Wiederholung traditioneller Erzählungen nicht viel kommen wird – Ehre den Ausnahmen. Dann liegt es an der Bequemlichkeit der Islamwissenschaften, deren Aufgabe eigentlich wäre, die Ursprünge zu erforschen und neue Theoriebildungen zu befördern. Es ist aber leichter, einen Konsens mit der islamischen Tradition zu pflegen als den schweren Weg der historisch-kritischen Forschung zu gehen, also Neuland zu betreten. Im Grunde begnügte man sich damit, die Suren des Koran verschiedenen Abschnitten des Lebens des arabischen Propheten zuzuordnen, den sogenannten »Anlässen der Offenbarung« (asbab al-nuzul). Das war schon das Äußerste und ist es meist heute noch. Das ist viel zu wenig angesichts der Faktenlage.

Dabei muss man sehen, dass die Islamwissenschaften auch auf die Unterstützung islamischer Staaten angewiesen sind und diese nur erhalten, wenn keine zu stark abweichenden Forschungsergebnisse zu erwarten sind. Beste Beispiele sind hier »Eliteuniversitäten« wie Harvard und die Georgetown University, die 2005 jeweils 20 Millionen Dollar von dem saudischen Prinz Alwaleed bin Talal Alsaud für die Förderung von Islamstudien erhalten haben. In Georgetown wurde das Geld unter anderem für die Gründung des »Center for Muslim-Christian Understanding«, in Harvard das »Prince Alwaleed Bin Talal Islamic Studies Program« verwendet. Hier kann man wohl kaum unvoreingenommene Forschung erwarten. Von solch falscher Abhängigkeit muss man sich freimachen, wenn man etwas über die wahren Ursprünge des Islam wissen will.

Ferner mögen Sorgen um die akademische Karriere eine Rolle spielen – ein Abweichen vom Mainstream der Forschung tut ihr nicht gut; jedenfalls sind seriöse Wissenschaftler, die den Konsens gestört haben, vom Mainstream geschnitten worden. Als ernstzunehmende Publikationen gelten nur solche, die »peer-reviewed« worden sind, das heißt die von oft anonym bleibenden Fachkollegen für gut befunden wurden. Eine bessere Methode der Verhinderung von Paradigmenwechseln kann man sich wohl kaum vorstellen.

Es ist auch im Fach selbst zu einer strukturellen Engführung gekommen: Während früher eine breit aufgestellte Orientalistik für alle Religionen, lebenden und toten Sprachen und Kulturen des nahen und ferneren Ostens zuständig war und sich eben auch interdisziplinär mit der Erforschung des Koran und der frühislamischen Geschichte beschäftigte, ist sie heute zur überwiegenden Beschäftigung mit dem Islam geschrumpft, wobei aber die Arabistik eine Vorrangstellung bekommen hat, die vielleicht vom traditionellen Koranverständnis der Saudis her, aber wissenschaftlich und sachlich nicht gerechtfertigt ist. Denn gerade der angeblich »arabische« Koran ist nur vom Arabischen her überhaupt nicht verständlich; soviel weiß man heute sicher. Auch ist heute bewiesen, dass der Koran eine Geschichte hat, also eine Entwicklung mit verschiedenen Schichten und »Lesarten« aufwies.

Doch sagen Sie das mal Muslimen, die daran glauben, dass der Koran als »wörtliche Rede Gottes« unverändert überliefert wurde, deren Original (das umm al-kitab, die »Mutter des Buches«) auf einer »wohlverwahrten Tafel« im Himmel aufbewahrt wird! So etwas zu glauben wird von Muslimen praktisch erwartet, und wer es etwa wagen sollte, dies anzuzweifeln, gerät schnell in den Verdacht des Abfalls vom Glauben – worauf in islamischen Ländern die Todesstrafe steht! Und dieses Denkverbot wurde von westlichen Wissenschaftlern – oft mit der Begründung des Respektes vor den Muslimen – übernommen! Letztlich haben sich die Islamwissenschaften auf Methoden zurückgezogen, die von den anderen philologischen und historischen Wissenschaften nicht akzeptiert würden. Man kann hier von einer Bankrotterklärung sprechen, die letztlich auch politische Gründe hat, denn nicht einmal eine fruchtbare Kontroverse wird ja politisch gewünscht. Das hat aber mit freier Wissenschaft nichts mehr zu tun.

Für die ersten zwei frühislamischen Jahrhunderte liegen eine Menge primärer Quellen vor, die aber nicht in das Bild passen, das der Islam von sich und seiner angeblichen Geschichte geschaffen hat. Also werden diese entweder negiert oder ex post umgedeutet. Ein Beispiel: Wenn im 7. Jahrhundert von einem MHMT (»mahmad/mehmet«, was »der Gepriesene« heißt, und wohl erst spät arabisiert als »muhammad«) die Rede ist oder von seinen Anhängern, muss damit nicht zwingend ein arabischer Prophet gemeint sein. Völlig unhistorisch wird eine viel spätere Auffassung über die Bedeutung im 7. Jahrhundert gestülpt, die einen »gepriesenen« Gottesknecht, nämlich den eschatologischen Jesus meinte. Aber gerade die originale Bedeutung ist nur mit Hilfe komplexer historisch-kritischer Methoden wie archäologischen Funden oder Neulesungen anhand damals lebender Sprachen möglich.

FreieWelt.net: Ich habe den Eindruck, dass die Islamforschung vor hundert Jahren schon zu denselben Erkenntnissen gekommen ist wie heute. Wenn mein Eindruck richtig ist: Ist der Islam vielleicht schon völlig erforscht?

Adorján Kovács: Nein, keineswegs. Ihr Eindruck täuscht auch. Die Islamforschung war vor hundert Jahren in vielem weiter als der heutige Mainstream. Das hat, wie gesagt, strukturelle, aber auch institutionelle Gründe. Denn was heißt heute eigentlich Islamforschung in Deutschland? In Frankfurt am Main wurde kürzlich ein Zentrum für islamische Studien gegründet. Es ist ein Zusammenschluss von Fächern an zwei Universitäten (neben Frankfurt noch Gießen) und umfasst islamische Religionspädagogik und Didaktik, Studien der Kultur und Religion, Koranexegese, Gesellschaft und Kultur in Geschichte und Gegenwart, Ideengeschichte und islamische Theologie. Es ist also ein Konglomerat aus Theologie, Linguistik, Soziologie, Kultur-, historischer und Religionswissenschaft. Und schließlich soll das Fach auch noch Lehrer ausbilden.

Dadurch, dass alles unter einer Prämisse hineingestopft wird, schottet sich das Fach von der wissenschaftlichen Umwelt ab. Man köchelt im eigenen Brei, scheinbar ist alles schon da. Das ist Inzucht und Elfenbeinturm pur. Dabei deckelt natürlich die konservative Theologie die anderen Fächer. In Deutschland haben nämlich bei der Besetzung von Lehrstühlen die türkischen Glaubensverbände die inhaltliche Aufsicht, das heißt, sie bestimmen auch die Forschungsschwerpunkte, was in praxi Abhängigkeit von der türkischen Religionsbehörde Diyanet bedeutet, die über das türkische Generalkonsulat in die Islaminstitute hineinregieren kann. Mindestens ein unliebsamer, weil traditionskritisch denkender Professor ist deshalb in Deutschland schon auf solchen Druck hin entlassen worden. Wie soll da freie Forschung entstehen?

Wenn wir unter Islamforschung das bessere Verständnis der Herkunft des Islams und seiner Texte verstehen, dann müssen historisch-kritische Methoden unter Einbeziehung der ganzen Forschungspalette, also Religionswissenschaft, christliche Religionsgeschichte, Rechtsgeschichte, Archäologie, Münzkunde, Schriftkunde und die Berücksichtigung auch anderer Sprachen und Kulturen als der arabischen angewandt werden. Also Primat der kritischen wissenschaftlichen Vernunft und nicht der Theologie! Das geschieht bei der Textforschung und in der Geschichtswissenschaft ja auch überall sonst, nur eben in der etablierten Islamwissenschaft nicht.

»Inârah« geht es um die Etablierung der historisch-kritischen Methode in der Islamwissenschaft

FreieWelt.net: Wenn ich es recht überblicke, gibt es zumindest in Deutschland zwei Forschergruppen, die sich mit der Entstehung des Islam beschäftigen: Angelika Neuwirth aus Potsdam mit ihrem Projekt »Corpus Coranicum« und Karl-Heinz Ohlig mit seiner »Inârah«-Gruppe. Wie unterscheidet sich beider Ansatz?

Adorján Kovács: Diese Frage kann sehr einfach beantwortet werden: Die Gruppe um Neuwirth zählt eindeutig zu den Traditionalisten. Das Projekt, das Sie ansprechen, hat bisher trotz großen Aufwands wenig Neues gebracht; es handelt sich letztlich nur um einen Korankommentar, der die Suren im Hinblick auf ein angebliches historisches Umfeld liest. Das Problem ist, dass es dieses historische Umfeld so nie gegeben hat, jedenfalls fehlt jeder positive Beweis dafür. Alles wird unkritisch den islamischen Traditionserzählungen entnommen, um eine politisch gewünschte Zusammenarbeit mit islamischen Ländern ja nicht zu gefährden. Das lähmt geradezu.

Die Ohlig-Gruppe wird, zusammen mit einigen Vorläufern vor allem in Frankreich und England, von der etablierten Islamforschung polemisch als »Revisionisten« bezeichnet, obwohl nichts revidiert werden, sondern überhaupt endlich kritisch geforscht werden soll. Es geht bei der »Inârah«-Gruppe, der übrigens auch Muslime angehören, schlicht um die Etablierung der historisch-kritischen Methode in der Islamwissenschaft, um eine Neu-Etablierung, wenn Sie so wollen. Was heißt das? Es geht um eine wissenschaftliche Weise der Hermeneutik, also Verstehen.

Historisch ist die Methode, weil sie davon ausgeht, dass zum Beispiel ein Text nicht vom Himmel fällt, sondern eine menschliche Geschichte hat. Man vergleicht also zum Beispiel Versionen und schaut, welche älter ist und worin sie sich unterscheiden. Dabei fällt dann vielleicht sprachlich auf, dass es sich ursprünglich um eine Übersetzung handelt. Oder man bemerkt Themen, die aus einem anderen Text stammen. Dem wird dann nachgegangen. Kritisch wiederum heißt, dass nachvollziehbare Kriterien gelten müssen. Es reicht also nicht, XY habe gehört, was YZ gesagt habe – das kann man glauben oder nicht. Oder XY hat 200 Jahre nach einem Ereignis über dieses geschrieben – da muss man schon fragen, woher er das Ereignis noch kennt. Man braucht also sogenannte Textzeugen, zum Beispiel Handschriften oder Inschriften, auf jeden Fall aber zeitgenössische Quellen. Und die müssen wieder neuen Kriterien genügen.

Vielleicht hilft ein einfaches Beispiel, um zu verdeutlichen, was historisch-kritisch heißt. Ein französischer Theologe hat im 18. Jahrhundert bemerkt, dass Moses im 5. Buch Moses stirbt. Er kann also nicht der Autor sein. Der christlichen Theologie war das 18. Jahrhunderte lang egal. Wer hat das Buch aber dann geschrieben? Mit dieser Frage kommt endlich echte Forschung in Gang.

FreieWelt.net: Vielleicht gibt es eine spezielle Sozialisation, die nur solchen Nachwuchswissenschaftlern zum Durchbruch verhilft, die sich dem vorherrschenden Paradigma unterwerfen? Interessanterweise ist Ohlig Theologe und Religionswissenschaftler, Neuwirth Philologin und Arabistin.

Adorján Kovács: Das hatte ich vorher angesprochen, als ich die Karriererücksichten erwähnte. Wie gesagt, die Islamwissenschaft ist ein enger Zirkel, schmort im eigenen Brei, ist von nicht hinterfragbaren Prämissen bestimmt, in bedauerlicher Ehrfurcht vor ihrem Forschungsgegenstand erstarrt.

Es gibt ein berühmtes Beispiel aus den 1970er Jahren. Günter Lüling wagte, historisch-kritische Methoden anzuwenden, wodurch er christliche Vorläufer des Korantextes nachwies. Das durfte nicht sein: Der Koran darf keine Vorläufer haben. Daraufhin wurde seine Arbeit von seinem Ordinarius Spitaler in Absprache mit anderen etablierten Koryphäen der deutschen Islamwissenschaft gekippt. Lüling war professionell erledigt und konnte sie nur als Privatdruck publizieren; heute ist sie international berühmt. Frau Neuwirth ist übrigens eine Schülerin Spitalers. Da kennt also jeder jeden, und alternative Positionen haben es schwer. Diese können offenbar überwiegend nur von Quereinsteigern formuliert werden.

Hinzu kommt, dass man heute immer auch politische Rücksichten nehmen muss, wenn man über den Islam schreibt. National und international. Man muss »kulturell sensibel« sein und »politisch korrekt«. Das darf Wissenschaft aber nicht sein, sonst verkommt sie zur Auftragsforschung. Sie interessiert nur, ob etwas wahr oder unwahr ist. Sonst müssten wir die Evolutionstheorie begraben, weil sie amerikanische Kreationisten beleidigt.

FreieWelt.net: Corpus Coranicum ist ein mit Unterstützung wichtiger Institutionen der Forschungsförderung ausgestattetes Projekt, Inârah nicht. Man kann aber doch nicht so tun, als handele es sich bei der Höhe der Mittelbewilligung nicht um ein Qualitätsmerkmal, oder? Schließlich sitzen in den Entscheidungsgremien Fachleute.

Adorján Kovács: Aber das genau ist ja das Problem. In den Entscheidungsgremien sitzen genau die Fachleute, die von der Erstarrung der Islamwissenschaften profitiert haben und in Schlüsselpositionen gelangt sind. Ein Paradigmenwechsel wird von den Angehörigen dieses Mainstreams kaum unterstützt werden, da er ihre eigene Arbeit desavouieren würde. Sie haben sich jahrzehntelang nur philologisch um den Koran gekümmert und sollen jetzt plötzlich historisch-kritische Forschung fördern? Kaum zu erwarten. Das ist dasselbe wie beim schon erwähnten »peer-review«.

Die Inârah-Gruppe besteht übrigens gleichfalls aus Fachleuten, aber eben nicht nur aus Arabisten und Islamwissenschaftlern, sondern auch noch aus Fachleuten anderer Disziplinen. Die Gruppe hat Anträge für eine textkritische Bearbeitung des Koran gestellt, die von der DFG, der Gerda-Henkel-Stiftung und anderen Forschungsinstitutionen abgelehnt wurden. Man darf die Bedeutung politischer Rücksichten dabei nicht verkennen, die ja schon rein sachliche Methodenkritik an den Islamwissenschaften als »islamphob« oder »integrationsfeindlich« denunziert. Anders ist nicht zu erklären, warum nur in den Islamwissenschaften historisch-kritische Forschung nicht förderungswürdig ist. Doch hat sich die Inârah-Gruppe gut beholfen und mittlerweile neben einigen Monographien sieben hervorragende Sammelbände publiziert, die Grundzüge eines neuen und korrekteren geschichtlichen Narrativs und einer wirklich textkritischen Koranforschung entfaltet haben. Die Übersetzung dieser Bände ins Englische ist auch schon bis zum zweiten Band gediehen, es geht also auch ohne staatliche Förderung vorwärts.

FreieWelt.net: Was muss passieren, dass die deutsche Islamforschung wieder Anschluss an den internationalen Stand erhält?

Adorján Kovács: Die Islamforschung leidet international an ähnlichen Symptomen, von daher weiß ich gar nicht, ob die deutsche Islamforschung relativ gesehen so schlecht ist, es ist überall problematisch. Sie können zum Beispiel eine andere Variante zum Verlust der Freiheit von Forschung und Lehre in Großbritannien besichtigen, wo oft externe Finanziers die Forschungsinhalte bestimmen. Wie will man denn ernsthaft Islamforschung betreiben, wenn man wie ein Fußballclub von nahöstlichen Potentaten abhängig ist wie die Islaminstitute der Universitäten Oxford, Cambridge oder Edinburgh? Sogar in Frankreich muss kritische Forschung trotz der laizistischen Verfassung des Staates gegen Widerstände der etablierten Islamwissenschaft ankämpfen, was an der maghrebinischen Anbindung der Professoren liegt.

In Deutschland müsste demnach unbedingt jede Abhängigkeit der Islamforschung von islamischen Ländern gekappt werden, ebenso die Abhängigkeit von politischen Vorgaben. Freie Forschung! Die anerkannten wissenschaftlichen Standards müssten eingefordert werden, unter anderem könnte das durch Förderung alternativer Projekte wie Inârah geschehen, um hier eine heilsame Konkurrenz zu schaffen. Der institutionell implementierte Primat der Theologie wie bei dem erwähnten Zentrum für Islamkunde, der an mittelalterliche Hochschulen erinnert, muss zugunsten säkularer Wissenschaft aufgegeben werden. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, nur in der Islamwissenschaft nicht!

FreieWelt.net: Inwieweit ist die Korankritik, die noch bevorsteht, mit der Bibelkritik vergleichbar, die im Verlauf der Entstehung der modernen Wissenschaft ebenfalls verwissenschaftlicht wurde?

Adorján Kovács: Sie ist vergleichbar und nicht vergleichbar. Vergleichbar, wenn man beim Koran von einem menschengemachten Text ausgeht und ihn mit denselben Methoden untersucht, die man bei jedem beliebigen anderen Text anwenden würde. Das hat man bei der Bibel seit Jahrhunderten getan, weil sie nach Glaubensüberzeugung zwar von Gott inspiriert, aber von Menschen geschrieben wurde. Neben vielen gesicherten Ergebnissen hat die Bibelkritik auch in Sackgassen geführt, aus denen man zurückrudern musste, zum Beispiel bei der Suche nach authentischen Jesusworten. Man kann wissenschaftlich nicht jedes Dunkel lösen, aber das kann man eben erst feststellen, wenn alles frei ausprobiert wurde. Und wer weiß, was in Zukunft, mit neuen Methoden, die wir noch nicht kennen, möglich sein wird? Es darf vor allem kein Denkverbot geben!

Ein ähnliches Vorgehen war und ist beim Koran, aber auch bei den anderen Überlieferungen des Islam meist noch undenkbar. Das Dogma von der Unerschaffenheit und Unvergleichlichkeit des göttlich geoffenbarten Koran verunmöglichte bisher eine wissenschaftliche Korankritik. Bei diesem Dogma handelt es sich aber um ein Denkverbot, das wissenschaftlich nicht akzeptabel ist. Denn der Koran ist zunächst einmal nur ein Text und kann wie jeder andere Text untersucht werden. Wer das für unwissenschaftlich hält oder sogar als Angriff auffasst, hat Wissenschaft nicht verstanden.

Irgendwann kann der Islam auch zu Deutschland gehören

FreieWelt.net: Hilft es uns bei aktuellen Problemen mit dem Islam, die wir doch unzweifelhaft haben, die Kenntnis über die Entstehung desselben weiter? Oder handelt es sich um l’art pour l’art?

Adorján Kovács: Das l‘art pour l‘art zu nennen ist ein bisschen wissenschaftsfeindlich, muss ich sagen. Wissenschaft ist zunächst immer nur reine Suche nach Wahrheit ohne irgendeinen Vorteilsgedanken. Es geht nicht darum, jemandem oder einer Sache schaden oder nützen zu wollen. Es geht um Wissen und Verstehen.

Wenn Sie aber fragen, ob die historisch-kritische Erforschung der frühislamischen Geschichte und ihrer Texte für uns heute etwas bringt, dann muss man differenziert antworten. Es war mit großer Sicherheit alles oder doch das meiste ganz anders als es Muslime seit über 1.000 Jahren erzählen und es die traditionelle Islamwissenschaft weitgehend übernommen hat. Das kann man heute schon sicher sagen. Wie sich die Frühgeschichte wirklich abgespielt hat, muss noch en détail erforscht werden. Auch der Koran bietet noch jede Menge an Überraschungen; so können neben persisch-zoroastrischen möglicherweise auch buddhistische Einflüsse festgemacht werden. Wenn man ihn richtig, also unter Berücksichtigung syro-aramäischer und anderer Vorläufer liest, dann kommt man zu ganz anderen Übersetzungen der Urtexte. Berühmt geworden ist die Korrektur von gewissen Paradiesvorstellungen, denen mittlerweile auch Neulesungen zur Verschleierung oder zur Polygamie gefolgt sind. Das könnte langfristig, wenn es sich bestätigt, zu neuen Auffassungen innerhalb des Islams führen.

Aber Religionen ändern sich nicht so schnell, sie nehmen von wissenschaftlichen Erkenntnissen wenig Notiz. Doch wäre schon viel erreicht, wenn in den innerislamischen Räumen wenigstens Dogmen abgeschwächt und kritische Fragen erlaubt würden. Auch wenn das nur in Europa so wäre! Damit würde mehr individueller Freiraum im Denken und Handeln möglich, auch was alternative Lebensformen angeht. Und für Deutschland könnte natürlich die Integration muslimischer Minderheiten in eine pluralistische Gesellschaft gefördert werden.

Der Islam, wie er sich heute begreift, kann nicht zu Deutschland gehören. Aber ein Islam, der verstanden hat, dass sein heiliges Buch nicht nur so oder so interpretiert, sondern endlich richtig und damit ganz neu gelesen werden kann, dass sein Prophet mitnichten ein Kriegsherr aus der Wüste war, dass die Traditionserzählungen nur theologische Heilsgeschichte, aber keine historischen Ereignisse bieten und deshalb erst recht neu bewertet werden können, ein solcher der Vernunft geöffneter Islam könnte irgendwann einmal vielleicht zu Deutschland gehören.

FreieWelt.net: Vielen Dank für das Interview.

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Michael Genniges

Wer die von Herrn Kovacs genannten Forschungsergebnisse der Gruppe "Inarah" ausführlicher und gleichzeitig allgemeinverständlich kennenlernen möchte, dem sei das Buch "Good Bye Mohammed" von Norbert Preßburg (Pseud.) empfohlen.

Gravatar: sttn

Herr Datko, können Sie beweisen das es Gott nicht gibt?
Nein, natürlich nicht. Ich aber kann beweisen das Sie eine Religionsphobie haben. Denn jedesmal wenn es um Religionen geht, kommt von Ihnen ein ähnlicher Kommentar in dem Sie fanatisch-missionierend Bekehren wollen.
Warum eigentlich? Was haben Sie nur für ein Problem?
Passt es ihnen nicht das es Menschen gibt die Ihrer Religion, den Atheismus, nicht fröhnen wollen?

Gravatar: ropow

Religiosität wird definiert über das Ausmaß der persönlichen Ressourcen (Zeit, Geld, Vernunft), die man dem Glauben opfert, dabei wird auch noch fein unterschieden zwischen den Anstrengungen, die man dabei alleine um des Glaubens Willen und solchen, die man zu weltlichen Zwecken unternimmt:

>>Religiosity can be defined as the degree of involvement in some or all facets of religion. According to Atran and Norenzayan (2004), such facets include beliefs in supernatural agents, costly commitment to these agents (e.g., offering of property), using beliefs in those agents to lower existential anxieties such as anxiety over death, and communal rituals that validate and affirm religious beliefs. Of course, some individuals may express commitment or participate in communal rituals for reasons other than religious beliefs. This issue was put into sharp relief by Allport and Ross (1967), who drew a distinction between intrinsic and extrinsic religious orientations. Intrinsic orientation is the practice of religion for its own sake; extrinsic religion is the use of religion as a means to secular ends.<<

Die Aussagen, die in der Studie getroffen werden, sind natürlich (Metaaussagen über) statistische Aussagen. Ihre persönliche empirische Basis in Ehren, aber sie dürfte vermutlich ähnlich relevant sein, wie die persönlichen Erfahrungswerte zu dem vom Statistischen Bundesamt festgestellten Durchschnittsalter der Deutschen von 45,3 Jahren - in einem Altersheim.

Ihre angedeutete mögliche Verbindung von Religiosität zur Schizophrenie bei Intellektuellen halte ich auch nicht für repräsentativ, statt einer endogenen Psychose scheint mir - gerade beim Islam - stattdessen eine schwere Persönlichkeitsstörung viel wahrscheinlicher - ein Hinweis dafür ist schon das extreme Ausmaß an Unterwürfigkeit, das man haben muss, um den Islam gut zu finden.

Gravatar: Ben Wilmes

Sehr geehrter Herr Prof. Kovacs,

seien Sie herzlich bedankt für das erhellende Interview. Es gibt zum Thema soviele aufgeregte, ideologisch gefärbte und banalisierende Beiträge, dass es eine Wohltat war, Ihre kenntnisreichen und auch Hoffnung machenden Äusserungen zu lesen.
Da scheint es dann doch den "dritten Weg" zu geben, bei der Betrachtung des Islam durch Nichtmuslime.
Die Vertreter des einen Weges beteuern unentwegt, der Islam sei friedlich und würde von Terroristen missbraucht.
Die Vertreter des zweiten wedeln aufgeregt mit dem Zeigefinger und brüllen : Da, seht, DAS ist der Islam: köpfen, steinigen, vergewaltigen, vertreiben, erobern.
Mittlerweile kommen mir beide Seiten infantil bis suspekt vor.
Eine seriöse, wissenschaftliche, auf die Zukunft orientierte Betrachtungsweise wie die Ihre ist ein Diamant im medialen Müllhaufen der Islamberichterstattung.
Haben Sie zum Thema veröffentlicht ? Würde gerne mehr lesen.
Mit besten Grüssen
B.W.

Gravatar: Joachim Datko

Religionen kann man ganz einfach "bekämpfen". Auch das Christentum war eine bestialische Religion, man denke an die Geschichte des Christentums, z.B. an die Ermordung von 20.000 Menschen 1631 in Magdeburg durch r.-k. Truppen.

Heute verlieren die großen christlichen Kirchen massiv, die evangelische Kirche hat z.B. 2013 ungefähr 1,4% der Mitglieder verloren, 2014 waren es noch mehr.

Ich setze auf die MINT-Fächer in der Schule und auf die Medien, Gottesvorstellungen sind da uninteressant.

Gravatar: Adorján Kovács

Herzlichen Dank für Ihren Kommentar. Solche Leser wünscht man sich.
Zu Ihren persönlichen Erfahrungen mit Frau Prof. Neuwirth und Herrn Haarmann brauche ich nichts hinzufügen, es ist traurig, wie mies und unsachlich mit wissenschaftlicher Konkurrenz hier umgegangen wird. Davor schützt leider auch intellektuelle Brillanz nicht, die da wohl an ihre Grenzen stößt. Aber man kann die Wahrheit nicht totschweigen, sie kommt dann eben bei Crone und anderen durch, so auch bei Luxenberg, der ja zur Inârah-Gruppe gehört.
Zu Ihrer Darstellung des „black hole“ in der Arabia deserta et felix ist zu sagen, dass eben drum sich der Koran und der frühe „Islam“ (wenn man ihn damals denn als solchen überhaupt schon bezeichnen konnte) wohl eher in der „zivilisierten vorderorientalischen Welt der Spätantike“ entwickelt hat. Ein so traditionsgesättigtes Buch wie der Koran muss in einem intellektuell und kulturell weit inspirierteren Rahmen als dem Beduinentum entstanden sein, also wohl im Großraum Syrien.

Gravatar: Unzensiert

Nun....
1.: im Prinzip braucht man den Koran (Texte des Propheten Mohamed) nur zu lesen.
2.: es muss darüber Klarheit herrschen das der Koran die Grundlage des Islam ist.
3.: der Koran hat im Islam somit für den Muslim Gesetzeskarakter und ist in seiner Gesamtheit unantastbar.
4.: ein Muslim der sich gemäßigt bezeichnet ist ein Lügner, da der Koran nach unseren westl. Wortverständnis, alles andere als gemäßigt bezeichnet werden kann.
5.: ein Muslim kann nicht anders ganz oder gar nicht und sollte er versuchen sich den westl. Gepflogenheiten anzupassen, lebt er in Sünde (entgegen den Texten Mohameds).
Zum Verständnis: das Christentum hat auch radikale Züge, jedoch gibt es dort die Möglichkeit der Vergebung, ein Christ kann nur durch Vergebung Gottes das Paradies erreichen, dies ist im Islam nicht möglich, dort sind Taten erforderlich...s. Koran, dort steht genau niedergeschrieben was zu tun ist - alles andere ist Augenwischerei.

Gravatar: Dr. Alexander Ulfig

Ich möchte hier anmerken, dass die historisch-kritische Methode bzw. die kritische Methode in der Theologie im Kontext der neuzeitlichen Hermeneutik entstanden ist. Und diese, auch theologische Hermeneutik genannt, war vom Protestantismus geprägt, angefangen mit Melanchthon, über Schleiermacher, Dilthey (Historismus) bis Bultmann. Damit möchte ich sagen, dass die genannte Methode eine protestantische Spezialität war und ist. Natürlich haben sich dann auch katholische Theologen daran "angehängt". Meine Vermutung ist: Ohne den Protestantismus hätte die katholische Kirche kaum eine historisch-kritische Methode entwickelt.

Gravatar: MicroHirn

Was soll auch Intelligenz sein oder bedeuten?
Solche Zusammenhänge herzustellen finde ich persönlich empörend. Ich weiß, dass einige meiner Vorfahren (beispielsweise mein Ur-Urgroßvater Henry 'Zito' Elk) auf ihren IQ getestet wurde und mehr als unterdurchschnittlich abschnitten. Mit diesem Stigma gläubig aber dumm durften sie fortan leben. Ich fürchte, ein solcher Unsinn findet heute seine Fortsetzung.
Vielleicht kann man es auch andersherum sehen, Intellektuelle sind einfach gottesblind geworden.

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