Elisabeth Brockmann Leiterin der Bundesgeschäftsstelle von AGUS e.V.

»Hinterbliebene versinken in einem Meer der Trauer« - Interview mit Elisabeth Brockmann

Wer einen Mitmenschen durch Selbsttötung verliert, für den stürzt eine Welt zusammen. Mehr noch als bei einem Unfall löst der Suizid Fragen bei den Hinterbliebenen aus, durch die sie in eine tiefe Lebenskrise stürzen. FreieWelt.net sprach mit Elisabeth Brockmann vom Selbsthilfeverein AGUS Angehörige um Suizid e.V. über die Folgen der Selbsttötung für die Hinterbliebenen.

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FreieWelt.net: Wie unterscheidet sich die Trauer um einen durch eigene Hand ums Leben gekommenen Menschen von der eines durch Krankheit oder Unfall Verstorbenen?

Elisabeth Brockmann: Der Tod eines Menschen ist immer schmerzhaft und niederdrückend, doch die Inhalte und der Verlauf von Trauer werden wesentlich durch die Todesursache geprägt. Bei einem Suizid sind die Hinterbliebenen mit anderen Fragen und Gefühlen konfrontiert als bei einem krankheitsbedingten Tod. Daher sind einige Teile der Trauer durchaus vergleichbar: Unabhängig von der Todesursache fehlt ein wichtiger Mensch, der Verlust und die Sehnsucht schmerzen. Die Todesart Suizid beinhaltet aber Umstände, die für die Hinterbliebenen besondere Erschwernisse bedeuten, unabhängig von der individuellen Situation.

FreieWelt.net: Welche sind das?

Elisabeth Brockmann: Zunächst ist Suizid immer ein plötzlicher Tod, er trifft Angehörige und Freunde wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Auch wenn vorher Selbsttötungsgedanken geäußert wurden oder es mehrere Suizidversuche gab, hoffen alle – meist auch der Betroffene – immer auf eine Besserung der Situation. Es ist weder ein gedankliches Vorbereiten noch ein verabschiedendes liebevolles Über-die-Wange-streichen möglich. Die Todesnachricht »… hat sich das Leben genommen« ist immer mit einem Schock und Fassungslosigkeit verbunden. Für Angehörige, die ihren Verstorbenen selbst auffinden, ist diese dramatische Situation zusätzlich belastend.

Dann ist Suizid häufig mit Gewalteinwirkungen auf den Körper verbunden. Für Außenstehende ist es manchmal schwer nachvollziehbar, wie quälend die Gedanken an diese Verletzungen für die Hinterbliebenen sind. Wenn Angehörige den Toten nicht mehr gesehen haben, können sich schreckliche Gedanken über die Verletzungen oder den Gesichtsausdruck entwickeln. Die Phantasien darüber sind grenzenlos und belastend.

Schließlich kommt neben Entsetzen und Fassungslosigkeit nach einem Suizid häufig ein Gefühl der Scham auf. Oft ist es diffus und breitet sich in verschiedene Richtungen aus. Man schämt sich wegen der eignen vermuteten Schuld oder weil ein Familienmitglied »so etwas« getan hat. Bei einem natürlichen Tod gibt es für die Angehörigen keinen Anlass zu Scham.

FreieWelt.net: Das ist merkwürdig ...

Elisabeth Brockmann: In der Tat, aber nach einem Suizid stellen sich Fragen nach Schuld und Verantwortung so massiv wie bei keiner anderen Todesart. Die Frage nach der eigenen Schuld, den eigenen Unzulänglichkeiten, nach Versäumnissen, überhörten oder nicht richtig gedeuteten Signalen gehören ebenso dazu wie tatsächliche oder vermutete Schuldzuweisungen von Außenstehenden. Zeitweise können auch vorwurfsvolle, wütende Anklagen an den Verstorbenen wie »Warum hast du uns das angetan« hinzukommen. Ein zermürbendes inneres Strafgericht setzt sich in Bewegung, das eine Frau einmal so beschrieb: »Nach dem Suizid meines Mannes fühlte ich mich als Angeklagte; ich klagte auch mich selbst an. Aber es gab keinen Richter, keine Verurteilung, keinen Freispruch.« Der Umgang mit den unterschiedlichen Aspekten der Schuld ist eines der größten Schwierigkeiten bei der Trauer nach einem Suizid.

Jeder Tod konfrontiert uns außerdem mit Gedanken an Endlichkeit und unsere eigene Sterblichkeit. Solange wir leben, finden wir Antworten, die auf unseren bisherigen Lebenserfahrungen basieren. Ein Suizid erschüttert aber alles, was man bisher an Annahmen hatte: das Bild von sich, das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Grundwerte wie »Alles wird gut« oder »Ich schaffe alles« stimmen plötzlich nicht mehr. Man fragt: Warum habe ich es nicht verhindern können? Warum habe ich es nicht bemerkt? Warum bin ich es nicht wert, dass er/sie für mich weiterlebte? Das sind quälende Fragen, auf die es oft keine Antwort gibt. Nur sehr langsam kann das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten wieder wachsen.

FreieWelt.net: Hat jeder Suizid ähnliche Folgen für die Hinterbliebenen oder lassen sich Unterschiede ausmachen? Wie sieht ein typischer Fall aus?

Elisabeth Brockmann: Ein typischer Eingangssatz bei unseren Anrufern ist »Mein Mann hat sich das Leben genommen. Ich weiß nicht mehr weiter.« In den AGUS-Selbsthilfegruppen treffen sich Hinterbliebene, die einen nahestehenden Menschen durch Suizid betrauern. Als ausgesprochen wohltuend wird empfunden, dass vieles nicht erklärt werden muss. Die anderen wissen, wovon man spricht, weil sie es selbst erlebt haben. Das gemeinsame Schicksal verbindet.

Es gibt aber nicht »den« Suizid. Jede Selbsttötung bringt für die Hinterbliebenen andere individuelle Katastrophen mit sich. Auch wenn viele ähnliche Gefühle und Erfahrungen mit einem Suizid verbinden – die Situation der Hinterbliebenen ist so einzigartig wie ein Fingerabdruck. Es ist ein Unterschied, ob sich der 35-jährige Familienvater das Leben nimmt oder der 60-jährige Ehemann, ob der 17-jährige Sohn sich erhängt oder sich die Mutter vor den Zug stellt.

Viele unterschiedliche Faktoren spielen eine Rolle: die Beziehung zum Verstorbenen, der Austausch in der Familie, der Beistand von Freunden, die Sorge um andere Familienmitglieder und so weiter. Es kann eine durch den Suizid ausgelöste Existenzgefährdung bewältigt werden müssen oder die pflegedürftigen Großeltern dürfen nicht zu kurz kommen. Ein Unterschied besteht auch in den Unterstützungsmöglichkeiten, die außerhalb der Familie zur Verfügung stehen: Finde ich einen geeigneten Therapeuten und wie lange muss ich warten? Kann ich mit anderen Betroffenen sprechen? Finde ich Bücher mit weiterführenden Gedanken?

FreieWelt.net: Inwiefern reagieren Kinder und Jugendliche anders als Erwachsene auf einen Suizid?

Elisabeth Brockmann: Kinder und Jugendliche haben ein anderes Verständnis von Tod und gehen auch anders damit um. Für Kleinkinder ist der Begriff »tot« noch nicht fassbar. Sie sagen: »Oma ist aber schon lange tot. Wann kommt sie denn wieder?« Bis ins Grundschulalter hinein entwickelt sich ein langsames Begreifen der Endgültigkeit des Todes. Jugendliche sind in einem Zwischenstadium: keine Kinder mehr, aber auch noch keine Erwachsenen. Sie sind beschäftigt mit den ersten eigenen Entscheidungen für ihr Leben oder dem ersten Verliebtsein, auch Sinnfragen und Beschäftigung mit Tod gehören zur eigenen Standortbestimmung.

Aus diesen unterschiedlichen Lebenssituationen ergeben sich auch andere Trauerreaktionen als bei Erwachsenen. Das ist für Erwachsene oft schwer verständlich und irritierend, wenn zum Beispiel ein kleiner Junge nach der Beerdigung der Mutter fragt, ob er morgen ins Fußballtraining kann oder der Jugendliche bald wieder in die Disco geht oder sich mit Freunden trifft. Das heißt nicht, dass diese jungen Menschen nicht trauern! Aus der Trauerbegleitung gibt es eine sehr bildliche Beschreibung: Kinder springen in eine Pfütze der Trauer und wieder heraus und wieder hinein. Erwachsene versinken in einem Meer der Trauer.

FreieWelt.net: Haben Sie einen Rat, wie wir mit Hinterbliebenen umgehen sollen?

Elisabeth Brockmann: Freunde denken manchmal, dass das Sprechen über den Verstorbenen Wunden aufreißt und Schmerz bereitet. Suizidtrauernde empfinden das anders, nämlich so, als ob der Verstorbene vergessen ist oder ihre Trauer nicht wahrgenommen wird. Die Trauer und Gedanken an den Toten sind für sie sehr lange Zeit präsent. Natürlich möchten nicht alle Hinterbliebenen immer und mit jedem über ihren Schmerz sprechen. Oft ist schon eine kurze Erwähnung des Verstorbenen wohltuend, so wie man auch über andere Verstorbene spricht. Wenn Sie unsicher sind, ob Suizidhinterbliebene über ihre Trauer sprechen möchten, fragen Sie nach! Wenn Sie können, dann signalisieren Sie, dass Sie zu einem Gespräch jetzt oder später bereit sind. Lassen Sie Suizidtrauernde darüber entscheiden, ob sie jetzt darüber reden können und möchten.

FreieWelt.net: Vielen Dank für das Gespräch!

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