John Allan Hattie Direktor des Melbourne Education Research Institute

Guter Unterricht braucht Leidenschaft

Interview mit John Allan Hattie

Noch bevor sein überaus erfolgreiches Buch „Visible Learning“, die bislang größte Studie zur Unterrichtsforschung, in Deutsch erschienen ist, sorgen seine Erkenntnisse hierzulande bereits für einiges Aufsehen. Im Interview mit FreieWelt.net erläutert John Allan Hattie, was guten Unterricht ausmacht.

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Hier finden Sie die englische Originalversion des Interviews.

FreieWelt.net: Für Ihre Untersuchung haben Sie rund 800 Metastudien ausgewertet, insgesamt 50.000 Einzelstudien mit 250 Mio. Schülern. Was also macht einen erfolgreichen Unterricht aus?

John Allan Hattie: Ich wünschte es gäbe ein einfaches Rezept und meine Untersuchung der Daten war darauf ausgerichtet, es so einfach wie möglich zu machen…

Dazu gehört etwa, dass eine Gruppe von Lehrern von einer Person geleitet wird, die ein Klima des Vertrauens erzeugt, damit die Lehrer debattieren, kritisieren und Unterrichtsreihen planen können, die a) herausfordernd sind, b) auf dem Vorwissen der Schüler aufbauen, c) die Balance zwischen allgemeiner und tiefgründiger Stoffbehandlung halten und am wichtigsten, d) dass sich alle einig sind, wie der Erfolg sich am Ende darstellen wird und die Erfolgskriterien klar benennen können, BEVOR sie mit dem Unterrichten beginnen.

Die Aussicht auf Erfolg erhöht sich, wenn der Lehrkörper sehr frühzeitig die Zielsetzung des Unterrichtes kommuniziert und sich ständig um Feedback in Bezug auf den Fortschritt der einzelnen Schüler bemüht sowie die Lehrmethoden im Lichte dieser Rückmeldungen anpasst. Die Aussicht auf Erfolg erhöht sich, wenn Schüler, die mit den Herausforderungen des Lernens kämpfen, das Lernen selbst beigebracht bekommen (sich zu konzentrieren, mit Bewusstsein zu arbeiten, Fehler und Fehlschläge zu tolerieren, gemeinsam an Problemlösungen zu arbeiten und verschiedene Lernstrategien auszuprobieren) und mit regelmäßigem Feedback über die nächsten Schritte versorgt werden.

Angemessene Herausforderungen, Klärung des Erfolgsbegriffes und Lehrer, die sich und ihren Unterricht immer weiter entwickeln – das sind Schlüsselkategorien für Unterrichtserfolg. Lehrer müssen darin unterstützt werden, ihren eigenen Einfluss auf den Lernerfolg in einem vertrauensvollen Umfeld ständig zu überprüfen und die Anforderungen der Lehrpläne gemeinsam festzulegen. Lehrer müssen eine Leidenschaft dafür entwickeln, alle Schüler zum Erfolg zu führen.

FreieWelt.net: Was ist Ihre Vorstellung von einem „guten Lehrer“?

John Allan Hattie: Hervorragendes Unterrichten lässt sich - nach all meinen Schriften, meinen Beobachtungen in Schulen und meiner Beschäftigung mit Bildung allgemein - auf zwei Hauptnenner bringen - der eine davon ist Leidenschaft. Dabei meine ich eine bestimmte Form von Leidenschaft - die Leidenschaft, wirksamen Einfluss auf den Lernerfolg zu haben. Ich rede nicht über eine bloße „Liebe zum Lehren“, sondern über eine Leidenschaft für wertvolles und bewertbares Unterrichten, eine Leidenschaft dafür, seine Zeit und Energie dem Unterrichten zu widmen und dies zu einem zentralen Aspekt der eigenen Identität und des eigenen Lebens zu machen.

Kinder gehen nicht immer nur zur Schule, um nachzudenken. Unser Kopf ist gar nicht fürs Denken eingerichtet, wie wir in unserem neuen Buch argumentieren (Hattie & Yates, 2013). Denken und Lernen erfordern bewusstes Handeln, bewusste Praxis und bewusste Aufmerksamkeit dem gegenüber, was wir nicht wissen. Man muss Energie und Anstrengung aufbringen und dazu noch die Möglichkeit akzeptieren, daneben zu liegen, vor den anderen bloßgestellt zu werden, weil man es nicht kann! Manchmal erfordert es nachhaltige Bemühungen, bedroht das Selbstvertrauen, bringt ein hohes Maß von Unsicherheit mit sich. Es gibt keine Garantie für Erfolg. Und daher ist es riskant, weil wir es vielleicht nicht schaffen. Es könnte sehr peinlich sein, vor den Augen der Gleichaltrigen zu versagen. Es kostet viel, weil die gleiche Mühe in dem Moment nicht in andere, angenehmere Aktivitäten gesteckt werden kann, die nichts mit Nachdenken zu tun haben. Es ist einfacher, sich nicht mit dem Lernen zu beschäftigen, als es zu riskieren, trotz all der notwendigen Anstrengungen zu versagen. Das ist keine Faulheit. Wir Menschen (besonders die Kinder) verfügen eben nur über begrenzte Ressourcen, mit denen zu haushalten umsichtig, sogar weise ist. Lehrer mit einer ebenmäßigen (nicht obsessiven) Leidenschaft zum Unterrichten wissen das. Daher rührt auch ihr demonstratives Veranschaulichen der Freude, die man daraus ziehen kann, wenn man ihre Leidenschaft für das Lernen von Englisch, Mathematik, Physik und Sport teilt.

Diejenigen Lehrer, die diese Leidenschaft nicht haben, sehen die Quelle der Probleme vor allem in den Schülern. Sie sehen, dass manche klug sind und manche kämpfen müssen, dass manche es können und andere nicht. Sie sehen, dass einige sich bemühen und sagen, der Rest tut das nicht. Sie erklären einige für „leicht zu unterrichten“ und andere für „weniger leicht zu unterrichten“. Leidenschaftliche Lehrer dagegen wollen, dass ihre Schüler über das Erfüllen von Leistungsanforderungen hinaus und zur Beherrschung und Investition übergehen. Es reicht nicht, eine Arbeit rechtzeitig, ordentlich und mit der richtigen Wordanzahl abzugeben - sondern der Schüler soll den Lernerfolg, der durch die Investition in diese Aktivität anfällt, auch tatsächlich genießen. Nicht nur „mini-max“ (minimaler Einsatz für ein maximales Ergebnis), sondern „maxi-max“ (maximaler Einsatz für das Lernen für einen maximalen Ertrag). Leidenschaftliche Lehrer wollen, dass Schüler hinter die Oberfläche gehen: Von der Kenntnis vieler Fakten und Ideen zum vorsätzlichen Willen, diese Ideen miteinander in Beziehung zu setzen und zu erweitern.

Der zweite Hauptnenner, auf den man hervorragendes Unterrichten bringen kann, ist hoher Einfluss. Ich habe bei meiner Arbeit an „Visible Learning“ entdeckt, dass der Unterschied zwischen hervorragenden und nicht so großartigen Lehrern mehr als nur Leidenschaft ist. Die Antwort liegt nicht darin, wer der Lehrer ist – auch nicht notwendigerweise darin, was er genau tut. Es hängt vielmehr damit zusammen, welche Menge an Einfluss er auf die Schüler hat. Das hervorstechendste Ergebnis der Synthese von (derzeit) über 1000 Meta-Analysen (ca. 55.000 Einzelstudien, die ca. 250 Mio. Schüler umfassen) ist, dass fast „alles funktioniert“. Das erklärt nun, warum wir jeden Lehrer die Türe schließen und dann tun lassen, was er für das beste hält – solange es Beweise gibt, dass es das Lernen verbessert. Das erklärt auch, warum die allermeisten politischen Maßnahmen offenbar das Lernen fördern – weil beinahe alles das Lernen fördern kann. Aber wenn wir einmal von den durchschnittlichen Effekten absehen, ergibt sich eine ganz andere Geschichte. Ich bin fasziniert von den Merkmalen derjenigen Lehrer und Lehrarten, die zu überdurchschnittlichen Ergebnissen führen – und das sind die Botschaften in Visible Learning (2008) und Visible Teaching (2011). Ich möchte folgende normative These über hervorragende Lehrer aufstellen: Sie haben nicht nur einen gewaltigen und beständigen Einfluss, sondern sie können dafür auch qualitative Beweise anführen.

Ich habe mich in meiner Karriere auf das Studium von Erfolg konzentriert, und dieser ist in Schulen allgegenwärtig. Meine Schätzung gemäß meiner VL - Arbeit ist, dass um die 40 % der Lehrer stark einflussnehmende, leidenschaftliche Lehrer sind. Sie sind überall – wir müssen sie nur wertschätzen, verlässlich identifizieren, und dann alle anderen so fördern, dass sie zu dieser Gruppe von Lehrern aufschließen.

FreieWelt.net: Heißt das, reformpädagogische Ansätze wie offener Unterricht oder selbstgestaltetes Lernen, Ansätze also, bei denen sich der Lehrer weitestgehend zurückhält, bringen den Schülern unterm Strich gar nichts?

John Allan Hattie: Eines der allgemeinen Ergebnisse ist, dass Veränderungen der äußeren Strukturen des Lernens normalerweise wenig Auswirkung darauf haben, wie Schüler lernen – weil die meisten Lehrer nichts an ihrem Lehrstil ändern, wenn sie Strukturen ändern (Zum Beispiel Umzug in „offene“ Klassen, Nutzen von Technologien, Verringern der Klassengröße) – und wenn sie die Art wie sie unterrichten nicht verändern, ist es offensichtlich, warum es nur wenig Wirkung zeigt.

Veränderte Strukturen KÖNNTEN einen Unterschied machen, aber den gibt es selten. In den meisten Fällen gibt es nur unglaublich viele verpasste Möglichkeiten. Wir brauchen mehr Aufmerksamkeit für die Natur des Unterrichtens – wenn es einen systematisch hohen Einfluss hat, müssen wir es mögen, wertschätzen und mehr davon haben – wenn es einen geringen Einfluss hat, muss es sich einfach ändern.

FreieWelt.net: Und welche Faktoren schaden dem Lernerfolg der Schüler?

John Allan Hattie: Langeweile, fehlendes Interesse am Fortschritt, Grobheit und zu viel Reden. Das meiste beruht auf einem Modell des defizitären Schülers. Das heißt, man unterstellt, dass sie nicht lernen können, unerzogen und schlecht sind usw.

FreieWelt.net: In Deutschland wird derzeit darüber diskutiert, ob das Sitzenbleiben abgeschafft werden soll, weil es teuer ist und wenig bringt. Was hat Ihre Untersuchung diesbezüglich ergeben?

John Allan Hattie: Das Sitzenbleiben (ein Jahr wiederholen) ist einer der systematischeren negativen Einflüsse, der uns bekannt ist. Wenn es Studien über positive Auswirkungen des Sitzenbleibens gibt, dann sind diese noch nicht veröffentlicht worden.

Beinahe alle Studien zeigen negative Auswirkungen – ferner gibt es eine massive soziale Schieflage. In den USA zeigt sich z.B., dass 80% der Sitzenbleiber einen afro-afrikanischen oder hispanischen Hintergrund haben. Ich habe dafür keinen Beweis, aber ich wäre nicht überrascht, wenn man in Deutschland zwei Schüler mit gleichem Leistungsniveau nehmen würde und der aus der sozio-ökonomisch niedriger stehenden Familie mit einer sehr viel größeren Wahrscheinlichkeit sitzenbleiben würde.

Ich bin davon fasziniert, warum wir weitermachen mit dem Sitzenbleiben, und es sind die Lehrer, die das üblicherweise mit der Annahme tun, dass sie die Schüler „reparieren“ könnten, wenn sie einfach MEHR Möglichkeiten dafür hätten. Dabei hatten sie sie ein Jahr lang und haben versagt. Außerdem braucht der Schüler nicht MEHR von der gleichen Art von Lehrplan, Klassenklima, Tests, interaktiven Aktionen mit anderen Schülern. Was sie von diesem Lehrer am meisten brauchen, ist etwas ANDERES – es erweist sich, dass soziale Förderung oft die einzige Option ist …

Auf der anderen Seite stellt die Akzeleration (beschleunigte, vorzeitige Heraufstufung, z. B. ein Jahr überspringen) einen mächtigen Einflussfaktor für Lernerfolg dar. Levin und andere haben gezeigt, dass Akzeleration sowohl bei schwächeren als auch bei begabten Kindern positiv wirkt. Ich bin fasziniert von kognitiver Beschleunigung und von der Frage, wie wir diese in den Klassenzimmern verankern können (und es gibt viele Arten zu beschleunigen, wenn man eine Klasse überspringt).

Es wäre eine sehr positive Sache, das Sitzenbleiben zu beenden.

FreieWelt.net: Bei den von Ihnen ausgewerteten Studien handelt es sich überwiegend um englischsprachige Studien, die angelsächsische Bildungssysteme untersucht haben. Inwiefern glauben Sie, dass Ihre Ergebnisse auf Deutschland übertragen werden können?

John Allan Hattie: Ich habe behauptet, dass meine Geschichte für viele westliche Länder passt – besonders dort, wo die Hauptquelle für Leistungsunterschiede innerhalb und nicht zwischen Schulen besteht.

Ich weiß, dass Deutschland ein stärker selektives Schulsystem hat, also sind die Unterschiede zwischen verschiedenen Schulen und nicht innerhalb einer Schule vielleicht größer in Deutschland. Es ist also etwas Vorsicht notwendig.

FreieWelt.net: Welche Schlussfolgerungen sollte die Bildungspolitik aus Ihren Ergebnissen ziehen?

John Allan Hattie: Ich schreibe gerade etwas darüber, obwohl ich Forscher bin, kein politischer Entscheidungsträger. Die Botschaft ist meiner Meinung nach, dass es einen unglaublichen Erfolg unter den Lehrern Ihres Landes gibt, und dass es eine der Aufgaben der Politik ist, das zu erkennen und eine Koalition des Erfolgs zu schmieden. Politik beginnt zu oft mit Denken in den Kategorien von Defiziten (siehe oben). Aber das stellt die Wirklichkeit so vieler toller Lehrer in unserem System in Abrede.

Die Idee lautet deshalb, den vorhandenen Erfolg zu steigern. Manche Lehrer leugnen, dass es Spitzenleistungen gibt und andere streben immer weiter danach. Mein Argument ist, Ressourcen für Lehrer und Schulleiter zur Verfügung zu stellen, damit diese regelmäßig prüfen können, wie groß ihr Erfolg ist (sehen Sie z. B., das e-asTTIe-Paket, das wir in Neuseeland entwickelt haben e-asttle.tki.org.nz) und den Schulen Autonomie zu geben, um kontinuierlich sowohl das Leistungsniveau als auch den Lernfortschritt zu steigern (jedes Kind verdient wenigstens ein Jahr Fortschritt für ein Jahr Input, egal, wo es angefangen hat) und die Schulen zu einladenden Orten für die Schüler zu machen. Wenn nicht, dann haben sie kein Recht auf Autonomie.

 

Das Interview führte Christoph Kramer

Die Übersetzung aus dem Englischen besorgten Marcel Sudan und Christiane Kunze

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Christoph

Mag sein, dass die Ausführungen von Hattie so wirken, als seien sie Wischi-Waschi. Das Problem aller Theorien, die sich mit Schule und Erziehung beschäftigen, haben etwas Wischi-Waschihaftes. Das Besondere an Hattie ist, dass er die Lehrperson wieder mehr in den Mittelpunkt rückt. Und hier ist es tatsächlich dessen Leidenschaft, die guten Unterricht ausmacht. Lange Jahre hat man den Lehrern verkauft, sie müssten sich als Lerncoaches quasi möglichst überflüssig machen, nur noch moderieren, als stummer Impulsgeber Lernarrangements bereit stellen um so letztendlich einen günstigen Weg zu ebnen, der Schule kostengünstig machen könnte, indem der Lehrer auch physisch verschwindet und einem elektronischen Lehrsystem Platz macht. Aber nicht die Methoden sind das Entscheidende, sondern die Persönlichkeit des Lehrers. Diese Botschaft wird in Deutschland von denen, die über Schule bestimmen, sicher nicht gerne gehört.

Gravatar: Ulli B.

Ich muss auch sagen, dass Herr Hattie hier Wischi-Waschi redet.
Ich bin ihm aber dankbar, dass er endlich wieder den Lehrer als wichtigstes Kriterium für guten Unterricht in den Mittelpunkt rückt, den jahrzehntelang verteufelten Frontalunterricht als notwendig und richtig einstuft und dem Glauben an Reformen oder Methoden eine Absage erteilt.

Gravatar: Sebastian Waack

Vielen Dank für das Interview, das einen hervorragenden Überblick zur Hattie-Studie bietet! Bei der Antwort zur Frage hinsichtlich der Übertragbarkeit der Erkenntnisse auf Deutschland ist die deutsche Übersetzung nicht passgenau: Hattie bezieht sich in der englischen Fassung nicht auf das deutsche Hochschulsystem, sondern auf das in Deutschland selektivere und gegliederte Sekundarschul-System (=High school). Mit besten Grüßen

Gravatar: Ursula Prasuhn

Nach dem Lesen des Interviews ist bei mir nicht viel hängen geblieben von Herrn Hatties Worten, außer der immer wieder betonten "Leidenschaft", die guten Unterricht ausmacht.
Diese Binsenweisheit gilt für jede Arbeit und jeden Beruf. Dazu braucht es keine aufwendige Untersuchung, sondern nur einiges an Gespür, Lebenserfahrung und gesundem Menschenverstand.
Immerhin sind Hatties Aussagen harmlos. Weit schlimmer sind die vielen Studien, die allein dazu dienen, bewährtes pädagogisches Erfahrungswissen schlecht zu machen und außer Kraft zu setzen, weil es hinterlistigen Interessen im Wege steht.

Gravatar: Kai

Sehe ich auch so, verehrter dickbrettbohrer.

Gravatar: dickbrettbohrer

Nichts als Phrasendrescherei und eitles, hohles Geschwätz.

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