Prof. Peter Kruse Professor für Psychologie, Univeristät Bremen

Dramatischer Werteverfall - Interview mit Peter Kruse

Professor Peter Kruse ist Honorarprofessor für Allgemeine und Organisationspsychologie an der Universität Bremen und geschäftsführender Gesellschafter der nextpractice GmbH in Bremen. Über 15 Jahre arbeitete er an mehreren deutschen Universitäten als Wissenschaftler an der Erforschung der Komplexitätsverarbeitung in intelligenten Netzwerken. Der Schwerpunkt seiner beraterischen Arbeit liegt in der Anwendung und praxisnahen Übertragung von Selbstorganisationskonzepten auf unternehmerische Fragestellungen. Peter Kruse ist Autor von über zweihundert wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Publikationen. 

FreieWelt.net sprach mit Professor Kruse über den Wertewandel in der Gesellschaft und seine Auswirkungen auf Wirtschaft, Politik und Lebenswelt.

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FreieWelt.net: Professor Kruse, Sie haben im Rahmen einer Studie für das "Forum demographischer Wandel" des Bundespräsidenten einen Wertewandel in der Gesellschaft hin zu mehr gemeinschaftlicher Sinnstiftung festgestellt. Wie müssen wir uns diesen Wandel der Wertewelten vorstellen?

Prof. Peter Kruse:
Mit dem von uns in den letzen 15 Jahren entwickelten Interviewverfahren nextexpertizer sind wir in der Lage, die unbewussten emotionalen Präferenzen größerer Menschengruppen weitgehend ohne bewusste Verzerrungen zu erheben und zu einer Art "Computertomographie kultureller Bewertungen" zu verdichten. Bei der Studie für das Forum demographischer Wandel haben wir Bundesbürger einschätzen lassen, wie sie die Entwicklung in Deutschland seit der Nachkriegszeit sehen. Das intuitiv erzeugte Bild ist verblüffend prägnant und einheitlich. Beginnend mit den 80er Jahren und verstärkt in den 90ern bis heute diagnostizieren alle Interviewpartner einen dramatischen Werteverfall. In einer mehrere Jahrzehnte langen Abwärtsbewegung wurde kulturelle Reichhaltigkeit systematisch zugunsten gesteigerter Effizienz und kurzfristiger Rendite abgebaut. In den intuitiv gegebenen Einschätzungen wird das Bild einer Gesellschaft entworfen, die es in einer eigentümlichen Mischung aus Leistungsorientierung und Partylaune versäumt hat, die zur Absicherung der Grundlagen des eigenen Wohlstandes notwendigen nachhaltigen Aufbauprozesse angemessen zu fördern. So hat die Discount-Philosophie einerseits Konsumwelten entstehen lassen, in denen alles gut, günstig und bequem zugänglich ist. Anderseits ist den Menschen aber inzwischen offenkundig sehr klar, dass immer irgendjemand die Zeche zahlt, wenn "billig" zum zentralen Maßstab erhoben wird. Obwohl die Interviewpartner selbst Teilhaber der Segnungen der Spaßgesellschaft waren, sind sie übereinstimmend der Überzeugung, dass der Bogen überspannt worden ist. 

FreieWelt.net:  Wenn sie den Spaß nicht mehr wollen, was wollen die Menschen dann?

Prof. Peter Kruse:
Die Menschen suchen verstärkt nach Sinn. Die schnelle Befriedigung über Hypes und Massenangebote lehnen sie mit wachsender Klarheit ab. Auch, wenn es sich im Verhalten der Menschen noch teilweise anders darstellt, die Fast-Food-Mentalität hat ihren Zenit überschritten. Strategien, die wie "Deutschland sucht den Superstar" darauf aus sind, mit aller Macht noch das letzte Tröpfchen Kreativität und Besonderheit aus einer verarmenden Kultur zu pressen, ohne sich um die Förderung der dringend erforderlichen Aufbauprozesse zu kümmern, werden mit immer größerer Skepsis verfolgt. Langsam wächst eine ernst zu nehmende Verweigerungshaltung gegenüber einer Verwertungsindustrie, die Profitabilität klar über Innovation und Nachhaltigkeit stellt. Wir haben in den letzten Jahren viele tausend Interviews in verschiedenen Marktsegmenten und gesellschaftlichen Aufgabenfeldern durchgeführt. Das entstandene Gesamt-Szenario ist erschlagend eindeutig: Es läuft gegenwärtig ein grundlegender Turnaround in den Köpfen der Menschen ab. Statt um "gut, günstig und bequem" geht es um "sinnvoll, nachhaltig und innovativ". Im Mittelpunkt steht nicht Spaß, sondern Glück. Spaß ist das Vergnügen, etwas leicht und ohne eigenen Aufwand genießen zu können. Glück ist die Freude, etwas mit persönlichem Einsatz erreicht zu haben. Glück ist Ergebnis von Anstrengung und kulturellem Aufbau. Glück ist eine Überwindungsprämie, wie mein Freund und Kollege Jens Corssen treffen formuliert. Nach Jahren des genüsslichen "Bergab" sehnt man sich nach dem anstrengenden aber befriedigenden "Bergauf".

FreieWelt.net: "Wer das Glück sucht, findet die Familie" hat Paul Kirchhoff einmal gesagt. Ist mit dem Wertewandel auch eine Rückwendung zur Familie und zu Kindern verbunden?

Prof. Peter Kruse:
Die Situation ist ein bisschen komplexer. Ja, es gibt eine Rückbesinnung auf die Bedeutung überschaubarer sozialer Einheiten und auf die Notwendigkeit direkter zwischenmenschlicher Fürsorge und Solidarität. Ja, es gibt eine Renaissance des "Wir" nach einer Zeit der Überbetonung des "Ich". Aber dieser Trend zahlt keineswegs unmittelbar auf die Attraktivität von Familie und Kinderwunsch ein. Sollte die Politik darauf hoffen, dass sich das Demographieproblem in Deutschland im Zuge des skizzierten Umschwunges in den Wertepräferenzen gleich mit erledigt, so dürfte sich dies als trügerischer erweisen. Die Ergebnisse der von uns im Auftrag von Bundespräsident Köhler durchgeführten Interviews belegen eine Ambivalenz der Elternrolle, die sich tief in das kollektive Gedächtnis der Bevölkerung eingegraben hat. Zwar wird der Kontext "Kind und Familie" als Quelle alltäglicher Sinnstiftung akzeptiert, aber der erlebte Mangel an sozialer Anerkennung und Unterstützung macht Kinder in der Perspektive der Menschen zum ernst zu nehmenden Gefährdungspotential für den eigenen sozialen Status. Die Perspektive lässt sich zu folgendem Widerspruch verdichten: Kinder zu haben, ist ein Risiko für den Wohlstand der Eltern. Keine Kinder zu haben, ist ein Risiko für den Wohlstand der Gesellschaft. Die weitgehende Koppelung von Wertschätzung an Erwerbsarbeit und Renditebeitrag schädigt den Nährboden für Kreativität. Ein Sozialwesen, in dem die Würdigung von Fürsorglichkeit nur noch in Festtagsreden und wohlmeinenden Appellen stattfindet, gefährdet langfristig seine Kraft zur Erneuerung. 

FreieWelt.net: Unsere wichtigste Ressource ist die Kreativität, der vielbeschworene kreative Nachwuchs, der beispielsweise erfinden soll, wie die Mobilität der Zukunft aussieht. Wie lässt sich dieses Potential sichern?

Prof. Peter Kruse:
Auch diesbezüglich ist die Situation alles andere als trivial. Jugend allein ist kein Garant mehr für Kreativität und Erneuerungskraft. Durch die extreme Steigerung der Vernetzungsdichte in der Welt haben wir die Komplexität und Veränderungsdynamik in einem Umfang gesteigert, der es immer unwahrscheinlicher macht, dass die Intelligenz einzelner Menschen, ganz gleich ob jung oder alt, hinreicht, um angemessene Lösungen für die anstehenden Probleme zu finden. Die Schere zwischen dem möglichen Kenntnisstand des Einzelnen und den Erfordernissen der Schaffung hinreichender Entscheidungsgrundlagen geht immer weiter auseinander. In Wirtschaft und Politik wird deutlich, dass wir an die Grenzen individueller Intelligenzleistung stoßen. Die Finanzkrise ist in wesentlichen Aspekten eine Krise der Entscheidungsträger. Jon Danielsson von der London School of Economics bringt es auf den Punkt: "It used to be that banks became insolvent because their loans went sour. Now it is the complexity of assets that lets them down…Banks simply became too sophisticated for their own good." Bereits in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts hat der Systemtheoretiker William Ross Ashby darauf hingewiesen, dass die Zahl der möglichen Zustände in einem Kontrollsystem immer größer sein muss als die Zahl der möglichen Zustände im zu kontrollierenden System. Dieses als Ashby`s Law bezeichnete Prinzip gegengleicher Komplexität macht deutlich, dass wir in einer vernetzten Welt nur als Netzwerk angemessen handlungsfähig sein und bleiben können. Neben die Notwendigkeit der Verjüngung der Gesellschaft tritt gleichberechtigt die Notwendigkeit des Übergangs von der individuellen zur kollektiven Intelligenz.

FreieWelt.net: Und der Umgang mit Netzwerken ist ohne Zweifel eine Domäne der jungen Generation. Haben wir es dann mit einer weiteren Verschärfung des Generationenkonfliktes zu tun?

Prof. Peter Kruse:
Tatsächlich entsteht gerade ein durchaus interessantes Spannungsverhältnis zwischen den etablierten Machtinstanzen der Gesellschaft und den jungen Menschen, die mit den neuen Möglichkeiten der kommunikativen Vernetzung groß geworden sind. Die derzeit heftig diskutierte Unterscheidung zwischen "Digital Natives" und "Digital Immigrants" ist weit mehr als eine weitere modische Kategorisierung aus der Feder rühriger Trendforscher. Die Sozialisationskraft des Web2.0 kann kaum überschätzt werden. Wer seine Kindheit in online-Communities verbringt, wer sich über Youtube das Fernsehprogramm selbst zusammen stellt, wer den Zugang zu Informationen für selbstverständlich hält, wer jede Augenblicksidee in die Welt twittert und seine Gefühle über Emotikons zum Ausdruck bringt, entwickelt mit hoher Wahrscheinlichkeit Einstellungen und Handlungsstrategien, die hinreichend anders sind, um die bestehenden Systeme gehörig auf zu mischen. Im Spiegel online vom 25.6.2009 liest sich der Schlachtruf der Digital Natives bereits recht eindeutig: "Sie werden sich wünschen, wir wären Politik verdrossen." Angesichts der Möglichkeiten zur Partizipation und Einflussnahme, die sich mit den neuen Medien eröffnen, und angesichts der Fähigkeit der jungen Generation, sich diese Möglichkeiten zu nutze zu machen, dürfte die noch vorherrschende Vorstellung gesellschaftlicher Machtausübung heftig unter Druck geraten. Politik und Wirtschaft stehen vor einem Erdbeben

FreieWelt.net: Was bedeutet "Erdbeben" in diesem Zusammenhang?

Prof. Peter Kruse:
Die verändernde Kraft der Netzwerke ist nicht auf die klassischen Wirkwege von Karriere, Parteiarbeit oder Lobbyismus angewiesen. Im Netz können sich selbst scheinbar randständige Aktivitäten in kürzester Zeit zu mächtigen Bewegungen aufschaukeln, wenn sie auf Resonanz stoßen. Solche Aufschaukelungseffekte entstehen spontan und sind letztlich nicht steuerbar. Die klassischen Kommunikationswerkzeuge bleiben weitgehend wirkungslos. Wenn wie jüngst im Iran ein sterbendes Mädchen dem Protest gegen das Regime ein Gesicht gibt und weltweit Sympathien auslöst, dann können selbst scheinbar unangreifbare Machtapparate unvermittelt unter Druck geraten. Aber weit mehr als die prinzipielle Möglichkeit derartiger Aufschaukelungseffekte bildet der wachsende Wunsch nach direkter politischer Einflussnahme das eigentliche Epizentrum des Erdbebens. Unsere Interviewergebnisse zeigen, dass die Jugendlichen heute tatsächlich keineswegs Politik verdrossen sind. Kritisiert werden nicht politische Themen oder Aktivitäten, sondern die bestehenden Mechanismen politischer Beteiligung. Ich denke es ist nicht zu gewagt, zu prognostizieren, dass die Politik sich in absehbarer Zeit mit der Formierung politischer Kräfte konfrontiert sehen wird, die themenspezifisch durchaus größere Wählermassen bewegen können, ohne sich der klassischen Mobilisierungswege einer Protestbewegung bedienen zu müssen. Es ist heute nicht mehr notwendig, auf die Straße zu gehen, um eine kritische Masse zu erreichen. Vielleicht werden auf den neuen Wegen der Partizipation sogar Mehrheiten möglich, die sich nicht mehr wie bisher aus den Wertemustern der gesellschaftlichen Mitte speisen.

FreieWelt.net: Auch in Deutschland? Sie haben einmal gesagt, es gibt eigentlich die alte gesellschaftliche "Mitte" nicht mehr. Die ist abgeschmolzen zugunsten hoch differenzierter Wertepräferenzen. Aber die großen Parteien berufen sich im Wahlkampf nach wie vor auf diese Mitte und versuchen dort Wählerstimmen zu bekommen.

Prof. Peter Kruse:
Die Idee einer rein quantitativ dominierenden gesellschaftlichen Mitte finden wir tatsächlich in unseren Untersuchungen durchgängig nicht mehr bestätigt. Es scheint so zu sein, dass sich die Menschen mit ihren Wertepräferenzen viel stärker an Situationen orientieren, als dies früher der Fall gewesen ist. Eine Person, die sich beim Autokauf eher konservativ verhält, überrascht die Marktforscher damit, dass sie sich im Urlaub für ein avantgardistisch experimentelles Angebot entscheidet. In der Politik schmelzen die klassischen Stammwähler-Populationen immer mehr ab und Wahlentscheidungen werden zunehmend kurzfristig getroffen. Um erfolgreich zu sein, reicht es nicht mehr, sich auf die Meinung der Masse zu konzentrieren, weil es die Masse als einheitliches Resonanzmuster nicht mehr gibt. Insbesondere die Musikindustrie hat dies schmerzlich erfahren. Die alten Rezepte, wie man Verkaufszahlen nach oben treibt, funktionieren ebenso immer weniger, wie die alten Rezepte, die Wählergunst zu gewinnen. Alle Anbieter ob in Wirtschaft oder Politik müssen ihre Strategien überdenken und sich intensiver auf ihre Mitspieler einlassen. Bereits das 1999 erschienene Cluetrain Manifest hat die Unternehmen darauf aufmerksam gemacht, dass Märkte in Zeiten des Internets zu Gesprächen werden und die Macht zunehmend zum Kunden wechselt. Es ist wohl an der Zeit, die Politik darauf aufmerksam zu machen, dass im Zeitalter von Web.2.0  die taktische Machtausübung kleiner und eine ehrliche Bürgerbeteiligung größer zu schreiben ist. Demokratie braucht mehr Partizipation, sonst gehen ihr die Wähler verloren. Das Motto, das Horst Köhler für seine neue Amtsperiode gewählt hat, ist programmatisch: "Demokratie sind wir alle". Persönlich würde ich mir wünschen, dass die Politik ihr Ohr generell wieder stärker an den Herzen der Menschen hat. Die Intuition und das Einfühlungsvermögen von Politikern mit einer „Nase fürs Volk“ reichen heute allerdings nicht mehr aus und angesichts der weg brechenden Mitte sind statistische Erhebungsverfahren ein immer schlechterer Ratgeber. Die Sonntagsfrage als Orientierungshilfe hat ausgedient. Benötigt werden Verfahren, die einen schnellen und strukturierten Zugang zu den differenzierten Wertewelten der Menschen ermöglichen. Wenn es nicht gelingt, neue Wahrnehmungsorgane zu etablieren, bleibt der Politik nur die Resonanztestung über Versuch und Irrtum. Das wünsche ich uns nicht.

FreieWelt.net: Wie macht man die Politik wieder sehend?

Prof. Peter Kruse:
Das herauszufinden bleibt Aufgabe der Politik. Aber wir können in diesem Zusammenhang vielleicht mit dem in unserem Bremer Methoden- und Beratungsunternehmen nextpractice entwickelten Interviewverfahren nextexpertizer einen kleinen Beitrag leisten. Entstanden ist das Verfahren eigentlich als Instrument zur Analyse und zum Controlling kultureller Veränderungsprozesse in Unternehmen. Die Messung weicher Faktoren ist ein methodisches Problem, das sich weder mit Fragebögen noch mit qualitativen Interviews zufriedenstellend lösen lässt. Fragebögen erfassen nur die bewusst repräsentierten Einstellungen und Meinungen von Auskunftspersonen. Intuitive und emotionale Bewertungen bleiben nahezu völlig unberücksichtigt. Qualitative Interviews dringen zwar auf die Ebene der weichen Faktoren vor, erlauben jedoch nur sehr bedingt eine mathematisch statistische Bearbeitung von Erhebungsergebnissen und sind daher zur Ermittlung übergreifender kultureller Präferenzmuster weitgehend ungeeignet. Das Interviewverfahren nextexpertizer verbindet die Quantifizierbarkeit von Fragebögen mit der inhaltlichen Aussagekraft qualitativer Interviews. Wie schon eingangs erwähnt, wird es mit dem Verfahren möglich, in einer Art "Computertomographie kultureller Bewertungen" die geeinschaftlichen Präferenzmuster, oder wie wir es gerne bezeichnen, die kollektive Intuition von Gruppen sichtbar zu machen. Nach dem wir das Verfahren zuerst über 10 Jahre lang erfolgreich bei der Erfassung von Unternehmenskulturen eingesetzt haben, fand es in den letzten fünf Jahren darüber hinaus zunehmend Anwendung in der Markt- und Trendforschung. Dadurch, dass im Verfahren so gut wie keine sprachlichen Vorgaben gemacht werden und die Befragten alles mit ihren eigen Worten beschreiben können, hat sich nextexpertizer insbesondere auch im Kontext internationaler kulturübergreifender Vergleichsstudien bewährt. Eine Übertragung auf politische Fragestellungen lag nahe. Wir sind angesichts der bisherigen Erfahrungen sehr optimistisch, dass es mit nextexpertizer möglich ist, die Entwicklung gesellschaftlicher Wertewelten für politische Entscheidungsfindungs- und gesellschaftliche Meinungsbildungsprozesse in einer Form aufzubereiten, die Komplexität reduziert, ohne zu trivialisieren. Allerdings hilft auch kein noch so gutes Werkzeug, wenn es den Entscheidungsträger in der Politik an der erforderlichen Neugier fehlt und die Idee der Bürgerbeteiligung nicht wesentlich über den Status einer Feigenblatt- oder Alibifunktion hinauskommt. Partizipation wird im politischen Diskurs noch zu häufig mit dem Begriff "Schwarmintelligenz" denunziert, als dass man davon ausgehen kann, dass die Idee der "dummen und manipulierbaren Masse"  bereits nachhaltig aus den Köpfen verschwunden ist. Nur wer wirklich vom Mehrwert der Beteiligung überzeugt ist, interessiert sich für Erkenntnisse, die sich aus der Analyse kollektiver Intuition oder aus einer intelligenten Vernetzung ergeben. Ohne eine Neudefinition demokratischer Machtausübung und einer entsprechenden Änderung in den Wertesystemen der Politiker wird die Praxis noch lange hinter den Möglichkeiten zurück bleiben.

FreieWelt.net: Welche Partei macht es denn derzeit am besten? Wer ist am nächsten dran?

Prof. Peter Kruse:
Mit dem überraschenden Auftreten und Abschneiden der Piratenpartei bei der Wahl zum Europaparlament in Schweden ist wohl auch dem Letzten klar geworden, dass das Thema der neuen Medien auf die eine oder andere Art politische Brisanz entfalten wird. Aber so richtig nah dran bei der Übertragung auf das eigene Handeln ist noch nicht mal die Piraten-Partei selbst. Ich warte immer noch auf den ersten Parteitag, der sich auf das Experiment einer unkontrollierten Netzwerkdynamik einlässt. Die Techniken für eine computergestützte Großgruppenmoderation sind ja längst vorhanden und in der Wirtschaft hundertfach erprobt. Aber welche Parteiführung lässt sich schon gerne absichtlich und bei vollem Bewusstsein darauf ein, von der eigenen Basis überrascht zu werden. Solange in den inneren Abläufen der Parteien noch Vorabsprachen und geschicktes Taktieren die Szene bestimmen, brauchen wir uns darüber, wer bei dem Versuch vorne liegt, die Potentiale offener Bürgerbeteiligung optimal auszuschöpfen, wohl eher nicht zu unterhalten. Solange die Assoziation zwischen Politik und taktischem Machterhalt dominant genug bleibt, um sprichwörtlich zu sein, werden sich Politiker darauf beschränken, über Twitter zu zeigen, dass sie stets auf der Höhe der Zeit und ganz schön hipp sind, sie werden verzweifelt auf die Suche nach einem Digital Native gehen, der ihren Wahlkampf so viral macht wie bei Obama und sie werden ihre PR-Berater dazu auffordern, das Netz zu beobachten und gegebenenfalls zu bloggen und zu chatten was das Zeug hält, um Imagemängel frühzeitig auszubessern. Verstehen, was Macht im Netzwerk wirklich bedeutet, werden sie nicht.

FreieWelt.net: Wo wird in der Zukunft die Macht liegen?

Prof. Peter Kruse:
Auch wenn es jetzt vielleicht ein wenig rührselig klingt, mächtig ist im Netzwerk nur wer authentisch ist, sich verletzlich macht und möglichst wenig mit dem Gedanken spielt, das Schicksal zwingen zu wollen. Denn nicht der Anbieter bestimmt im Netzwerk, ob er für eine gewisse Zeit zum vielgesuchten Knotenpunkt wird, sondern die unkontrollierte und unkontrollierbare Masse der Nachfrager. Wer etwas anbietet, das einen Nerv trifft, das attraktiv ist, der kann über Nacht zum Mittelpunkt der Welt werden. Wer aber glaubt, er kann das Netzwerk austricksen und gezielt manipulieren, wird sich mittel- bis langfristig mit hoher Wahrscheinlichkeit wundern, wie viel Budget man wirkungslos versenken und wie dauerhaft man seine Reputation verlieren kann. Die Magie des Netzwerkes heißt Resonanzbildung. Wem es gelingt, diese Magie in Gang zu setzen, dem stehen einerseits enorme Kräfte zur Seite, der läuft aber andererseits auch immer Gefahr, wie der Zauberlehrling von den Ergebnissen des eigenen Handels überrollt zu werden. Beispiele hiefür hat das Netzwerk bereits zur Genüge hervorgebracht und es werden täglich neue Geschichten auf dem schmalen Grad zwischen Lust und Leid hinzugefügt. Wie fühlt man sich, wenn man seinen Liebeskummer mit ein paar Freunden ertränken will und dann plötzlich zig tausend Partygäste Sylt verwüsten? Wie fühlt man sich, wenn man sich mir 46 Jahren zum ersten Mal singend vor eine Kamera traut und binnen einer Woche zu einer der bekanntesten Frauen der Welt wird? Wenn die Resonanz da ist, weis jeder, wie es dazu kam. Nichts ist leichter als die retrospektive Analyse. Aber welche Resonanz entsteht morgen? Wann und warum wird das nächste Phänomen die Schwelle zur Selbstaufschaukelung überschreiten? Die zentrale Frage in einer vernetzten Welt, die uns alle mehr oder weniger ratlos und mit kindlicher Neugier hinterlässt, lautet schlicht und einfach: What`s next?

Das Interview führte Christoph Kramer

Foto: P. Kruse

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