Dr. med. Rainer Böhm Kinder- und Jugendarzt

Dr. Rainer Böhm: Betreuungsgeld ist sinnvoll und notwendig

Dr. med. Rainer Böhm ist leitender Kinder- und Jugendarzt des Sozialpädiatrischen Zentrums Bielefeld Bethel und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Kinderneurologie. Im Interview mit FreieWelt.net erläutert Dr. Böhm, welche Auswirkungen sehr lange und frühe außerfamiliäre Gruppenbetreuung auf die seelische Entwicklung der Kinder haben kann und appelliert an die Politik, das Wohl von Familien und Kindern in den Mittelpunkt künftiger Familienpolitik zu stellen, statt sich von wirtschaftlichen Interessen leiten zu lassen.

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FreieWelt.net: Herr Dr. Böhm, derzeit wird heftig darüber debattiert, ob für Eltern, die ihre ein- und zweijährigen Kinder nicht in einer staatlich subventionierten Einrichtung betreuen lassen, eine monatliches Betreuungsgeld von 150 Euro gezahlt werden soll. Was halten Sie vom geplanten Betreuungsgeld?

Dr. Böhm: Ich halte die Einführung eines Betreuungsgelds für sinnvoll und notwendig, um die Wahlfreiheit bei der frühkindlichen Betreuung sicherzustellen. Eltern, die ihrem Kind im zweiten und dritten Jahr noch keine Gruppenbetreuung zumuten wollen, müssen die Möglichkeit erhalten, eine ihnen geeigneter erscheinende Betreuung organisieren zu können, sei es im familiären Rahmen oder z.B. durch eine Tagesmutter oder einen Tagesvater. Allerdings sind 150 Euro hierfür zu knapp bemessen. Wir sollten uns dabei an den skandinavischen Ländern orientieren, die mindestens die doppelte Summe auszahlen, oder aber gleich ein Kindergrundeinkommen einführen.

FreieWelt.net: Aber setzt das Betreuungsgeld nicht „falsche Anreize“, indem es „Kinder von frühkindlicher Bildung“ fernhält, wie einige Kritiker behaupten?

Dr. Böhm: Die mit Abstand wichtigste und einflussreichste Bildungsinstanz in den ersten drei Lebensjahren sind die eigenen Eltern, das haben Studien immer wieder unzweifelhaft nachgewiesen. Der Bildungseffekt außerfamiliärer Einrichtungen für die ersten drei Lebensjahre wird in der Öffentlichkeit  systematisch überschätzt. Die Dauer eines Krippenbesuchs hat keinen Effekt auf das Lernen. Es bringt also nichts, ein Kind möglichst früh und lange in eine Krippe zu geben. Nur bei hoher Betreuungs-Qualität lassen sich später leichte Verbesserungen der Schulleistungen feststellen. Leider gibt es in Deutschland praktisch keine Krippen-Einrichtungen, die diese Qualitätsstufe erreichen, und daran hat sich in den letzten 15 Jahren auch nichts geändert, wie die NUBBEK-Studie dies soeben wieder bestätigt hat. Auch bei Eltern in Problemlagen sollte die frühkindliche Förderung in den ersten drei Jahren vorzugsweise im  familiären Rahmen erfolgen und intensive Elternschulung und -beratung umfassen.

FreieWelt.net: Dennoch will auch die aktuelle Familienministerin Kristina Schröder am Krippenausbauplan ihrer Vorgängerin Ursula von der Leyen festhalten und die Krippenbetreuung auf 750.000 U3-Betreuungsplätze ausbauen. Welche Auswirkung hat die frühzeitige außerhäusliche Betreuung auf die Kinder im Alter von 0-3 Jahren?

Dr. Böhm: Krippenbetreuung zeigt auf der Lern- und Verhaltensebene generell nur geringe Effekte. Auf der Verhaltensebene sind diese Auswirkungen allerdings negativ. Je länger und früher Kinder eine Krippe besuchen, desto häufiger zeigen sie im Kindergartenalter aggressives, als Jugendliche impulsives und risikoreiches Verhalten. Bei früher Ganztagsbetreuung zeigen sich diese Verhaltensweisen zehnmal häufiger als bei familienbetreuten Kindern. Wesentlich bedenklicher sind allerdings die diesen Verhaltensweisen zugrundeliegenden biologischen Veränderungen. Krippenkinder zeigen sehr oft eine chronische Stressbelastung mit permanent erhöhten Spiegeln des Stresshormons Cortisol. Das kann sowohl körperliche als auch seelische Gesundheitsstörungen verursachen.

FreieWelt.net: Spielt da nicht in erster Linie die Betreuungsqualität eine entscheidende Rolle?

Dr. Böhm: Die Betreuungsqualität hat tatsächlich Einfluss auf die Stressbelastung. Allerdings gilt dies vor allem für Kindergartenkinder. Leider verliert sich dieser Effekt umso mehr, je jünger die betreuten Kinder sind. Für diese Kinder, das gilt insbesondere für die Einjährigen, scheint die Krippe einfach keine geeignete Betreuungsform zu sein.

FreieWelt.net: Aber können diese negativen Erfahrungen der Kinder nicht durch eine besonders innige und liebevolle Betreuung der Eltern nach der Kinderkrippe und an den Wochenenden wieder ausgeglichen werden?

Dr. Böhm: Das scheint leider oft nicht der Fall zu sein. Das liegt zum Teil auch daran, dass berufstätige Eltern oft stärker gestresst sind und sowohl miteinander als auch mit dem Kind häufig weniger achtsam und liebevoll umgehen, das hat z.B. eine große kanadische Studie im Bundesstaat Quebec gezeigt. Dies gilt vor allem, wenn die Erwerbstätigkeit unfreiwillig, z.B. aufgrund finanzieller Not, früh wieder aufgenommen wird. Amerikanische Untersuchungen haben außerdem nachgewiesen, dass Veränderungen der Stressregulation nach früher und langer Krippenbetreuung auch noch mit 15 Jahren nachweisbar sind. Die Abende und Wochenenden bei den Eltern reichen also offenbar nicht.

FreieWelt.net: Ab wann sollten Kinder Ihrer Meinung nach frühestens außerhalb des Elternhauses betreut werden und in welchem Umfang?

Dr. Böhm: Dies hängt von verschiedenen Faktoren ab, die natürlich zunächst einmal die Eltern selbst für sich abwägen müssen. Eine Gruppenbetreuung, also in der Krippe, sollte aufgrund unserer im Vorjahr aufgestellten Bielefelder Empfehlungen frühestens mit 2 Jahren erwogen werden, und dann auch maximal halbtags. Ab drei Jahren können die meisten Kinder dann auch längere Gruppenzeiten vertragen. Bei den jüngeren Kindern sind die Eltern fast immer die erste Wahl, aber eine achtsame, liebevolle 1 zu 1 Betreuung kann auch durch andere Personen, z.B. Großeltern oder eine Tagesmutter, erfolgen. Dabei sollte aber möglichst kein Personenwechsel erfolgen, weil dies für ein kleines Kind traumatisch sein kann. Kinder, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, sollten möglichst ab dem dritten Geburtstag einen qualitativ guten Kindergarten besuchen, eventuell vorher schon eine wohnortnahe Spiel- oder Krabbelgruppe in Anwesenheit eines Elternteils.

FreieWelt.net: Bislang wurde in den Medien und von diversen Experten vor allem die positive Wirkung von außerhäuslicher Betreuung angepriesen. Die Kinder hätten später in der Schule ihren daheim betreuten Klassenkameraden gegenüber einen Wissensvorsprung, sie würden eher das Gymnasium besuchen etc. Teilen Sie diese Einschätzungen?

Dr. Böhm: Eine wesentlich höhere Gymnasialquote nach Krippenbetreuung wurde in einer Auftragsstudie der Bertelsmann-Stiftung nachgewiesen. Allerdings wurde die Methodik dieser Studie zu Recht von verschiedenen Seiten angezweifelt. Es wurden verschiedene Einflussfaktoren nicht beachtet, von denen man aber weiß, dass sie die Schulkarriere von Kindern beeinflussen. Die Studie hat z.B. weder den Entwicklungsstand Kinder gemessen, noch die Qualität der Betreuung. Man weiß, dass frühentwickelte, leistungsstarke Kinder von ihren Eltern im Mittel deutlich früher in Betreuung gegeben werden als schwächere, vielleicht sogar entwicklungsgestörte Kinder,  die - vernünftigerweise - länger im behüteten familiären Umfeld bleiben. Wenn man diesen Effekt nicht erfasst und herausrechnet, sind die  Ergebnisse ziemlich wertlos. Man hat dann letztlich nur gezeigt, dass intelligentere Kinder häufiger aufs Gymnasium gehen. Mit der Krippe hat das wenig zu tun.

FreieWelt.net: Was wünschen Sie sich diesbezüglich von der Politik und insbesondere von der Familienpolitik?

Dr. Böhm: Die Familienpolitik wird derzeit von wirtschaftlichen Interessen, vor allem von Arbeitsmarktaspekten dominiert. Von der Familienpolitik wünsche ich mir aber, dass sie das Wohl von Familien und Kindern in den Mittelpunkt stellt, dazu zählt vor allem auch die Gesundheit. Für eine solche gesunde Entwicklung benötigen Familien ausreichende zeitliche und materielle Ressourcen. Es ist inakzeptabel, dass die Politik die diesbezüglichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts seit vielen Jahren ignoriert. Dies ist eine der Ursachen, dass mittlerweile mehr als 40% aller Eltern-Kind-Bindungen als unsicher einzuschätzen sind, ein alarmierender Befund. Die elementare Bedeutung einer geschützten und sicheren frühen Eltern-Kind-Bindung für eine solidarische und leistungsfähige Gesellschaft wird von politischer Seite leider noch stark unterschätzt. Hier ist eine Neuorientierung überfällig.

Vielen Dank für das Gespräch!

Weitere Informationen zum Thema finden sich unter: www.fachportal-bildung-und-seelische-gesundheit.de.

(KS)

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Maria Redecker

Unendlicher Dank an Herrn Dr. Boehm!!!

Gravatar: H. Jung

Ich frage mich seit langem, wie es zu dieser DDR-isierung unser Erziehungspolitik kommen konnte. Wen kann man noch wählen, wenn am nicht in Bayern wohnt?

Gravatar: Anke Lehmann

Sehr geehrter Herr Dr. Boehm,ich arbeite mit psychichisch kranken Jugendlichen zusammen,ich kann nur beteuern, wie wichtig die Nestwärme im Elternhaus ist.
Sollen zukünftig alle kleinen Kinder in besseren Verwahranstalten unter gebracht werden wie früher in der DDR ???Das kann nicht sein!!!!!!!!

Gravatar: markus

wir sind nicht reich aber unser Sonnenschein wird nicht in eine dieser
Krippen abgestellt traurig das es normal sein soll schon Windelpupser in fremde Hände zu geben

Gravatar: Lupengucker

@Karin Weber
Wie Recht Sie doch haben!!

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