FreieWelt.net: In welcher Weise sind die tschechischen und die deutschen Stromnetze miteinander verbunden?
Zbyněk Boldiš: Die Übertragungssysteme in Kontinentaleuropa sind miteinander verzahnt und bilden ein synchron betriebenes Netz, das von Portugal nach Polen und von Dänemark nach Griechenland reicht. Die beiden deutschen Stromnetzbetreiber 50Hertz und TenneT sind mit dem tschechischen Betreiber ČEPS über 400-Kilovolt-Doppelleitungen miteinander verbunden.
FreieWelt.net: Was wird gewöhnlich getan, um größere Spannungsschwankungen zu vermeiden?
Zbyněk Boldiš: Es gibt standardisierte Verfahren, um mit Ungleichgewichten zwischen Angebot und Nachfrage fertigzuwerden, die von allen Netzbetreibern in Kontinentaleuropa angewendet werden. Sie stellen sicher, dass das Angebot und die Nachfrage nach Elektrizität in jedem Moment einander exakt entsprechen.
FreieWelt.net: Seit einiger Zeit treibt die deutsche Bundesregierung die »Energiewende« voran. Welche Auswirkungen hat diese Politik auf das tschechische System der Stromversorgung?
Zbyněk Boldiš: Nach dem Ereignis in Fukushima hat die übereilte Entscheidung zur Stilllegung von Kernkraftwerken zu einer Lücke bei den verfügbaren Energiequellen in Spitzenzeiten geführt. Anfang Februar 2012 lief das deutsche Stromsystem am Rande der Leistungsfähigkeit, auch weil Erzeugungsquellen gefehlt haben. Jede größere Störung im deutschen System würde sich mit möglicherweise fatalen Konsequenzen auf die Systeme der Nachbarn auswirken.
Darüber hinaus ist es wichtig zu erkennen, dass der kommerzielle Handel mit Elektrizität zwischen zwei Ländern physikalische Stromflüsse hervorbringt, die nicht vollständig den vorgesehenen Wegen der kommerziellen Flüsse folgen. Das gilt insbesondere für die miteinander verzahnten Netzwerke Mittel- und Osteuropas. Stromflüsse folgen dem Pfad des geringsten elektrischen Widerstandes. Sobald es eine Infrastrukturlücke für direkte Stromdurchleitungen gibt (wie es im Moment in Deutschland mit seinen unzureichenden Nord-Süd-Verbindungen der Fall ist), fließen sie auf einem parallelen Weg in andere Teile des Verbundnetzes, die gegenwärtig besser dimensioniert sind. Selbst diese Teile des Netzes haben dann Schwierigkeiten mit dem Überangebot an Stromlast aus dem Norden Deutschlands.
Wenn im nördlichen Teil Deutschlands der Wind bläst, sucht sich der in den Windparks erzeugte Stromüberschuss seinen Weg zu den Verbrauchszentren in Süddeutschland und anderswo. Dieser spontane Effekt entsteht durch die so genannte Regel des horizontalen Ausgleichs von Windstrom in Deutschland, die dafür sorgt, dass Elektrizität, die aus erneuerbaren Energiequellen (EE) erzeugt wird, in ganz Deutschland gleichmäßig verteilt und verbraucht wird. Demzufolge fließt der Strom aus dem Norden in den Süden durch Leitungen mit dem geringsten Widerstand, was im Westen zu parallelen Strömen in den Benelux-Ländern und im Osten in Polen und der Tschechischen Republik im Osten führt. Die Situation wird weiter verschärft durch Stromexporte von Deutschland nach Österreich, die wegen des gemeinsamen deutsch-österreichischen Marktes unbegrenzt möglich sind. Diese ungeplanten Flüsse verursachen eine zusätzliche Last in den Übertragungsleitungen in den benachbarten Systemen und können sogar eine extreme Überlast verursachen. Große Abhängigkeit von instabilen EE mindert eine sichere Auslieferung von Strom an die Verbraucher.
Um es zusammenzufassen: Eine ständige Zunahme von intermittierenden Quellen – vor allem von Windanlagen, die nicht durch eine ausreichend entwickelte Infrastruktur in Deutschland gepuffert werden – führen zusammen mit einem gemeinsamen deutsch-österreichischen Markt, der unbegrenzte Transaktionen zwischen diesen beiden Ländern erlaubt, dazu, dass physikalische Kraftflüsse an Deutschland vorbei durch polnische und tschechische Systeme geleitet werden.
FreieWelt.net: Wie gehen Sie mit diesem Problem um?
Zbyněk Boldiš: Auf der Betriebsebene hilft die Rekonfiguration des Layouts der Übertragungssysteme bei der Unterdrückung kritischer Ströme. Die Anpassung (redispatch) der Erzeugung und der Nachfrage an verschiedenen Orten hilft ebenfalls dabei, mit Überbeanspruchungen fertig zu werden. Grenzüberschreitende Kapazitäten werden absichtlich reduziert, um die Markttransaktionen bei Betriebsstörungen zu reduzieren. Darüber hinaus werden Handelsgeschäfte sowohl beim Import als auch beim Export gestoppt. Substanzielle Verbesserungen – sowohl Modernisierung des Übertragungsnetzes als auch der Bau neuer Leitungen – werden gerade vorbereitet. Allerdings sind diese Maßnahmen wegen der zeitraubenden Genehmigungsverfahren eher langfristig angelegt.
FreieWelt.net: Ist die Stromversorgung in der Tschechischen Republik noch sicher?
Zbyněk Boldiš: ČEPS hat alle verfügbaren Vorkehrungen getroffen, um für zukünftige Risiken vorbereitet zu sein. Allerdings hatten wir in den letzten Jahren mit sehr schweren Beeinträchtigungen des Betriebs zu kämpfen, die in Deutschland entstanden waren. Die Wahrscheinlichkeit für Netzstörungen ist wegen der neuen Situation in Deutschland, auf die ich hingewiesen habe, gestiegen.
FreieWelt.net: Was muss geschehen, um zukünftige Schäden zu vermeiden?
Zbyněk Boldiš: Wegen der gegenwärtigen und insbesondere der zukünftigen Herausforderungen im Betriebsablauf, die mit den EE und den Marktbedingungen in Deutschland und Österreich zusammenhängen, hat sich ČEPS für eine bewährte mittelfristige Maßnahme entschieden: die Installation von Phasenverschiebertransformatoren auf ČEPS-50Hertz-Profil, die 2016 in Betrieb genommen werden. Indem sie die Stromflüsse kontrollieren und zu optimieren versuchen, werden die Transformationen dazu beitragen, den Betrieb der Systeme zu sichern. Außerdem können sie die Übertragungskapazitäten für die Marktteilnehmer in dieser Region erhöhen.
Die deutsch-österreichische Bieterzone aufzuteilen ist eine naheliegende Lösung, über die die Diskussion im nationalen und europäischen Rahmen bereits begonnen hat.
In einer langfristigen Perspektive ist es lebensnotwendig, den Energiemix und die Entwicklung der EE mit der verfügbaren Übertragungsinfrastruktur zu harmonisieren.
FreieWelt.net: Hilft Ihnen die Politik dabei, mit diesen Problemen fertig zu werden?
Zbyněk Boldiš: Sowohl das tschechische Ministerium für Industrie und Handel als auch das deutsche Ministerium für Wirtschaft bringen bilaterale Diskussionen voran, die einen koordinierten Ansatz zur Bewältigung aller dieser Probleme verfolgen.
FreieWelt.net: Vielen Dank für das Interview.
Lesen Sie das Interview auch in der englischen Originalfassung!
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