Interview mit dem Althistoriker Prof. David Engels

Coronavirus-Krise wird ein Einschnitt in der Geschichte Europas sein

»Die Corona-Krise wird wohl neben 1945 und 1989 als der nächste große Einschnitt in der Geschichte Europas betrachtet werden müssen, als Beginn der entscheidenden Krisenphase in der neueren Geschichte unseres Kontinents, nicht etwa aufgrund der Schwere der Seuche selbst, sondern wegen ihrer wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen.«

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Freie Welt: Herr Engels, Sie sind Althistoriker. Welche Rolle haben Pandemien in der alten Geschichte gespielt, und wie deutete man sie?

David Engels:
Auch in der Antike waren überregional, manchmal gar mittelmeerweit grassierende Seuchen gängige Erscheinungen; man denke hier nur an die berühmte „Pest“, welche in Athen 430-426 zu Beginn des Peloponnesischen Kriegs grassierte, oder die noch bekanntere Antoninische Pest, welche das Römische Reich von 165-190 heimsuchte. Erstere ist bis heute nicht genau identifiziert, mag aber vielleicht Typhus gewesen sein und raffte ein Viertel der Bevölkerung Athens hin, unter anderem Perikles; letztere war wohl eine Abart der Pocken, der 7-10 Millionen Menschen zum Opfer fielen, rund 5-10% der Gesamtbevölkerung des Reichs.

Schon immer wurden jene Seuchen nicht einfach als bloßer Zufall hingenommen, sondern man versuchte, ihnen einen tieferen Sinn zu geben: In Athen etwa suggeriert die berühmte Beschreibung des Thukydides, daß man die Pest als eine Strafe für die Hybris des attischen Seebunds wahrnahm, der sich von einem antipersischen Verteidigungsbund zu einem skrupellos eingesetzten Macht- und Ausbeutungsinstrument der Athener verwandelt hatte; in Rom wurde die Antoninische Pest als Strafe der Götter für die römische Plünderung des Apollon-Tempels von Ktesiphon gesehen, der von den Römern eroberten Hauptstadt des Partherreichs. Auch hier lag, wenn man so will, ein Fall von imperialer Überdehnung vor, der nach typisch antiker Weltsicht die Strafe der Götter auf den Plan rufen mußte.

Es ist daher kaum verwunderlich, daß auch heute inmitten der Coronavirus-Krise überall die Frage diskutiert wird: „Wieso?“ – sei es im Hinblick auf die schier grotesk gewordene Überheblichkeit des modernen Menschen, der glaubt, die Schöpfung ganz und gar beherrschen und steuern zu können, sei es im Hinblick auf die Frage, inwieweit jene Seuche nicht nur der fast schon beliebige Auslöser einer Krise ist, die sich bereits seit Jahren, ja Jahrzehnten vorbereitet.

Freie Welt:
Wie reagierten die Menschen und Staaten der Antike auf solche Seuchen oder auch ähnliche Katastrophen?

David Engels: Man kann hier keine allgemeingültige Antwort geben; deutlich ist allerdings, daß man bereits damals alle wesentlichen Faktoren findet, die auch heute eine Rolle spielen. Ob das eine zunehmende Massenpanik ist, die Anfälligkeit für Verschwörungstheorien oder die Suche nach Sündenböcken: Der psychologische Aspekt war auch in der Antike sehr bedeutsam, und es ist gut möglich, daß zwischen der Antoninischen Pest und der zeitgleichen damaligen Christenverfolgung ein gewisser Zusammenhang bestand. Auch die realwirtschaftlichen Folgen konnten katastrophal sein: Die Antoninische Pest zerstörte nicht nur das innere Wirtschaftsgefüge des Reichs, sondern brachte auch den damals schwunghaften Handel mit dem Süden Indiens fast ganz zum Erliegen und ließ die eben aufgenommenen Beziehungen zum chinesischen Reich wieder abbrechen.

Damalige Staaten mit ihrer schwachen Infrastruktur konnten freilich nur wenig zur Bekämpfung solcher Seuchen beitragen, doch bemühte man sich, wenigstens ihre Folgen abzumildern. Man wird das 301 erlassene Diokletianische Höchstpreisdikt, welches gegen die damals grassierende Inflation erlassen wurde, sicherlich auch als eine zwangsstaatliche Folge der von 250-271 grassierenden Cyprianischen Pest betrachten dürfen, welche die römische Wirtschaft völlig zerrüttet hatte, die sich von dieser Krise nie mehr ganz erholte. Ähnliche Versuche der Wirtschaftssteuerung fand man ja auch, als nach dem Ausbruch des Vesuvs 79 ein Stadtbrand und schließlich eine schwere Seuche ausbrach; Titus, der damalige Kaiser, reagierte hier überaus offensiv, wie wir bei Sueton nachlesen können, der schreibt: „Das Vermögen der beim Ausbruch des Vesuvs Umgekommenen, von denen keine Erben vorhanden waren, verwendete er zur Wiederherstellung der heimgesuchten Städte. Nach dem Brande in Rom erklärte er, daß der Schaden, welchen der Staat an öffentlichen Gebäuden erlitten, ihm allein zur Last falle, und verordnete, allen Schmuck der kaiserlichen Lustschlösser für die Wiederherstellung der öffentlichen Monumente und Tempel zu verwenden, und setzte zur Beschleunigung der diesbezüglichen Arbeiten eine Aufsichtskommission aus römischen Rittern ein. Um den Gesundheitszustand zu verbessern und die Macht der Krankheiten zu brechen, ließ er kein Mittel der Religion und Arzneiwissenschaft unversucht, indem er alle Arten von Sühneopfern und Heilmitteln anwandte.“

Freie Welt: Sie haben die These aufgestellt, die EU werde sich zu einem neuen Imperium Romanum entwickeln. In der aktuellen Krise spielt die EU nur eine geringe Rolle. Ist die EU schon wieder auf dem absteigenden Ast?

David Engels: Nur sehr bedingt. Freilich scheint die Europäische Union seit Ausbruch der Krisenzeit völlig paralysiert zu sein, aber das ist insoweit nichts Neues, als sie bereits seit einigen Jahren nur noch mit eher indirekten, rein bürokratischen Mitteln ihre Politik der Zentralisierung fortzusetzen imstande ist, während für eine frontale, offen und ehrlich mit den Bürgern abgesprochene institutionelle Reform, eine echte gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik oder auch eine klare Migrationsagenda offensichtlich die Zustimmung fehlt. In meinem Buch „Auf dem Weg ins Imperium“ (2014) hatte ich bereits vermutet, daß die EU sich zunächst ebenso wie die späte römische Republik im 1. Jh.v.Chr. in langen Jahren und Jahrzehnten der Bürgerunruhen und des Niedergangs aufreiben würde und erst als Konsequenz hieraus ein neues, konservatives und imperiales Europa entstehen würde. Die letzte Wirtschaftskrise, die immer problematischere Migrationsdebatte und das Aufkommen von Protestbewegungen wie die Gelbwesten oder der Brexit waren die ersten Symptome jener Systemkrise, die sich nun durch den lange erwarteten, durch den Coronavirus endlich ausgelösten wirtschaftlichen Einbruch noch erheblich verstärken wird.
Trotzdem glaube ich nicht an ein Ende der EU oder eine Stärkung des Nationalstaats durch die Krise, jedenfalls nicht kurzfristig und sicher nicht überall in Europa. Denn sobald die gesundheitliche Lage halbwegs stabilisiert ist, werden die EU und ihre Eliten mit ihrer stereotypischen Reaktion – „Europa ist die Antwort“ – hervortreten, aus ihrem Scheitern in der Krise den Anspruch auf weitreichendere Kompetenzen ableiten und diese im Kontext der ohnehin von Macron und Merkel geplanten Reformen als argumentative Brechstange einsetzen.

Freie Welt:
Wird die Corona-Krise Europa dauerhaft verändern oder werden wir nach der Krise einfach zum alten Zustand zurückkehren?

David Engels: Ich befürchte in der Tat, daß wir auf ein Zeitalter großer Veränderungen zusteuern. Diese werden vor allem dann überall deutlich werden, wenn die heute vollmundig von allen Staaten versprochenen Gelder auch tatsächlich den Bürgern ausgezahlt werden müssen und gleichzeitig das ganze Ausmaß des wirtschaftlichen Einbruchs offensichtlich wird. Dann wird die Versuchung groß werden, die Probleme nach Art Chinas durch eine Art Krypto-Sozialismus zuzudecken, nämlich durch eine durch die Druckerpresse bediente zwangsstaatliche Mindestversorgung der einfachen Bürger, während die Selbstbereicherung der Großkonzerne und Finanzmärkte nicht angetastet wird. Das Bargeld wird man dann unter dem Vorwand der Krisensteuerung und zur besseren Kontrolle der Geldentwertung ebenfalls sicher rasch abschaffen, die Opposition – vor allem die „Konservativem“ – wird man unter verschiedensten Vorwänden in den Untergrund jagen, und selbst semiautoritäre Kontrollmechanismen wie etwa Smartphone-Überwachungen oder das chinesische Sozialkreditsystem könnten schneller Realität werden, als uns lieb ist – alles natürlich mit dem Hinweis auf den gemeinsamen Kampf gegen die Nachwehen der Coronakrise.
Das alles wird die gegenwärtige gesellschaftliche Polarisierung natürlich keineswegs beruhigen, sondern vielmehr ins Grenzenlose steigern und für erheblichen Konfliktstoff sorgen. Zum einen innerhalb der Gesellschaft: Der Mittelstand, der gerade seine Lebensgrundlage verliert, dürfte sich mit seiner Deklassierung kaum ohne weiteres abfinden, und die gegenwärtigen Unruhen etwa in den französischen „Problemvierteln“  bezeichnen eine weitere Sollbruchstelle. Zum anderen zwischen den EU-Mitgliedsstaaten, da vor allem die Nationen im Osten Europas, die jenen zwangsstaatlichen Verhältnissen ja erst seit einer Generation entronnen sind, keinerlei Bedürfnis empfinden, sie unter anderen Ausgangsbedingungen erneut zu erleben. Eine vorübergehende informelle Spaltung der EU in eine westeuropäische Koalition der Willigen und einen osteuropäischen Trimarium-Block ist also keineswegs auszuschließen.

Freie Welt: Wenn sie heute die globale Politik betrachten, wer glauben Sie wird von der Corona-Krise am stärksten profitieren, wer wird den größten Schaden nehmen?

David Engels: Es scheint sich schon jetzt abzuzeichnen, daß auf geopolitischer Ebene China der große Gewinner der Krise ist, wenn auch schwer zu messen ist, inwieweit der künftige Welthegemon selber von der Pandemie angegriffen ist, da man die offiziellen Zahlen wohl nur mit großer Vorsicht analysieren sollte. China hat dank seiner autoritären Struktur in der Krise nicht nur eine große Resilienz bewiesen und somit ein folgenschweres Exempel gesetzt, sondern nutzt die Krise, ebenso wie sein Juniorpartner Rußland, auch diplomatisch sehr geschickt dazu aus, jene „Softpower“ zu entwickeln, die ihm bisher fehlte, indem es durch Soforthilfen für Staaten wie Italien einen Keil zwischen die europäischen Nationen treibt, während Brüssel debattiert und die Nachbarn knausern. Daß die Beliebtheit der EU gegenwärtig im freien Fall befindlich ist und einzelne italienische Verwaltungen sogar schon die chinesische Flagge anstelle der europäischen hissen, ist wohl verständlich. Auch der zu erwartende gewaltige Rückgang der europäischen und vielleicht auch US-amerikanischen Wirtschaft dürfte China massiv in die Karten spielen.

Doch so wichtig die Kritik an der EU und so unaufhaltbar eine informelle chinesische Welthegemonie auch ist: Wir dürfen nicht vergessen, daß eine langfristige Rückkehr zum europäischen Nationalstaat, wie gewisse Romantiker sie vertreten, unter den Bedingungen des 21. Jh.s gravierende Folgen haben würde, selbst für die größeren Nationalstaaten: Europa würde rasch zum Schlachtfeld des „Great Game“ zwischen den neuen globalen Weltmächten und jeglichen Status als Akteur verlieren. Wirklich zielführend ist daher nur, wie ich es mit meinen Mitautoren in „Renovatio Europae“ (2019) vertreten habe, der Kampf um eine radikale Reform oder gar einen kompletten Neubau der europäischen Institutionen, wenn nicht im Westen, dann zumindest im Osten – ein Kampf, der bislang nur wenig Aussicht auf Erfolg hatte, nunmehr aber, wo alles im Fluß ist und eine Wirtschaftskrise sondergleichen zu nahen scheint, ungeahnte Perspektiven erhält, zumindest auf mittlere und lange Sicht hin.

Freie Welt:
Was denken Sie, was werden die Historiker kommender Jahrzehnte über die Corona-Krise sagen?

David Engels: Die Coronavirus-Krise wird wohl neben 1945 und 1989 als der nächste große Einschnitt in der Geschichte Europas betrachtet werden müssen, als Beginn der entscheidenden Krisenphase in der neueren Geschichte unseres Kontinents – nicht etwa aufgrund der Schwere der Seuche selbst, sondern vielmehr ihrer wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen. Viele Denker spüren bereits seit Jahren, daß wir eine Art „Fin de siècle“ erleben, nämlich die letzten müden Ausläufer der Nachkriegsordnung, und daß früher oder später ein Auslöser jenes hochgefährlichen Konflikt- und Veränderungspotentials erscheinen würde, das sich seit Jahrzehnten überall angesammelt hat. Dieser Auslöser ist jetzt da.

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Hajo

Nun wollen wir aber nicht so schamlos übertreiben, denn das Virus ist sicherlich gefährlich, aber das mit der Pest, der spanischen Grippe, den Pocken oder mit HIV und Malaria zu vergleichen hinkt gewaltig und die zerstörerische Kraft wie 1914 und 1938 hat es ja auch nicht annähernd erreicht.
Natürlich hat trägt er gewisse Imponderabilien in sich, aber der tödliche Ausgang bei vielen hält sich sehr in Grenzen und aussortiert werden die meisten nur bedingt durch ihr Alter und Vorerkrankungen und bezogen auf die Zahl der Opfer haben die Regierungen einfach überzogen, weil sie in ihrer eigenen Hysterie, Ratlosigkeit und politischem Überlebenskampf ein falsches Zeichen gesetzt haben. Das nennt man den Wald abbrennen um die vermuteten Räuber darin zu eliminieren und ist eine Taktik von Leuten, die ihr Geschäft nicht beherrschen und mehr Angst vor der eigenen Courage haben als sie vorgeben. Das was die zu diesem Anlaß machen, wird uns noch teuer zu stehen kommen, aber nicht in Bezug auf die Gesundheit, sondern auf den Niedergang der Wirtschaft, der in wenigen Wochen zu den Räubereien führen könnte, was sie eigentlich verhindern wollten und deshalb diese sinnlosen Beschränkungen und das die Bürger sich so was gefallen lassen ist einmalig, die springen auch noch aus dem Fenster, wenn es der Gesundheit angeblich dienlich ist, solche Psychopathen.

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