Prof. Dr. Dr. Hans-Otto Thomashoff Psychiater und Kunsthistoriker

Aggression:Versuchung des Bösen - Interview mit Prof. Thomashoff

"Versuchung des Bösen – So entkommen wir der Aggressionsspirale" - Peter Schipek im Gespräch mit Prof. Dr. Dr. Hans - Otto Thomashoff

"Wohin wir auch schauen: Krieg, Gewalt und Zerstörung.
Das Böse hält die Menschheit seit jeher in Atem und scheint fortwährend neue Nahrung zu bekommen. Bleiben wir dieser Dynamik für immer ausgeliefert? „Nein“, sagt der Psychoanalytiker Hans - Otto Thomashoff und rüttelt mit seinen Erkenntnissen an unserem gewohnten Denkbild. Denn radikal neue Denkansätze zeigen,wie wir der Aggressionsspirale entkommen können. Ein Schlüsselfaktor dabei ist die Umwertung von Aggression. Wird sie nicht ausschließlich destruktiv gesehen, sondern auch ihr konstruktives Potenzial anerkannt, so besteht die Aussicht, dass zerstörerische Aggressivität sich selbst und anderen gegenüber durch neue und bessere Handlungsstrategien ersetzt werden kann."

Dr. phil., Dr. med. Hans-Otto Thomashoff ist Psychiater, Psychotherapeut und Psychoanalytiker in eigener Praxis sowie promovierter Kunsthistoriker. Er ist Ehrenmitglied der World Psychiatric Association und Präsident der dortigen Sektion für Kunst und Psychiatrie, sowie Verfasser zahlreicher Publikationen, u.a. auch begeisterter Krimi-Autor. Er lebt in Wien.

Veröffentlicht:
von

Peter Schipek: Aggression hat einen schlechten Ruf. "Du bist aggressiv" - für viele Menschen eine eindeutig
negative Bewertung. Sie zeigen uns in Ihrem Buch, dass es eine positive Seite von Aggression gibt. Ist Aggression auch ein Weg sich selbst besser kennen zu lernen?

Hans-Otto Thomashoff: Aggression ist ein Teil unserer ganz normalen psychischen Ausstattung und damit Teil jeder Selbsterkenntnis. Wenn ich mir meine Gefühle eingestehe, bin ich besser in der Lage, sie
auch nutzen zu können, anstatt ihnen mehr oder weniger ausgeliefert zu sein. Prinzipiell ist Aggression eine evolutionär sinnvolle Errungenschaft als Reaktion auf Frustration. Sie dient der Überwindung von Hindernissen jedweder Art und ist damit vom Ursprung her konstruktiv.
Kein Mensch ist frei von ihr. Doch es bleibt eben die Frage, wie es zur Entstehung von übermäßiger, von destruktiver und pathologischer Aggression kommt.

Peter Schipek: Viele Wissenschaftler sind seit einiger Zeit bemüht, Erklärungen für die wachsende Aggressions- und Gewaltbereitschaft zu finden. Es gibt umfangreiche Veröffentlichungen, die sich mit dieser Thematik auseinandersetzen. Sie zeigen in Ihrem Buch, was man unter Aggression versteht, wie sie sich entwickelt und wie man der Aggressionsspirale entkommt.
„Der Schlüssel dabei ist die Umwertung von Aggression. Wir müssen das positive Potenzial der Aggression anerkennen.“ Wie lässt sich der konstruktive Umgang mit Aggression lernen? Wie kann uns konstruktive Aggression vorwärts bringen?

Hans-Otto Thomashoff: Grundsätzlich gehe ich davon aus, dass zwei wesentliche Bausteine unsere Psyche formen: erstens die Beziehungen, die wir erleben, und zweitens unser Bedürfnis nach Entfaltung,
nach dem Austesten unserer Grenzen: Wie weit kann ich gehen? Warum sonst klettert jemand ohne Sauerstoffgerät auf einen 8000er? Die ganze Menschheitsgeschichte, unsere kulturelle Evolution, lässt sich als Ausdruck dieses Strebens verstehen. Wird dieses fundamentale Grundbedürfnis nach Entfaltung gehemmt, so reagieren wir mit Aggression, und wenn die sich dann aufstaut, entstehen Gewaltpotenziale – Stichwort
Jugendarbeitslosigkeit. Erkenne ich dieses Grundbedürfnis hingegen an, so kann ich sowohl
als Einzelner ganz gezielt in meinem Alltag für mehr Zufriedenheit sorgen, als auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene Rahmenbedingungen hierfür schaffen. Dort aber, wo sich Aggression angestaut hat mit dem Potential destruktiv zu werden, sollte
ich therapeutisch ansetzen. Unsere Hirnstruktur ist und bleibt zumindest in Teilen modifizierbar. Unverzichtbares Vehikel für ihre Beeinflussung ist die menschliche Beziehung. Am Spiegelzellsystem konnte belegt werden, wie fundamental das menschliche Gehirn
zwischen belebten und unbelebten Objekten unterscheidet. Da zudem bekannt ist, dass
Gefühle dann einer Bearbeitung zugänglich sind, wenn sie aktiviert werden, lautet die Konsequenz: Aggression zum Thema machen, etwa in einer Therapie einem aggressiven Patienten deutlich machen, dass man ihn versteht und zugleich klar in seinem Verhalten zu
begrenzen. Für mich ist hier der Vergleich mit einem Kleinkind hilfreich, dem, wenn es einen Wutanfall hat, sinnvollerweise signalisiert wird: "Ich verstehe dich, teile deine Wut aber nicht und weiß außerdem, dass sie vorübergehen wird."

Peter Schipek: Vielen Menschen mangelt es an „positiver Aggression“. Sie verdrängen ihre Wut, ihren Ärger, ihre Ohnmacht. Sie haben beschnittene oder keine Handlungsspielräume, würden am liebsten auf den Tisch hauen – nach dem Motto: „Mit mir nicht“. Aber sie wissen genau: im Zweifel würden sie sich nur Konflikte einhandeln. Fordert verdrängte Aggressivität nicht einen hohen Preis? Wie können Menschen in solchen Situationen handeln?

Hans-Otto Thomashoff: In der Tat ist bei andauernder Verdrängung von Aggression ein hoher Preis zu zahlen,
nämlich der schwerer Depressionen, die nicht umsonst heutzutage so zugenommen haben, dass die WHO sie inzwischen als kostspieligste aller Erkrankungen ansieht.
Ich zitiere hierzu führende neurobiologische Psychiater: "Zwischen einer fehlerhaften Funktion des serotonergen Systems und impulsiver Aggression konnte eine Verbindung nachgewiesen werden. Dies betrifft sowohl die Autoaggression, wie etwa bei Suizidversuchen, als auch Fremdaggression, etwa Wutausbrüche oder Gewalt." Es kommt noch klarer: Es "liegen Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen serotonergen Defiziten
und impulsiver Aggression vor." (Siever, L. J.) Exakt dasselbe neurobiochemische Defizit findet sich also bei Aggression und Depression! Entsprechend "ließ sich in Tierversuchen zeigen, dass [die] Zerstörung serotonerger Neurone zu ungehemmter Aggression führt." ( Köhler, T )
Hier wird verständlich, warum in der Psychiatrie die vermeintlich überraschende Beobachtung gemacht wird, dass Aggressivität und Ärgerattacken häufig begleitend zu Depressionen auftreten. Beide sind ursächlich identisch und lediglich ihrer Ausrichtung nach verschieden (gegen sich oder gegen andere). Hochbrisant sind in diesem Zusammenhang auch neueste Forschungsergebnisse, die den Schluss nahe legen, dass die medikamentöse
Behandlung einer Depression die Rückfallwahrscheinlichkeit erhöht (!); eine angemessene
Psychotherapie hingegen, indem sie an den ursächlich verantwortlichen Nervenzellnetzwerken ansetzt und darüber nachweislich auch den Serotoninspiegel
normalisiert, das Risiko einer erneuten Erkrankung senkt, wie jüngst belegt werden konnte. Doch die Bedeutung der Aggression für das Verständnis psychischer Erkrankungen reicht noch weiter. Neben Essstörungen ("Mir ist zum Kotzen") können auch Panikattacken und Angstanfälle, auf psychoanalytischen Modellen fußend, zumindest partiell als Äußerungsform von Aggression verstanden werden. Sie wird in diesem Fall unbewusst auf die Umwelt
projiziert, wodurch der folgenschwere unbewusster Kreislauf in Gang kommt, den wir schon beim Menschen in der Masse kennen lernen konnten: Wenn die anderen so wütend sind, wie ich selbst es bin, dann muss ich verdammt auf der Hut sein. Außerdem ärgert mich das,
wodurch meine Wut noch größer wird (mit dem Ergebnis, dass auch das Ausmaß meiner Projektion zunimmt). Die Auflösung einer solchen Dynamik kann einen Patienten (nach eigener Erfahrung in den meisten Fällen) von seiner quälenden Symptomatik befreien.

Peter Schipek: Ist konstruktive Aggressivität also ein „Kraftwerk“ für uns? Brauchen wir sie, um für unsere Ziele zu kämpfen, uns zu behaupten?

Hans-Otto Thomashoff: Wir brauchen Räume oder Spielwiesen, um uns entfalten zu können, und Aggression ist, wie ich beschrieben habe, die Kraft, die uns hilft, Hindernisse bei unserem Streben nach Entfaltung zu überwinden. Sie ist demnach primär eine konstruktive Kraft, die erst destruktiv wird, wenn sie ihren eigentlichen Zweck nicht erfüllt und sich quasi frustriert anstaut.

Peter Schipek: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass bereits vorgeburtliches Erleben in unserer Hirnstruktur
gespeichert wird und Stress vor der Geburt zeitlebens zu einem höheren Aggressionspotenzial führt. Lassen sich manche Probleme von Kindern, Jugendlichen und
Erwachsenen erst verstehen und lösen, wenn wir auch die im Mutterleib gemachten Erfahrungen berücksichtigen?

Hans-Otto Thomashoff: Das ist in der Tat ein ganz wesentlicher, bislang komplett unbeachteter Bereich.
Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass eine Mutter, die sich in der Schwangerschaft in extremen Stresssituationen befindet, ein latent aggressiveres Kind haben wird. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass es auf unserem Planeten Gebiete gibt, in denen immer wieder
Kriege aufflammen, könnte das eine mögliche Mitursache dafür sein. Wie das? Auf der Basis der genetischen Vorgaben entsteht das anatomische Grundgerüst des Gehirns im Mutterbauch, wo sich unmittelbar daran anschließend spätestens ab dem dritten
Schwangerschaftsmonat außenreizabhängig (!) das eigentliche Nervenzellnetzwerk auszubilden beginnt. Ohne Außenreize fände keine Vernetzung statt. Als Beispiel hierzu sei auf blind geborene Kinder verwiesen, deren ZNS, wenn nicht bis zum sechsten Lebensjahr
eine Korrektur der Sehstörung erfolgt, unweigerlich blind bleiben, weil keine entsprechende Vernetzung im Gehirn ausgebildet worden ist. Belege für vorgeburtliche
Wahrnehmungsaktivitäten von Feten liegen vielfältig vor: im fünften Monat kann der Fötus schmecken, im sechsten hören, im siebten sehen. Auch der Homunkulus ist Ausdruck des frühen außenreizabhängigen Aufbaus der Hirnstruktur. Die in der sensiblen Hirnrinde
repräsentierte vermeintlich unanatomische Nähe von Gesicht und Händen sowie Füßen und Becken spiegelt schlicht die Position des Fetus wider. Schon hier beginnt hirnbiologisches Lernen. Jede neue Information kann im Gehirn nur auf der Basis der bereits bestehenden Struktur
gespeichert werden, modifiziert diese, wird aber auch von ihr beeinflusst. Daraus folgt nicht nur, dass frühzeitig angelegte Hirnstrukturen das spätere Lernpotenzial in sämtlichen Bereichen bestimmen, sondern auch, dass frühe Einflüsse potenziell stärker in ihren
Auswirkungen sind. Neurochemische Basis übermäßiger Aggression ist die Aktivierung aggressiver Gene durch
Kortisol, das heißt Stress resultiert in gesteigerter Aggressivität in der Hirnstruktur. Das gilt nicht nur für das erwachsene oder das kindliche Gehirn, sondern eben bereits vorgeburtlich und beeinflusst so das angeborene (aber nicht notwendigerweise genetisch verursachte)
Temperament.

Peter Schipek: Wenn wir also den Satz „Die Zukunft sind unsere Kinder“ ernst nehmen, dann gibt es keine
wichtigere Aufgabe, als sich um die Verbesserung der Lebensbedingungen für unsere Kinder zu kümmern. Das gilt dann aber nicht erst für die Phase der frühen Kindheit, sondern auch schon für die vorgeburtliche Entwicklung.

Hans-Otto Thomashoff: Absolut ja. Die Vermeidung von übermäßiger Stressbelastung in der Schwangerschaft und
während der Geburt scheint mir dringend geboten, wenn sich langfristig fundamental etwas ändern soll. Das reicht von Extrembelastungen für die Mutter, sei es in Beruf, Partnerschaft oder durch äußere Faktoren wie Kriege oder Katastrophen, bis hin zu den möglichen Auswirkungen vorgeburtlicher invasiver Untersuchungsmethoden beziehungsweise von Eingriffen in den Geburtsverlauf selbst. Man sieht hier gut, wie zwar einzelne Einflussfaktoren aus heutiger Sicht noch absolut
utopisch sind, jedoch andere konkrete Maßnahmen sich leicht umsetzen lassen würden.

Peter Schipek: Aggressionen von Kindern werden von Eltern und Erziehern häufig als störend oder bedrohlich erlebt. Wenn sich Kinder wütend, zerstörerisch, rücksichtslos, beleidigend oder provokant verhalten, dann sind Erwachsene oft verunsichert und stehen dem Problem hilflos gegenüber. Sie wissen nicht, wie sie mit der Aggressivität ihrer Kinder umgehen sollen. Was
brauchen Kinder, um eine gesunde, konstruktive Aggression zu lernen?

Hans-Otto Thomashoff: Wie auch immer die Mutter mit der frühen Aggression ihres Kindes umgeht, die Interaktion zwischen beiden wird in der Hirnstruktur des Kindes verankert, und sein zukünftiges Handeln
erfolgt auf der Basis dieser verinnerlichten Muster. Das Wutpotential als Kraft zur Frustrationsüberwindung und zur Bestätigung der eigenen Wirkmächtigkeit wird auf der
Basis dieser frühen Beziehung gestaltet und entwickelt sich zu einem weitgehend unbewussten Modell von Aggression als Teil der eigenen Identität, über dessen
Handlungsvarianten im optimalen Fall frei verfügt werden kann. Das heißt, die Eltern sind unweigerlich Vorbild für den Umgang des Kindes mit seiner Aggression.
Da eben alle späteren Erfahrungen auf den vorangegangen aufbauen, und da die wesentlichen Hirnstrukturen bis zum sechsten Lebensjahr etabliert sind, verwundert es nicht, dass die frühen Aggressionsformen und Bindungsmuster auch im Erwachsenenalter erhalten bleiben. So wurde in der Bindungsforschung belegt, dass früh unsicher gebundene Kinder im Vergleich zu sicher gebundenen als Erwachsene eine deutlich höhere Neigung zu feindseliger Aggression aufweisen. Ja, es konnte sogar eine regelrechte Hochrisikogruppe für die Ausbildung späterer destruktiver Aggression identifiziert werden: die Mischform der
desorganisiert vermeidend gebundenen Kinder. Bei ihnen ist die Neigung, ihre Umwelt im Zweifelsfall aggressiv zu interpretieren, besonders ausgeprägt mit dem daraus
resultierenden Teufelskreis aus sich selbst bestätigenden Erfahrungen. Das Verständnis solcher Zusammenhänge eröffnet die unschätzbar wichtige Chance auf
mögliche Strategien, die der Entstehung schwerer pathologischer Aggression langfristig vorbeugen könnten, denn eine weitere Erkenntnis der Bindungsforschung verweist darauf, dass Bindungsmuster von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden. Es konnte bewiesen werden, dass das Vorliegen sicherer oder unsicherer Bindungsmuster zwischen Eltern und ihren Kindern in hohem Maß übereinstimmt, was nach den vorangegangenen Ausführungen nicht wirklich überraschen dürfte. Auch die Übertragung traumatischer
Erfahrungen von einer Generation auf die nächste konnte belegt werden, inzwischen sogar bis in die übernächste Generation. Die psychische Verflechtung von Trauma als
überwältigendem Stressereignis und Aggression ist ausgesprochen eng. Daraus lässt sich schließen, dass eben auch aggressives Verhalten, insbesondere destruktive Aggression, in einem immer aufs Neue angestoßenen Teufelskreis ganz automatisch an nachfolgende Generationen weitergegeben wird, solange es nicht zu einer Durchbrechung dieses fatalen Musters kommt.
Peter Schipek: Neben konstruktivem steckt ja in jedem Menschen auch destruktives Potenzial. Wie lässt sich destruktive Energie in positive Kraft umwandeln?

Hans-Otto Thomashoff: Ich bin mir da inzwischen nicht mehr so sicher, ob wirklich in jedem Menschen auch ein
destruktives Potenzial stecken muss. Um das zu erklären, muss ich ein wenig weiter zu dem eben gesagte ausholen und auf die Verbindung zwischen Trauma und Aggression eingehen, da ich hier eine, wenn nicht die zentrale Ursache für pathologische Aggression sehe:
Die charakteristische Variante eines Stressexzesses schlechthin ist das akute psychische Trauma. Schon bei Erwachsenen, die einer traumatischen Belastung ausgesetzt sind, lassen sich dauerhafte Folgen finden. Die unweigerlich heftige emotionale Reaktion auf das
auslösende Ereignis wird oft abgespalten und ruht dann im Unbewussten, um irgendwann an die Oberfläche zu treten. Selbst Jahre später noch können dann schon einzelne mit dem Trauma verbundene Reize (Bilder, Geräusche, Gerüche) zu einem Auslöser massiver Angst
und Panik werden, ohne dass auf den ersten Blick ein Zusammenhang zwischen Anlass und Reaktion ersichtlich ist. Mehr noch: Unter Extremstress kann es selbst zu einem völligen Zusammenbruch der Informationsspeicherung kommen. Das im Anschluss an die akute Mobilisierung mit Adrenalin und Noradrenalin massiv ausgeschüttete Stresshormon Kortisol
bewirkt in exzessiv hohen Konzentrationen eine echte Strukturauflösung im Gehirn. Als Folge hiervon lassen sich in Bild gebenden Verfahren regelrechte Defekte im
Informationsverarbeitungszentrum der Hirnstruktur nachweisen. Scheinbar zusammenhanglos werden so ausschließlich die emotionalen Inhalte des traumatischen
Erlebnisses dauerhaft behalten; das Ereignis selbst ist vergessen! Doch es kommt noch ärger: Neben anderen Neurotransmittern werden zusammen mit dem
Kortisol Endorphineausgeschüttet. Zwar macht das wieder einmal Sinn, da akut das Schmerzempfinden ausgeschaltet, die bewusste Wahrnehmung gedämpft und die Motivation stabilisiert wird. Langfristig jedoch kann so eine regelrechte Sucht entstehen. In dem
unbewussten Sog danach, wieder den Endorphinkick zu bekommen, neigen schwer traumatisierte Personen dazu, Gefahrensituationen mit dem Risiko eines erneuten Traumas aufzusuchen. Deshalb zieht es nicht nur Täter zur erneuten Tat hin, wenn sie nicht therapiert
werden, sondern auch Opfer unterliegen dem fatalen Drang, sich wieder und wieder traumatisieren zu lassen. Die Neurobiochemie der Sucht treibt sie an, und so verwundert es umgekehrt auch nicht, dass Traumaopfer ein erhöhtes Risiko für Suchterkrankungen
aufweisen. Auch Drogen geben den ersehnten Kick. Überrascht es da, dass sich bei Drogenabhängigen häufig Hinweise auf traumatische Kindheitserfahrungen finden?
Langfristiges neurobiochemisches Korrelat einer posttraumatischen Belastungsstörung ist eine erhöhte Empfindlichkeit des Gehirns gegenüber Kortisol, also gegenüber Stress. Unter normalen Bedingungen bewirkt der körpereigene Regelkreislauf, dass der Kortisolspiegel
von nun an besonders niedrig gehalten wird, ein leichter Auslöser kann jedoch jederzeit eine massive Stressreaktion bewirken. Demgegenüber gehen Depressionen mit einer Erhöhung von Kortisol im Blut einher. Die Übersensibilisierung gegenüber ansonsten normalen Kortisolwerten und damit gegenüber ansonsten normaler Stressbelastung könnte folglich eine Ursache für die erhöhte Depressions- und damit auch Aggressionsneigung von Traumaopfern sein.
Aus psychodynamischer Sicht schließlich werden die beiden Eckpfeiler der psychischen Entwicklung, Beziehung und Wirkmächtigkeit, durch frühe Traumen in ihren Grundfesten erschüttert. Beziehung, real oder verinnerlicht, versagt dabei, Schutz zu bieten und die
Katastrophe zu verhindern; das Vertrauen in ihre Sicherheit geht verloren. In gleicher Weise unterwirft das traumatische Ereignis sein Opfer einer totalen Handlungsunfähigkeit. Nicht selten streben daher in der Kindheit Traumatisierte ein Leben lang danach, sich ihre
Wirkmächtigkeit immer aufs Neue zu beweisen. Nur in konstantem Aktionismus bleibt sie greifbar. In Verbindung mit der Wirkung der Endorphine kann ein solcher Bestätigungsdrang regelrecht Suchtcharakter gewinnen und sich dadurch verselbständigen. Das Spektrum reicht hierbei von unstillbarer Gier nach Anerkennung bis hin zu ungehemmter, zerstörerischer Randale und sadistischem Mord, wenn andere Ausdrucksformen scheitern. Das frühere Opfer wird so selbst zum Täter. Dass auf diese Weise Traumen unbewusst und wie von selbst von einer Generation an die
nachfolgende weitergegeben werden können, leuchtet ein und ist vielfach belegt. Der eigentlich evolutionär sinnvolle Quantensprung in der Wissensvermittlung durch direkte Weitergabe unabhängig von der genetischen Vererbung resultiert hier in fatalen Konsequenzen. Zur Veranschaulichung zitiere ich eine ihr Kind misshandelnde Mutter, die von sich sagte. "Ich fühlte mich in meinem ganzen Leben nie wirklich geliebt. Als das Kind
auf die Welt kam, dachte ich, es würde mich lieben, aber als es die ganze Zeit nur schrie, bedeutete das, es würde mich nicht mögen, also schlug ich es." Eine solche Dynamik der fortgesetzten frühkindlichen Traumatisierung könnte ein regelrechtes "Heranzüchten" pathologisch aggressiver Menschen zur Folge haben, denn wir erinnern uns: Traumen stellen unbewältigten Stress dar, und dieser bildet die Grundlage für
übermäßige Aggression. Allerdings müsste frühkindliche Traumatisierung hierzu sehr verbreitet sein. Ist sie das? Die leider schockierende Antwort lautet eindeutig: Ja!
Schätzungen zur aktuellen Häufigkeit von Kindesmissbrauch und Kindesmisshandlung sind
schlichtweg erschreckend. Eine besonders sorgfältige Studie aus Deutschland, kommt 1997 zu dem Schluss, dass mindestens 8,6% aller Frauen und 2,8% aller Männer Opfer von sexuellem Missbrauch waren. Das ist wohlgemerkt eine absolute Mindestschätzung beim
Herausrechnen sämtlicher möglicher Fehlerquellen. Weniger zurückhaltende Annahmen liegen darüber, meist deutlich. So ergaben retrospektive Befragungen in Großbritannien bei Männern, dass 20 - 30% von ihnen körperlichen Misshandlungen ausgesetzt gewesen
waren, bei Frauen, dass 25 - 60% Opfer sexuellen Missbrauchs waren; in Deutschland lauten die Zahlen allein für sexuellen Missbrauch: Männer 10-15%, Frauen 20-30%. Eine Anhörung im Mainzer Landtag (1989) ergab, dass etwa "jede vierte Frau vor dem 14.
Lebensjahr Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch in der Familie gemacht habe" (Dulz, B.). Die Konsequenz aus dieser Erkenntnis lautet: Traumen werden über Generationen hinweg in ewigen Opfer-Täter-Ketten weitergereicht, wenn es nicht zu einer Unterbrechung dieses Kreislaufs kommt. Hier sehe ich die Basis der menschlichen Destruktivität, die damit nicht
notwendigerweise unserer Natur entspricht.

Peter Schipek: Einer der Schlüsselpassagen in Ihrem Buch ist das Thema "Wirkmächtigkeit". Ein Zitat daraus: "Dieses Grundbedürfnis, etwas bewirken zu können, ist das zentrale Element überhaupt zum Verständnis der menschlichen Aggression. Hat ein Mensch das
Gefühl, ihm wird diese Wirkmächtigkeit genommen, so reagiert er ausgesprochen aggressiv.Mit der Unüberwindbarkeit von Hindernissen können wir uns eher abfinden als mit dem Gefühl, unserer Handlungsfähigkeit beraubt zu werden." Wie können wir selbstwirksames
Handeln schon im Kindes- und Jugendalter ermöglichen und fördern?

Hans-Otto Thomashoff: Lassen Sie mich darauf mit einem Gegenbeispiel antworten: Es ist heutzutage ein großes Problem, wenn Eltern aufgrund ihrer beruflichen Verpflichtungen so stark eingespannt sind, dass sie ihre Kinder tagtäglich stundenlang vor dem Fernseher oder vor einem Videospiel absetzen und sich selbst überlassen. Die erlernen dann passiven Konsum, und ihr Bedürfnis,
selbst etwas tun können, wird im Keim erstickt. Zugleich speichern sich die Bilder von Gewalt nachweislich im Gehirn als potenziell verfügbares Verhalten ab. Die Aggressionen über die reale Hemmung werden nicht ausgelebt stauen sich an, werden innerpsychisch abgespalten und zugleich mit Gewaltbildern gefüttert. Eins solche Spaltung ist typisch für das Denken von
Amokläufern. In der realen Welt sind sie meist sehr angepasst und aggressionsgehemmt, in ihrer Phantasiewelt hingegen tobt das Aggressive, bis es dann eines Tages in die Realwelt hereinbricht.
Genau das Gegenteil ist es, was Kinder brauchen. Natürlich ist mir klar, dass die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen hier reale Grenzen aufzwingen. Aber die gehören diskutiert genauso wie die propagierten Werte: Ist wirklich der Zweit oder Drittwagen
wichtiger – man entschuldige angesichts der „Krise“ diesen Hinweis – oder Zeit für die eigenen Kinder? Die brauchen ihre Eltern als Vorbilder – wie ich beschrieben habe, wiederholen sie unweigerlich deren Verhaltensmuster. Zugleich benötigen sie Räume, in
denen sie sich frei entfalten, spielerisch ihre Wirkmächtigkeit erleben können. Dabei ist, wenn ich mir die Erfahrung mit meinen eigenen Kindern anschaue, nichts befriedigender, als gemeinsam mit den Eltern Aufgaben zu bewältigen und dabei die Bestätigung zu
bekommen: "Das kannst du schon." Zum Beispiel lieben es meine Kinder, gemeinsam mit mir zu kochen.
Kocht dann einmal aufgrund von realen Frustrationen die Wut hoch, gilt es wieder ein Stück weit Vorbild zu sein und, wie ich es schon sagte, deutlich zu machen: "Ich verstehe dich, teile deine Wut aber nicht und weiß außerdem, dass sie vorübergehen wird." So werden selbst
heftige Gefühlsstürme mit der Zeit verdaut und es bleibt Raum im Leben für die evolutionär wahrscheinlich jüngere Kraft, die unser Handeln bestimmt, die Liebe, aber die ist ein eigenes weites Feld.

Das Interview führte Peter Schipek. Zu seiner Website: Lernwelt.at

Prof. Dr. Dr. Thomashoff im Netz: Thomashoff.de

Zur Rezension

Foto: Thomashoff

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