„Zu viel Fleisch“. Der blutige Januar 1991

Im Schatten der Aktion „Desert Storm“ spitzten sich 1991 die Ereignisse im Baltikum zu. Moskau wollte die baltischen Länder wieder unter Kontrolle bringen – auch mit Panzern und Gewalt. Heute wird der 13. Januar in Litauen als „Tag der Verteidiger der Freiheit“ begangen.

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Vor fünfundzwanzig Jahren blickte die Welt gebannt zum Persischen Golf. Im Sommer zuvor hatte der irakische Diktator Saddam Hussein den Nachbarstaat Kuweit besetzt. Alle Verhandlungen über eine friedliche Räumung des Landes hatten nicht gefruchtet, und so machte der Sicherheitsrat der UNO den Weg frei für eine gewaltsame Befreiung des Scheichtums. Am 12. Januar 1991 beschloss der Kongress der USA, den Irak aus Kuwait zu vertreiben. Am 17. Januar begann die Aktion „Desert Storm“ – der von den US-Truppen angeführte erste Golfkrieg.

In der ersten Januarhälfte spitzten sich auch die Ereignisse im Baltikum zu. Sicher nicht zufällig versuchte Moskau die Ablenkung durch den Konflikt im Mittleren Osten zu nutzen: Parallel zu den unmittelbaren Kriegsvorbereitungen am Golf wollte man die baltischen Länder wieder unter Kontrolle bringen – auch mit Panzern und Gewalt.

1990 hatten Estland, Lettland und Litauen ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion erklärt, Litauen als erster der drei Staaten am 11. März. Die Quittung kam prompt: Ab April verhängte Moskau eine mehrmonatige Wirtschaftsblockade. Die erste demokratisch legitimierte Regierung der Nachkriegszeit unter Kazimira Prunskienė musste in Teilen die Umsetzung der Unabhängigkeit aussetzen. Der Zug Richtung voller Souveränität wurde verlangsamt, aber nicht gestoppt.

Die sowjetische Führung zog auch noch andere Register der Repression. Im Winter begannen im Baltikum stationierte Einheiten der Roten Armee mit verstärkter Zwangsrekrutierung, dem Einziehen von Tausenden litauischen Wehrpflichtiger. Viele entzogen sich diesen Befehlen, manche wurde aber auch auf den Straßen aufgegriffen und dann gen Osten verbracht.

Natürlich versuchte man auch über treue Kommunisten vor Ort zu wirken. Die litauische kommunistische Partei hatte die letzten Verbindungen zur KPdSU im Dezember 1990 gekappt. Die Partei, seit Ende Oktober 1989 unter Führung von Algirdas Brazauskas, dem späteren Präsidenten und Premier, nannte sich um in „Demokratische Arbeitspartei Litauens“ (LDDP). Daneben gab es aber auch noch die Altkommunisten, die natürlich für einen Putsch bereit standen. Und neben ihnen die prosowjetische „Jedinstvo“-Bewegung (russ. „Einheit“). Sie bestand vor allem aus russischsprachigen Arbeitern großer Staatsbetriebe, die bei einem Austritt aus der UdSSR mit Nachteilen rechnen mussten. Sie ließen sich von Moskaus wunderbar instrumentalisieren.

Die Lage spitze sich Anfang Januar zu. Die Regierung sah sich zu massiven Preiserhöhungen gezwungen. Tausende „Jedinstvo“-Anhänger demonstrierten vor dem Parlament in Vilnius und versuchten es am 8. Januar zu stürmen. Moskaus hatte offensichtlich Informationen über den Konflikt zwischen Parlament unter Führung von Vytautas Landsbergis und der Regierung, den es auszunutzen galt. Tatsächlich stimmte das Parlament ein paar Tage später für die Rücknahme der Preiserhöhungen, Prunskienė trat mit ihren Ministern am selben Tag zurück.

In dieses Durcheinander hinein verkündigte Michail Gorbatschow am 10. Januar ein Ultimatum an die litauische Führung: Die Sowjetverfassung sei voll anzuerkennen. In Litauen dachte man gar nicht daran, diesem Befehl zu gehorchen. Mehr und mehr Armeefahrzeuge rollten in den Tagen über die Straßen von Vilnius und anderer Großstädte. Auf den Flughäfen von Šiauliai, Jonava und Vilnius trafen zusätzliche Einheiten wie Luftlandetruppen ein.

Am 11. wählte das Parlament eine neue Regierung mit Albertas Šimėnas an der Spitze. Parallel rief ein Führer der Altkommunisten ein „Rettungskomitee der Litauischen Sowjetrepublik“ aus. In Vilnius besetzten sowjetische Einheiten strategisch wichtige Objekte wie das Pressehaus. Die drohende Gefahr nahend wurde Außenminister Saudargas nach Polen geschickt, damit ein führendes Regierungsmitglied einer möglichen Gefangennahme entgehen könnte. Botschafter Stasys Lozoraitis in Washington wurde bevollmächtigt, bei einem erfolgreichen Moskauer Putsch für ein freies Litauen zu sprechen.

Am Abend des 12. Januar stürmten die Armee-Einheiten mit viel Geballer das TV- und Radiozentrum in der Hauptstadt. Die Nachrichtensprecher schlossen sich im Studio ein und sendeten live so lange es nur ging. Am frühen Morgen des 13. begann der Sturm des Fernsehturms in Vilnius. 150 Mann der Division aus Pskov sowie 29 Mann der Anti-Terror-Einheit „Alfa“ gingen nicht zimperlich vor. Gerade hier floss nicht wenig Blut. Insgesamt wurden mehrere Hundert der Verteidiger des Turms und anderer Gebäude verletzt. Vor allem am Turm gab es Tote, die meist unter die Räder der Panzer geraten waren. 14 Litauer ließen in der Nacht ihr Leben oder starben an den Folgen. Viele waren um die 20, darunter eine junge Frau. Nach Loreta Asanavičiūtė sind heute Straßen und Schulen benannt.

Premier Šimėnas war am 12./13. abgetaucht – niemand fand ihn. Das Parlament, das Herz des freien Landes, wählte eine neue Regierung (Šimėnas ging als Drei-Tage-Premier in die Geschichtsbücher ein). Das Parlamentsgebäude im Zentrum der Stadt war auf einen Sturm vorbereitet und so gut es ging gesichert: Barrikaden, Betonsperren, Drahtverhaue, einige Hundert Verteidiger mit ein paar Gewehren, Molotow-Cocktails – und viel Mut und Idealismus. Vor allem aber waren Zehntausende aus der Stadt und dem gesamten Land zum Parlament gekommen, um das Symbol der Freiheit zu schützen. Der Sturm auf dies Gebäude blieb aus. Landsbergis berichtete von einem Gespräch mit einem KGB-Offizier in diesen Tagen. Warum habt ihr die Panzer auf das Parlament zufahren lassen?, so der Parlamentspräsident. „Zu viel Fleisch“, antwortete der Mann vom Geheimdienst. Nur ein äußerst blutiges Massaker hätte den Staatsstreich für Moskaus zum Erfolg gebracht.

Der Fernsehturm blieb noch eine Weile besetzt, aber der Putsch war gescheitert. Der 13. Januar markiert einen wichtigen Wendepunkt im Streben der Länder nach Unabhängigkeit. Das Volk hatte seinen unnachgiebigen Willen gezeigt, die Geschicke selbst in die Hand zu nehmen. Als das gleiche Muster etwa eine Woche später auch in Lettland scheiterte – auch dort gab es Tote zu beklagen –, war klar: das Baltikum gleitet der sowjetischen Spitze endgültig aus der Hand.

Übrigens ist bis heute ungeklärt, welche Rolle Gorbatschow im Einzelnen bei den Januarereignissen spielte. Schon ein paar Tage nach den Toten von Vilnius hieß es aus Moskau, der Chef des Kremls trage keinerlei Verantwortung. Wer weiß. In Litauen glaubt dies kaum jemand. Hätte der Staatstreich Erfolg gehabt, hätte Gorbatschow dies in jedem Fall gewiss freudig begrüßt.

Heute wird der 13. Januar in Litauen als „Tag der Verteidiger der Freiheit“ begangen.

Einen filmischen Überblick gibt dieser zweiteilige Film (jeweils 15 Minuten mit englischen Untertiteln):

www.youtube.com/watch

www.youtube.com/watch

Zuerst erschienen auf lahayne.lt

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