In solchen Situationen pflege ich – sofern gut ausgeschlafen und mental gefestigt – gelegentlich zurückzufragen, ob ich persönlich gemeint sei, schließlich sei ich ja, zumindest in der grammatikalischen Form der ersten Person Mehrzahl, mit angesprochen. Außerdem handle es sich bei der vorgebrachten Anschuldigung nach moralischen Wertmaßstäben um nichts Geringeres als um eine Sünde bzw. gleich um mehrere verschiedene Sünden beachtlichen Kalibers: Gier, Geiz, Verschwendung, Betrug, Umweltfrevel.
Meist löse ich mit meiner Frage erschrockenes Zurückweichen beim Gegenüber aus. Wortreich und beschwichtigend erfolgt der Rückzug aus der selbstgeschaffenen Verbalklemme: Nein, natürlich sei das so nicht gemeint, und auch auf sich selbst könne man diese Verurteilung nicht anwenden, obwohl ja die anderen, die ganz anderen, nicht wahr, nun ja und so weiter. Und schon wieder sind wir beim Umwelt&Gier-Thema gelandet. Der Frage, wer denn konkret und namentlich zum „Wir-Sündenbock“ erkoren sei, kann letztlich trotz weiterer Rückfragen nicht geklärt werden. Zu zahlreich entbieten sich diverse Fluchtwege in die Kammern der dunklen Abstraktion. Schließlich wisse doch jedermann, jedefrau und jedeskind, daß Unternehmen, Unternehmer, Bankster, Politiker etc. die Bösewichte seien.
Abspaltung des Bösen
Das ist eine Form der virtuellen Selbstgeißelung im 21. Jahrhundert, die Transformation der Sünde in den abstrakten Körper eines allgegenwärtigen wie unsichtbaren „Wir“. Auf diese Weise ist es jedem möglich, sich gleichzeitig ein- und ausschließen. Das erklärt, weshalb der mediengelenkte Bürger seine Empörung über die unhaltbaren Zustände, die angeblich „wir“ selbst heraufbeschworen haben, genießen kann. Alles befindet sich gleichzeitig innerhalb wie außerhalb unseres Selbst: der indolente 68er, der gewaltbereite Nazi, der hedonistisch-gierige Umweltverschmutzer, der geldgeile Bankzocker, der blaßkalte Machtmensch – all das ist „wir“. Und schuldbewußt klopft man sich selbst auf die Brust, ohne zu erkennen, wie absurd das ist, weil „wir“ eben doch „die anderen“ sind. Zu kompliziert?
Das Böse also ist abgespalten. Es existiert in einer anderen Welt. Die demokratische Mehrheit dieser, der realen Welt – gehirngewaschen bis zur Keimfreiheit und trotz staatlicher Beschulung erstaunlich erkenntnisresistent – unterwirft sich aus freiem Willen der politisch korrekten Behauptung, die Menschheit sei es, die durch ihr bloßes Dasein den Untergang der Welt verursache, weshalb die ganze Gesellschaft inclusive Großvater, Großmutter, Tante, Onkel, Bruder, Schwester, Sohn, Tochter, Hund und Katz’ nun Buße tun müsse. Die dem Mittelalter entlehnte Furcht vor dem in kürze drohenden Weltuntergang löscht jedes rationale Denken aus, da helfen weder Handy noch Internet. Lautstark rufen die Menschen nach Bestrafung ihrer selbst und hoffen auf diese Weise, in vorauseilendem Gehorsam dem Zorn der Götter zu entgehen. Das war schon immer ein frommer Wunsch, auch in jenen Zeiten, als die Götter noch kein Oberlippenbärtchen trugen. Und so wiederholt sich alles: die Menschen ängstigen sich vor dem Flackern der Gestirne, dem dumpfen Grollen aus dem Berginneren und dem Flirren der sommerlichen Warmluft - das alles halten sie für lebensgefährlich. Sie täten besser daran, sich diejenigen näher anzusehen, welche, in lässige Jeans oder edles Zwirnleinen gehüllt, von den virtuellen Kanzeln herab den Untergang der Welt predigen, den sie abzuwenden gekommen sind, wenn man ihnen nur willig folge.
Doch diesen Blick werden sie nicht wagen. Kein Zweifel, man wird sich – hierzulande und überall anders auf der Welt – nach demokratischen Mehrheitsprinzip freiwillig dem verschärften Frondienst unterwerfen und damit beweisen, wie wenig man die Schöpfung einerseits, und andererseits das Wesen von Herrschaft und Machtausübung versteht. „Wir“ sind völlig unschuldig – aber entkommen werden wir dennoch nicht.
Auch nicht „ich“.
Kommentare zum Artikel
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Das Wort Schöpfung sollte durch das Wort Evolution ersetzt werden.