Warum wollen so viele junge Leute nicht mehr freundlich sein?

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Lieber Herr Kelle

Ich nehme Ihre Frage gerne auf. Sie beschäftigt mich schon seit Jahren. Dass ich keine Instruktionen aus dem Glashause erteile, mag daran gemessen werden, dass ich mit meinen fünf Söhnen zwischen fünf und 13 Jahren in einer 5-Zimmer-Wohnung lebe. Eine Besonderheit lasse ich gelten: Meine Frau unterrichtet die Söhne selbst. Sie nehmen in Ergänzung einzelne Angebote von öffentlichen Schulen und Vereinen in Anspruch.

Um die Antwort einzurahmen, muss ich noch zwei Dinge erwähnen. Als Christ gehe ich von der doppelten Voraussetzung aus, dass jedes Mensch und damit jedes Kind Gottes Bild trägt und von ihm mit unverwechselbaren Begabungen ausgerüstet worden ist. Gleichzeitig ist es von Geburt an mit der Neigung behaftet, den Gesetzen des Schöpfers entgegen zu handeln und sich darin zu gefallen. Das altmodische Wort dafür lautet „Sünde“.

Zuerst zu drei Punkten, welche daher rühren, dass jedes Kind Sünder ist.

  1. Kinder sind unfreundlich, weil sie in sich die Neigung zum Bösen tragen. Sie handeln – wie wir Erwachsenen auch – oft gegen ihr eigenes Empfinden. Dieses Urteil kommt dann besonders deutlich zum Tragen, wenn es um Unrecht von anderen geht. Jeder Mensch fällt pausenlos Urteile über andere.
  2. Kinder sind besonders unfreundlich, weil wir in einer Zeit des Übergangs leben. Das säkulare System, seit Jahrzehnten auf Pump von christlichen Werten lebend, erschöpft sich zunehmend. Die Generation meiner Grosseltern lebte noch mit einem gewissen Bezug zum christlichen Glauben. Die Elterngeneration, Babyboomer (keine extremen 68er), haben diesen Bezug aufgegeben, lebten jedoch weiterhin innerhalb gewisser Regeln der Höflichkeit. Meine Generation der 70er und 80er waren als „Hortkinder“ stark der Freizeitgesellschaft zugeneigt- Diese Tendenz hat sich bei den Millenials noch verstärkt.
  3. Kinder aus anderen, stärker auf Autorität und Unterordnung ausgerichtete Kulturen, gehen unterschiedliche Wege. Die einen „Secondos“ (Kinder der zweiten Generation) arbeiten sich fleissig hoch. Andere, aus eher bildungsfernen Schichten stammend, fallen in der Konsum- und Freizeitgesellschaft zwischen Stühle und Bänke. Eine besonders auffallende Gruppe sind junge Männer, von ihren Müttern überbehütet und sogar bei Delikten gedeckt.

Kommen wir zu den Faktoren der Gewöhnung:

  1. Der Grundstein für Unfreundlichkeit wird durch das Rollenverhalten der Eltern in den Baby- und Kleinkindjahren gelegt. In dieser Zeit wird das Kind täglich Dutzende Male in Details gefragt, um eine Auswahl zu treffen: Was es essen und trinken, anziehen, spielen, was es unternehmen und auf welche Art es unterhalten werden möchte. Rechnet man diese Zahl von, sagen wir, täglich 50 solcher Fragen auf ein Jahr hoch, so kommt man in einem Jahr auf 18‘000 Fragen,  in den ersten fünf Lebensjahren schon fast auf 100‘000! Das heisst: Das Kind lernt, dass sich der Kosmos um sich selber dreht.
  2. Dazu kommt die starke Orientierung an der Gruppe der Gleichaltrigen. Diese entsteht, so einige Bindungsforscher, durch eine Lücke in der sogenannten Primärbindung gegenüber den Eltern. Unsicher, in welcher Richtung sie sich orientieren sollten, stellen sie einen starken und emotional unbeständigen Bezug zu Gleichaltrigen her. Die Eltern haben sich in dieser Phase bereits für die meiste Zeit von den Kindern verabschiedet und sich intensiv der eigenen Karriere und den Freizeitbeschäftigungen zugewandt. Sie sind nur noch Versorgungsstation. Ganztagesschulen und die Medien sind die neuen Orientierungsgrössen. Das Hirn speichert die Signale und die entsprechenden Gefühle und Reaktionen. Darin eingeschlossen ist die Sprache.
  3. Die Phase der Adoleszenz verstärkt die beiden eben beschriebenen Faktoren markant. Während bis zur Zeit der Industrialisierung nur Kindheit und Erwachsenenalter unterschieden wurden, gibt es heute eine dritte Lebensphase, die oft bis tief in die 30er-Jahre hineindauert. Die Jugend ist für viele vom Ideal her eine Phase der 0-Leistung. Ich höre zahlreiche Eltern sagen: „Das sind einfach die Jahre, in denen sie die Sau raus lassen müssen.“ Körperlich und geistig wären dies jedoch genau die Jahre der Hochleistung. Es ist nachgewiesen, dass in diesen Jahren die wichtigsten Entdeckungen und Ergebnisse erzielbar wären. Was ist die Folge dieser grossen Lücke zwischen Unterbeschäftigung und grosser Kraft? Der Psychologe Viktor Frankl hätte gesagt: Es ist das existenzielle Vakuum. Der junge Mensch muss sich betäuben, weil er eine Sinnleere in sich spürt.

Fertig mit dem Lamentieren. Ich lebe wie gesagt in einem Bubenhaushalt. Da geht es oft zur Sache. Die Konkurrenz ist gross, die Kräfte beinahe unerschöpflich. Und weil ich sie nicht mit Medien und Süssigkeiten stilllegen möchte, musste ich Schweiss treibendere Wege gehen.

  • Wenn ich einen solchen Umgang bemerke, gehe ich als Vater dazwischen und suche das Gespräch. Ich frage direkt: Warum handelst du so? Kinder geben oft verblüffende Antworten.
  • Ich begründe mein Dazwischentreten und versuche aufzuzeigen, warum sich Tugend mittel- und langfristig im Leben auszahlt. Wenn ich von guten Beispielen lese oder sie noch besser „live“ erlebe, spreche ich mit den Buben darüber. 
  • Wir achten auf unsere eigene Sprache als Eltern.
  • Konsequenzen müssen sofort spürbar sein. „Toiletten-Wörter“ werden mit einer Putzaktion geahndet. Das schon seit Jahren. Die besten  Wächter darüber sind die Kinder selbst.
  • Die weitaus wichtigste präventive Massnahme besteht jedoch darin, für jedes Kind eine sinnvolle, auf die Begabung zugeschnittene Beschäftigung zu finden. Das beginnt in der Familie. Wir übergeben den Buben viele Pflichten des gemeinsamen Haushaltes, nicht nur beim Waschen und Putzen. Sie planen mit, verwalten Geld und helfen anderen Menschen. Dazu haben sie ein forderndes Lernprogramm und ein, zwei intensive Freizeitbeschäftigungen.

Ich bilde mir nicht ein, mit diesen Worten eine völlig befriedigende Antwort gefunden zu haben. Für mich jedoch ein Stand, in dem ich weiter denken und handeln kann. Übrigens: Gratulation, dass Sie dazwischen gegangen sind.

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: FDominicus

Bin nicht mehr jung, möchte aber auch nicht mehr freundlich sein. Warum auch wenn ich kriminialisiert, verhöhnt und betrogen werde und zwar vor, während und nach jeder Wahl

Gravatar: MGR

Es stellt sich zunächst die Frage ob es sich hier nicht um einen teilweisen Wahrnehmungs-Bias (z.B. affirmative Wahrnehmung) handelt. Ich kann das für mich nicht mit Sicherheit ausschließen da vor 10-20 Jahren meine Wahrnehmungsparameter andere waren. In diesem Kontext sei das Buch « Schnelles Denken, langsames Denken » von Daniel Kahneman empfohlen.
Andererseits lässt der Wegfall des „Rohrstocks“ sowie die deutlich verschärfte Gesetzeslage zum Schutz des Individuums den Lehrer wie auch die Gesellschaft machtlos zurück ob der Verbalentgleisungen unserer Jugend. Und die „Vorbilder“ in den omnipräsenten Medien runden die Sache noch ab.
Aber evtl. kann man heute auch immer weniger von „der Jugend“ sprechen. Die zunehmende Brasilianisierung reißt auch hierzulande immer tiefere Gräben.
Das mit der 0-Leistung kann ich vor dem Hintergrund der Bologna Reformen und ihren Folgeerscheinungen nicht wirklich bestätigen. Zumindest nicht für die Gruppe an Jungen die meine Stichprobe umfasst. Zu meiner Schul-/Studienzeit blieb viel mehr Zeit um "die Sau rauszulassen". Gott sei Dank möchte ich meinen.
Sie unterrichten selbst? Wie gestaltet sich das so? Hatte vor kurzem einen TV Beitrag dazu gesehen. Darin wurde berichtet das Eltern seitens der Verwaltung alle verfügbaren Steine in den Weg geworfen werden bis hin zur Erzwingungshaft.

Gravatar: Frank

Klasse Artikel, sehr treffende Analyse.

Dies schreibe ich als jemand, der die B-Seite derselben Schallplatte kennt, nämlich als Vater von 5 Mädchen ;-)

Bleiben Sie Ihrer Linie treu.

Gravatar: Freigeist

Ich sehe, dass die meisten Jungen freundlich sind und ziemlich interessiert an deftiger Religionskritik.

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