Wahrheit statt Rhetorik

 

Ständig benutzen wir unzulässige Verallgemeinerungen: Statt von „einigen“ sprechen wir von „den“. Das entspricht nicht der Realität und führt zur Bildung von Vorurteilen.

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In den Medien, in der Politik und im Alltag herrscht eine Unsitte: Man verallgemeinert. Verallgemeinerungen bzw. Generalisierungen sind eine wichtige zivilisatorische Errungenschaft des Menschen. Die Wissenschaft wäre ohne Verallgemeinerungen nicht möglich. Auch in anderen Bereich könnten wir ohne sie kaum auskommen. Doch meistens geben Verallgemeinerungen die Realität nicht wieder. Im Gegenteil: Sie verzerren sie und führen zur Bildung von Vorurteilen.

Wie selbstverständlich sprechen wir von DEN Deutschen, DEN Amerikaner, DEN Franzosen oder DEN Russen. Daraus entstehen dann Sätze (und Vorurteile) wie „DIE Deutschen sind fremdenfeindlich“, „DIE Amerikaner sind überheblich“, „DIE Franzosen denken nur an das Eine“ oder „DIE Russen sind unkultiviert“ usw. Oder in Bezug auf religiöse Gruppen „DIE Christen sind Schweinefleischfresser“,“DIE Moslems sind verfassungsfeindlich“. Die Realität sagt uns etwas ganz anderes: EINIGE Christen essen Schweinefleisch, andere tun es nicht, EINIGE Moslems sind verfassungsfeindlich, andere (die Mehrheit) nicht.

Wenn wir von „den“ sprechen, meinen wir „alle“. Das kann diejenigen, auf die eine Verallgemeinerung nicht zutrifft, verletzen, oder gar beleidigen. Wenn man behauptet, dass DIE Deutschen fremdenfeindlich sind, dann verletzt man diejenigen Deutschen, die es nicht sind oder die sich gegen Fremdenfeindlichkeit engagieren.

In Bezug auf die Geschlechter lesen oder hören wir immer wieder: „DIE Männer sind ...“, „DIE Frauen sind ...“. Zum Beispiel: „DIE Männer sind gewalttätig“. Die Realität sagt uns: EINIGE Männer sind gewalttätig, die überwiegende Mehrheit der Männer sind es nicht. Oder: „DIE Frauen sind fürsorglich“. Die Fakten sagen uns: EINIGE Frauen sind fürsorglich, andere sind es nicht. Oder: „DIE Frauen sind kommunikativer als DIE Männer“. Die Fakten sprechen eine andere Sprache: EINIGE Frauen sind kommunikativer als EINIGE Männer.

Warum benutzen wir diese unzulässigen Verallgemeinerungen, auch wenn wir wissen, dass sie der Realität widersprechen? Weil wir uns daran gewöhnt haben? Also aus Bequemlichkeit? Ich denke, wir benutzen sie, weil man mit ihnen bessere Wirkung auf andere Menschen erzielen kann. Zum Beispiel kann man mit der Äußerung „DIE Männer sind gewalttätig“ viel bessere Wirkung erzielen als mit der wahren Aussage „Einige Männer sind gewalttätig“. Mit „Einige Männer sind gewalttätig“ kann man keine Poltitik machen, mit „DIE Männer sind gewalttätig“ schon.

Ein alter Streit taucht hier auf: der Streit zwischen Rhetorik und Wahrheit. Mit Rhetorik können wir andere Menschen manipulieren und Politik machen, mit Wahrheit geht es kaum. Bereits Sokrates kannte dieses Problem und stellte es ins Zentrum seiner Philosophie. Er entschied sich für die Wahrheit. Nur wenn wir nach Wahrheit suchen, Wahrheit finden und wahre Aussagen machen, können wir ein gutes und gerechtes Leben führen. Unzulässige Verallgemeinerungen verzerren die Wahrheit. Sie sind eine Unsitte, mit Sokrates gesprochen: eine Untugend, gegen die wir ankämpfen sollten.

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