Vom Leid der türkischen Männer

 

Buchrezension zu: Isabella Kroth, Halbmondwahrheiten

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Sie werden als Gewalttäter, Machos, Paschas oder Patriarchen bezeichnet, als Menschen, die lernunfähig sind, an ihren traditionellen Vorstellungen haften und sich in Deutschland nicht intergrieren möchten. In der gegenwärtigen Integrationsdebatte werden sie als die Hauptverantwortlichen für die Integrationsprobleme betrachtet. Die Rede ist von den in Deutschland lebenden türkischen Männern.

Dass auch diese Männer Produkte und Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse sind, wird in dem feministischen dominierten Diskurs unserer Zeit kaum erwähnt. Denn für den Feminismus gilt: Frauen sind Produkte und Opfer der Gesellschaft. Männer und sogar Jungen werden in der Regel nicht als Produkte und Opfer der Gesellschaft angesehen, was Erkenntnissen aus der Psychologie und der Soziologie widerspricht. Sie haben ihre Probleme selbst verschuldet, heißt es oft (Männer zum Beispiel ihre gesundheitlichen, Jungen ihre schulischen Probleme).

Hinter dieser einseitigen Betrachtungsweise steckt ein politisches Kalkül: Da Frauen Produkte und Opfer der Gesellschaft sind, sollen nur sie in den Genuß der Gleichstellungspolitik kommen. Hilfs- und Förderprogramme sollen nur ihnen vorbehalten sein. Würde man die Realität sehen und auch Männer als Produkte und Opfer der Gesellschaft betrachten, müssten die Gleichstellungsmittel anders verteilt werden: Ein Großteil der Gleichstellungsmittel müsste auch Männern und Jungen zugute kommen. Das ist aber politisch nicht gewollt.

Die Journalistin Isabella Kroth zeigt in ihrem Buch „Halbmondwahrheiten“ die soziale Determiniertheit und die sich daraus ergebende schwierige Situation der in Deutschland lebenden türkischen Männer. Von der Hilfsorganisation „Terre des Femmes“ (einer Organisation, die sich weltweit gegen die Diskriminierung von Frauen einsetzt) erfuhr sie, dass immer wieder Männer Hilfe suchen, jedoch abgewiesen werden müssen, da es keine Mittel gibt, um ihnen zu helfen. Von der Mitarbeiterin eines Frauenhauses erfuhr sie ferner, dass der türkische Psychologe Kazim Erdogan einer der wenigen ist, der auch Männern Hilfe anbietet. Er leitet in Berliner Bezirk Neukölln jeden Montagabend eine Selbsthilfegruppe für türkische Männer.

Isabella Kroth hat in der Gruppe von Erdogan keine „geschlossene Gesellschaft“ vorgefunden. Dafür Männer, die sich darüber freuten, dass jemand für ihre Probleme und Sorgen ein offenes Ohr hatte und mit ihnen ohne Vorurteile sprach. Sie traf Männer, die aufgeschlossen und freundlich waren. Sie alle haben die Fragen der Journalistin „bereitwillig und geduldig“ beantwortet – ein Bild, das den gängigen Klischees über diese Männer ganz und gar nicht entspricht.

In zwölf Portraits erzählt sie die Leidensgeschichten dieser Männer. Da ist zum Beispiel Ahmet, ein „Import aus der Türkei“. Seine Ehe wurde von seinen Eltern arrangiert. Seine Frau hatte ihn nach der Hochzeit zu sich nach Berlin geholt. Er fand sich in einer ihm fremden Welt vor. Heute betont er: „Hätte ich damals gewusst, was auf mich zukommt – ich würde nicht noch einmal nach Deutschland kommen.“ Seine Zeugnisse waren in Berlin plötzlich nichts mehr wert. Er verstand kein Wort deutsch. Er musste sich hinter seiner Frau verstecken, die in Berlin aufgewachsen war und der beruflich alles gelang. Sie gab Ahmet Taschengeld. Dabei spürte er ihre Verachtung: „Ein Mann, der nicht in der Lage war, Geld nach Hause zu bringen, der war in ihren Augen ein Verssager.“

Ahmet, der in der Türkei in einer Anwaltskanzlei arbeitete, begann in Berlin nach einiger Zeit auf einer Baustelle zu arbeiten. Er schleppte dort Betonplatten und räumte den Schutt zusammen. Sein Ziel war, trotz der Demütigungen so viel Geld zu verdienen, dass seine Frau nicht mehr arbeiten gehen müsste. Über seine Sorgen konnte er mit niemandem reden, auch nicht mit seiner Frau, die sich zurückzog, weil er ihr „unmännlich“ erschien.

Die Autorin hebt in diesem Zusammenhang hervor: „Die Probleme junger Frauen, die per Heiratsmigration nach Deutschland kommen, sind seit Jahrzehnten bekannt. Die Schwierigkeiten der Männer jedoch, die als ´Importbräutigame` nach Deutschland kommen, werden kaum erwähnt. Dabei fällt es diesen Männern in gewisser Hinsicht sogar schwerer als Frauen, sich in dem fremden Land zurechtzufinden. Denn während Frauen enger in das Netzwerk Familie eingebunden sind, müssen sich die Männer in ihrer Rolle als Ernährer behaupten. ´Importbräute` leben meist innerhalb eines geschützten Umfelds. Importierte Männer kämpfen auf dem Arbeitsmarkt mit Sprachproblemen und Orientierungslosigkeit.“

Adem heiratete mit 19 Jahren seine Cousine Ipek. Die Ehe zwischen beiden war eine „Familienangelegenheit“. Für Ipeks Eltern in der Türkei war sie eine zuverlässige Einnahmequelle. Sie erwarteten, dass Adem ihnen regelmäßig Geld schickte. Doch Adem brach ein ungeschriebenes Gesetz: Anstatt sich finanziell um die Großfamilie zu kümmern, begann er, Geld für seine eigenen Kinder zu sparen. Er wollte ihnen eine gute Ausbildung ermöglichen.

Für Ipek hatte die Ehe unter diesen Umständen keinen Sinn mehr. Sie hatte keinen Respekt mehr vor Adem, nannte ihn einen Versager, der nicht genügend Geld verdienen konnte. Sie trennte sich von ihm. Ipek und ihre Familie verbreiteten Gerüchte, dass Adem sie und die Kinder geschlagen habe und Geld verzockte. Von Ipeks Brüdern bekam er sogar Morddrohungen.

Adem wurde zum alleinerziehenden Vater. Die älteste Tochter wurde von Ipek in die Türkei mitgenommen. Ipek hatte an das Jugendamt geschrieben, dass Adem seine Tochter sexuell missbrauchte. In dieser schwierigen Situation fand er Hilfe in der Selbsthilfegruppe von Erdogan.

Als Faruk 14 Jahre alt war, brachte ihn sein Vater nach Berlin. Wie viele andere wurde er gar nicht gefragt, ob er nach Deutschland kommen wollte. Mit fünf Klassen Grundschule und einem Jahr Koranschule hatte er keine ausreichenden Voraussetzungen, um in Deutschland voranzukommen. Die Einzimerwohnung des Vaters wurde für Faruk zum Gefängnis. Nur die Besuche in der Moschee erlebte er als Ausbrüche in die Freiheit.

Sein Wunsch, eine Lehre als Elektriker zu machen, stieß auf den Widerstand des Vaters. Sie würde zu lange dauern. Faruk sollte sofort arbeiten und Geld für seine Familie verdienen, die er mit 21 Jahren gründete. Um seine sechsköpfige Familie zu ernähren, begann er, in einer Kunststofffabrik zu arbeiten. Es gab dort keine Atemmasken zum Schutz gegen die Plastikdämpfe. Immer mehr schmerzten ihm bei der Arbeit die Lungen.

Heute schluckt der 43-jährige Faruk 21 Tabletten am Tag, gegen Krämpfe, Asthma und die fortschreitenden Lähmungen. In seinem Blut wurden 16 unterschiedliche Giftstoffe entdeckt. Faruk kann nicht mehr laufen und lebt als Schwerbehinderter von Hartz IV. Isabella Kroth betont in diesem Kontext: „Verschiedene Studien deuten auf ein erhöhtes Krankheitsrisiko unter Migranten hin – nicht nur wegen besonders belastender Arbeiten im Schichtdienst oder im Akkord. Das Robert-Koch-Institut wies auf das erhöhte Risiko bei Erkrankungen durch psychsoziale Belastung hin. Die Gründe für das erhöhte Krankheitsrisiko sind weitgehend unerforscht – mit ausschlaggebend könnte der Dauerspagat sein, den Migranten leisten müssen: zwischen der Kultur der Heimat und dem Versuch, sich hier anzupassen. Und auch die Orientierungslosigkeit in der Fremde, Angst vor Arbeitslosigkeit und Armut fallen ins Gewicht.“

Die Autorin zeigt auch in den übrigen Portraits, unter welchem Druck die in Deutschland lebenden türkischen Männer stehen: Sie müssen immer stark sein, moralische Autoritäten sein und die Familie ernähren. Oft können sie diese Erwartungen nicht erfüllen. Die Folgen davon sind Verzweiflung, Unsicherheit, Angst, Selbstzweifel, das Gefühl, versagt zu haben, ferner seelische und körperliche Krankheiten. Hinzu kommt noch das Gefühl, ein Fremder oder ein unerwünschter Gast zu sein.

Mit besonderen Problemen haben türkische Jungen zu kämpfen. Sie bekommen immer wieder zu hören: „Nächstes Jahr kehren wir zurück in die Türkei.“ Das hat weitreichende Konsequenzen für ihre Identitätsbildung, ihre Deutschkenntnisse und ihre schulische Ausbildung. Noten spielen für viele von ihnen keine entscheidende Rolle. Schließlich sollen sie in jedem nächsten Jahr in eine Schule in der Türkei gehen.

Die Notwendigkeit, das Geld für den Familienunterhalt zu verdienen, beendet frühzeitig die Ausbildung. Gute Ausbildung ist aber in Deutschland eine wichtige Voraussetzung, um genügend Geld zu verdienen – ein Teufelskreis, in den viele türkische Jungen geraten.

Die frühe Verheiratung wird für die jungen Männer zum Bildungshindernis. Sie sollen früh die Rolle des Ernährers übernehmen. Ehe und Ehre hängen für viele der Männer sehr eng zusammen. Sie heiraten gegen ihren eigenen Willen, um die Ehre der Frauen und der Familie zu retten. Dafür nehmen sie in Kauf, schlecht ausgebildet und unglücklich zu sein.

Türkische Männer sind ähnlich wie türkische Frauen Produkte und Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Tradition. Gleichwohl ist das Leiden der Männer anders als das der Frauen. Männer haben – so die Autorin – mehr Möglichkeiten und Freiheiten als Frauen: „Als Männer können sie einen Ausgleich außerhalb der Familie suchen, sie können flirten, feiern und Kaffeehäuser besuchen, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen.“ Ob das allerdings angesichts der im Buch dargestellten Leidensgeschichten ein Trost für die Männer ist, bleibt eine offene Frage.

Isabella Kroth hat ein einzigartiges Buch geschrieben. Sie hat als eine der ganz wenigen die soziale Determiniertheit und das Leid der in Deutschland lebenden türkischen Männer eindrucksvoll geschildert. Es bleibt zu hoffen, dass auch Männer und Jungen – nicht nur die türkischen – in den Genuß der Gleichstellungsmaßnahmen kommen werden. Der Bedarf danach ist auf jeden Fall sehr groß.

 

Elisabeth Kroth, Halbmondwahrheiten. Türkische Männer in Deutschland. Innenansichten einer geschlossenen Gesellschaft, München 2010.

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Konrad Fischer,

Dr. Alexander Ulfig,

ich vermute sie glauben was sie da sagen. Das ändert jedoch nichts an der tatsache das es nucht stimmt. Sie beurteilen hier eben nicht nach Individualitätsondern nach Gruppenzugehörigkeit. Und das ist dermaßen einseitig, da helfen auch ihre sicher ernstgemeinten Erklärungen nichts. In welcher Weise sind sie Herr Ulfig als Mann in dieser gesellschaft benachteiligt? Das würde mich wirklich einmal interessieren! Sind sie Benachteiligt weil andere unterstützt werden um eine Gleichberechtugung zu erhalten. Wenn sie diesen einfachen Vorgang nicht verstehen wieso fordern sie dann spezielle Jungenförderung etc?

Gravatar: Adorján F. Kovács

@ Freigeist
Aus meiner klinischen Erfahrung muss ich das leider bestätigen. Auf den pädiatrischen Intensivstationen häufen sich die Fälle erblich bedingt erkrankter Kinder, deren Eltern Migranten sind und eine Verwandtenehe eingegangen sind. Die Kosten sind immens.

Gravatar: Dr. Alexander Ulfig

@ Konrad Fischer

"Sie haben eine komplett einseitige Weltsicht die sich nur auf ihre männlichen Bewohner beschränkt, ob es sich nun um eine Buchrezension oder einen sionstigen Artikel handelt."
Nein, Sie verstehen mich völlig falsch. Die Gruppenzugehörigkeit spielt für mich keine wesentliche Rolle. Menschen sollten nach ihrer Individualität, nach ihren individuellen Fähigkeiten und Voraussetzungen, und nicht nach ihrer Gruppenzugehörigkeit, sei es Geschlecht, Nationalität, Hautfarbe oder sexueller Orientierung, beurteilt werden. Das ist eins meiner wichtigsten Prinzipien.
Solange aber die Gleichstellungspolitik fast ausschließlich Frauen im Blick hat (das ist eine Einseitigkeit), sollte auch den Problemen und Sorgen der Männer Aufmerksamkeit geschenkt werden.

Gravatar: Ebenherz

Na da haben Sie ja schon das ganze Uebel aufgezeigt.
Haetten diese Menschen sich an hiesige Gesetze und Gebraeuche gehalten, waere Ihnen eventuell einiges erspart geblieben.
Oder wie wollten Sie das Problem loesen?

Gravatar: Konrad Fischer

Einfach wilkürlich aus dem text gegriffen: "Mit besonderen Problemen haben türkische Jungen zu kämpfen. Sie bekommen immer wieder zu hören: „Nächstes Jahr kehren wir zurück in die Türkei.“ Das hat weitreichende Konsequenzen für ihre Identitätsbildung, ihre Deutschkenntnisse und ihre schulische Ausbildung. Noten spielen für viele von ihnen keine entscheidende Rolle. Schließlich sollen sie in jedem nächsten Jahr in eine Schule in der Türkei gehen."
Abgesehen davon das so eine vorgestellte Situation im selben Maße auf türkische Mädchen zutreffen würde, strotzt das nur so von Halbwahrheiten und dummen Vorurteilen! Haben sie noch nie etwas davon gehört wie Frauen in der türkischen Gesellschaft behandelt werden? Frauen werden zwangsverheiratet, müssen dann im Elternhaus ihres Mannes leben, das sie in den meisten Fällen nicht verlassen dürfen. Sie haben dort die Rolle einer untergeordneten Diensmagd. Die "armen" Männer, die sicher auch unter der Zwangverheiratung leiden mißhandeln diese Frauen frei wie es ihnen gerade passt. Niemand unterstützt in so einer Situation die Frau. Sie kann nicht fliehen, wenn sie zurück zu ihrer Familie geht gilt sie als Schande und der Ehemann oder die Familie des Mannes kann sie töten.
Also dieser Artikel hier ist dermaßen peinlich an der Realität vorbei das ich dem Autor nur raten kann in Zukunft doch besser über Dinge zu schreiben von denen er etwas weiss, oder besser ganz zu schweigen.

Mit freundlichem Gruß
Konrad Fischer

Gravatar: Paul

Also ich muss sagen, mir kommen die Tränen. Also die gesellschaft ist schuld, also das Patriarchat. Frau Kroth hat allerdings etwas richtig erkannt: das Patriarchat lässt sich heute nicht mehr rechtfertigen. Diese Männer sind Opfer ihres eigenen Selbstbildes. Vielleicht erkemnen sie jetzt, was sie all die Jahrhunderte den Frauen angetan haben. Und die kleinen Jungs, die paschas, können einem wirklich leid tun.

Gravatar: Caleb

Die Geschichten kommen mir doch sehr inszeniert vor. Wer sagt uns denn, ob Adem seine Frau nicht geschlagen und seine Tochter nicht doch missbraucht hat? Hier wird Ipek öffentlich als Lügnerin hingestellt. Alles sehr einseitige dramatische Stellungnahmen mit dem Zweck ein ganz bestimmtes Ziel zu erreichen. Von ihren Frauen, die sie nicht aus dem Haus lassen und die keinerlei Rechte haben, wird nicht gesprochen. Mit dem Satz "Frauen werden enger in das familiäre Netzwerk eingebunden" wird heftigst instrumentalisiert und das geht den kompletten Text durch so. Unglaublich, diese Stimmungsmache gegen Frauen!

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