Rechtsstaat auf tönernen Füßen

Wer aufmerksam den Nichtannahmebeschluss einer Kammer des Bundesverfassungsgerichts (1 BvR 1853/11 vom 09.11.2011) liest und diesen mit bindenden Urteilen des Gerichts vergleicht, reibt sich die Augen.

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Aus dem oben zitierten Kammerbeschluss, Rn 18: 

Die mittelbar angegriffene Regelung ist zudem im Hinblick auf den Verfassungsauftrag des Art. 3 Abs. 2 GG gerechtfertigt. Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG verpflichtet den Gesetzgeber, die Gleichberechtigung der Geschlechter in der gesellschaftlichen Wirklichkeit durchzusetzen und überkommene Rollenverteilungen zu überwinden.

Aus dem Urteil vom 17. Jan. 1957 (BVerfGE 6, 55, 81 - 1 BvL 4/54):
Wie bereits oben dargelegt, ist Art. 6 Abs. 1 GG im Sinne der klassischen Grundrechte ein Bekenntnis zur Freiheit der spezifischen Privatsphäre für Ehe und Familie; es entspricht damit einer Leitidee unserer Verfassung, nämlich der grundsätzlichen Begrenztheit aller öffentlichen Gewalt in ihrer Einwirkungsmöglichkeit auf das freie Individuum. Aus diesem Gedanken folgt allgemein die Anerkennung einer Sphäre privater Lebensgestaltung, die staatlicher Einwirkung entzogen ist.

Wer der deutschen Sprache mächtig ist und diese Kenntnis anwendet, kann nicht bestreiten, dass ein klarer Widerspruch zwischen der vorgeblichen Verpflichtung des Gesetzgebers „überkommene Rollenvertreilungen zu überwinden“ (obiges Zitat) und der „Leitidee unserer Verfassung“ besteht, wie sie darunter definiert ist.

Nun haben auch Urteile des Bundesverfassungsgerichts keinen Ewigkeitscharakter und sind änderbar. Aber das kann nur durch die Entscheidung eines Senats (bestehend auch acht Richtern/Richterinnen) geschehen und niemals durch einen Beschluss einer aus nur drei Personen bestehenden Kammer.

Die Kammer begründet ihre Behauptung mit Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG, der erst 1994 ins Grundgesetz aufgenommen wurde. Dieser Satz („Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“) steht aber in keinem Widerspruch zur „Leitidee unserer Verfassung“, wie sie im 2. Zitat niedergelegt ist.

Damit soll nicht etwa behauptet werden, „die herkömmliche Rollenverteilung“ sei nicht mit Nachteilen für Frauen verbunden. Es wurde auch vom Bundesverfassungsgericht festgestellt , dass die Erziehungsaufgabe mit Nachteilen für Mütter verbunden ist (BVerfGE 87, 1 <37> vom 7. Juli 1992). Daraus ergibt sich die Forderung nach Abbau dieser Nachteile. Das kann aber nicht so geschehen, dass den Eltern eine Rollenverteilung vorgeschrieben bzw. verweigert wird, ohne dass ihre Wünsche berücksichtigt werden. - Die Kammer setzt hier die „Gleichberechtigung der Geschlechter“ mit einer bestimmten Rollenverteilung gleich. Dieser Kurzschluss kann aber nur idoelogisch begründet werden und steht in klarem Widerspruch zum Gleichheitssatz des Grundgesetzes. Bei einer „Überwindung“ überkommener Rollenverteilungen würde all denen, die sich diese Rollenverteilung wünschen, generell die Gleichberechtigung verwehrt. Damit wäre der Gleichheitssatz wertlos.

Der Nichannahmebeschluss einer Kammer kann zwar nicht die bisherige Auslegung des Grundgesetzes aufheben. Er ist nur für das entsprechende Verfahren „unanfechtbar“. Da aber neue Verfahren zum gleichen Gesetz immer wieder vor der gleichen Kammer landen, verfügt diese über eine „Riegelwirkung“ für die Überprüfung eines Gesetzesn, in diesem Fall des Elterngeldgesetzes, auf seine Verfassungsmäßigkeit. Wenn aber nur drei Personen die Überprüfung eines Gesetzes auf seine Verfassungsmäßigkeit verhindern können, dann steht der ganze Rechtsstaat auf tönernen Füßen. - Wenn sich diese drei Personen statt am Grundgesetz an der Linie der für das Gesetz verantwortlichen Regierung orientieren, sei es nun zufällig oder nach gezielter Besetzung, kann die Beachtung des Grundgesetzes verhindert werden. - Das kommt einer „kalten Außerkraftsetzung“ gleich. Der Umgang mit dem Elterngeldgesetz zeigt, dass es sich hier nicht um eine theoretische Möglichkeit, sondern um die heutige deutsche Wirklichkeit handelt.

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Die einfache Wahrheit

Hier geht es um Gleichberechtigung.
Es ist erschütternd, in welch perfider Weise hier Eltern gegen Eltern, Arme gegen Reiche und Besitzstandswahrer gegen Benachteiligte ausgespielt werden.
Frau von der Leyen hat hier ein ganz übles Stück Rechtsgeschichte geschrieben, das erheblichen Sprengstoff zum Schaden unserer Gesellschaft enthält. Gerade die Leistungsträger werden benachteiligt. Kein Wunder daß sich die Geburtenrate nicht erholt. Ich hoffe, meine Kinder wandern aus, denn die Zahlen ja ohnehin nicht meine Rente, sondern die der Kinderlosen.

Gravatar: Moni

So ist es, Steffi. Die anfängliche Form der Gleichberechtigung für die Frauen war notwendig und gut. Sie aber künstlich zu Konkurrentinnen von Männern zu machen, hat Zwietracht gesät unter den Geschlechtern, bei der beide Seiten nur verlieren.
Hätte man beiden Seiten ihre natürlichen Stärken zugestanden und diese anerkannt, hätte jede profitiert, nicht zuletzt auch die Frauen. Die Gleichmacherei (noch immer genannt Gleichberechtigung) war besonders für die Frauen ein vergiftetes Geschenk.

Gravatar: Steffi

Sehr einleuchtend, was Frau Schweder da im "Nachtcaf&eacute;" gesagt hat.
Es bedeutet, dass der Feminismus den Frauen einen Bärendienst erwiesen hat, weil er genau das als wertlos abgestempelt hat, was die Frauen den Männern voraus haben.
Die Einebnung geschlechterspezifischer Unterschiede ist nicht nur ein Irrtum des Feminismus, sondern ein Unglücksbringer sowohl für Männer als auch für Frauen. Die Rechte, die für Frauen erkämpft wurden und werden, wiegen bei weitem nicht die Nachteile auf, die man ihnen eingebrockt hat.

Gravatar: Karin Weber

Ein Rechtsstaat ist ein Staat für alle die, die vom "Recht" leben. Ich glaube schon lange nicht mehr daran. Schleichend hat sich hier eine Diktatur etabliert, in der das einzelne Individuum sich dem "Wachstumswünschen" und Machtansprüchen der Machthaber (politische Klasse & Führungselite) gnadenlos zu beugen hat. Gerichte sind nicht dazu da, um Recht zu sprechen, sondern den Widerstand des Bürgers gegen den Staat zu brechen. Gesetze? Besser wohl "Raubregeln", denn sie legen fest, wie viel der Staat aus einem unschuldigen Menschen herauspressen kann.

Mein Gott ... haben wir im Vergleich dazu in dem Gefängnis "Ex-DDR" ruhig und unbescholten gelebt.

Gravatar: Wiltraud Beckenbach

Glückwunsch zu diesen klaren Worten. Es ist unerträglich, was uns Eltern derzeit unter dem Deckmantel der "Gleichberechtigung" aufs Auge gedrückt wird. Wahlfreiheit ade.

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