Wir leben in Zeiten des Mißbrauchs
Mit Erwin Chargaff, der 2002 verstorben ist, wurde kurz vor seinem Tode ein Interview geführt, in dem er seinem Schmerz über den Verfall von Moral und Wissenschaft Ausdruck verleiht. Er sei unendlich traurig, „wie der Anstand die Welt verlassen hat. Befruchtung und Zeugung werden sie bald abschaffen, Interneteltern werden per Internet Internetkinder ordern, und Kinder werden wie Cocktails zusammengeschüttelt, aber sie werden keine Menschen mehr sein. Die Seele kann man nicht klonen. Wir leben in einer Zeit des Mißbrauchs. Des Mißbrauchs der Sprache, des Mißbrauchs der Naturforschung, des Mißbrauchs des Lebens, der Hoffnung. Wir kommen noch in eine Zeit, wo die Leichen nicht mehr begraben oder verbrannt, sondern industriell ausgeschlachtet werden, weil sie so unheimlich viele wertvolle Substanzen enthalten. Die Menschlichkeit ist zu Ende gegangen.“
Das gesamte Interviews ist im Internet abrufbar. tinyurl.com/2ev2va
Wir haben wirklich keine Wahl?
Aber wer sagt denn, daß das keine Wahl ist, wenn ich eine ungültige Stimme abgebe? Wenn ich NEIN sage zu all dem, was man mir zur Wahl stellt, weil es inakzeptabel ist. Neinsagen ist auch eine Wahl! Und diese Wahl drückt viel mehr Selbstbewußtsein aus als das affirmative Kreuzchen, mit dem man leichthin und einer Laune folgend das Vorgekaute akzeptiert und zwischen den willkürlich gesetzten Übeln wählt, die sich frech als TINA (there ist no alternative) ausgeben.
Das menschliche Maß
Nach der Ansicht des 1994 verstorbenen österreichischen Nationalökonomen und Philosophen Leopold Kohr liegt das Wohl des Menschen und des Gemeinwesens keinesfalls im permanenten wirtschaftlichen Wachstum, sondern in der Verwirklichung des „menschlichen Maßes“, und dies sei immer klein, was seine Ausmaße und Organisationsformen betrifft. Hinter allen Formen des sozialen Elends sah Kohr eine einzige Ursache: unbegrenztes Größenwachstum. Was auch immer zu groß werde, sei es eine Institution, ein Unternehmen, eine Wirtschaftseinheit oder der Staat, könne ab einem gewissen Zeitpunkt nur noch durch Gewalt zusammengehalten werden. Jede Vereinigung zu einer größtmöglichen Einheit sei deshalb eine Vorstufe zum Verfall, warnte Kohr in all seinen zahlreichen Vorträgen und Schriften. Zum Kennenlernen empfehle ich die Dokumentation „Leben nach menschlichem Maß“. tinyurl.com/bwv9rbm
Kopf in den Sand
Das Nichtwahrnehmen einer Bedrohung ist womöglich ein psychologischer Trick zur Aufrechterhaltung des seelischen Gleichgewichts. Würde der Mensch alle Gefahren mental zu nah an sich heranlassen, wäre er wohl die meiste Zeit seines Daseins vor Angst wie gelähmt. Der Schutzmechanismus, nicht zu genau hinschauen zu wollen, mündet in eine Wird-schon-gehen-Mentalität. Das ist hilfreich in Momenten, wo ein kühler Kopf notwendig ist und dient somit der Daseinsbewältigung. Wird das Nichthinschauen jedoch zur Grundhaltung, dann drohen Gefahren, die da sind: mangelnde Vorsorgevorkehrungen für eventuelle Notfälle und leichtfertige Handlungsweisen. Wer das Kleingedruckte – auch in übertragenem Sinne – niemals liest, wird leicht Opfer von Lumpen, Falschmünzern und Scheinheiligen, die genau diese geistige Schonhaltung ihrer Mitmenschen planmäßig ausnützen.
Anfeindungen stärken die Herrschaft
Indem sich die Bürger geistig an einem politischen Phänomen abarbeiten, kräftigt diese affektive Haltung zwar ungewollt, aber unausweichlich das Objekt der Anfeindungen und dient somit der Fixierung schräger Verhältnisse. Uns bleibt verborgen, daß nicht nur die positive, sondern gerade die negative Resonanz eine Plattform schafft, auf welcher sich das Angegriffene zu voller Größe entfalten kann. Allein die Ignoranz bringt Objekte und Ideen zum Verschwinden, die Herrschenden wissen das, und sie errichten Denk- und Sprechverbote, mit denen sie echte Alternativen totschweigen.
Massen aber können nicht schweigen. Das Schweigen ist eine Eigenschaft des Einzelnen, weil es einen Willensakt voraussetzt. Das Schweigen des Individuums geht im Lärm der Masse unter.
Nicht Sport ist Mord, sondern Politik. Jegliche Politik ist unvermeidlich links. An den Früchten erkennt man den Baum.
Das Selbstverständliche ist nicht selbstverständlich
Es liegt eine gewisse Tragik darin, daß die Fundamente des kulturellen und sittlichen Daseins, eben deshalb, weil sie einfach vorhanden sind, unverstanden bleiben. Was den Menschen trägt, weiß dieser erst zu würdigen, wenn die Fundamente brüchig werden. Die Furcht vor dem eigenen Scheitern (Lebensangst) macht anfällig für Erlösungsversprechen. Deshalb ist es die Wohlstandsdekadenz, die auf verschlungenen Wegen zum Sozialismus führt. Die Annehmlichkeiten des täglichen Lebens rufen eine gewisse körperliche und geistige Trägheit hervor, womit die Widerstandskräfte gegen politische Zumutungen erlahmen. Der verweichlichte und verängstigte Mensch ist damit unter die Willkür jener Artgenossen gestellt, die zwar in der Minderzahl sind, aber dafür über eine starke Natur und einen ausgeprägten Willen zum Herrschen verfügen.
Die Schöpfung verbessern
Chargaff: „Mir wäre es nie in den Sinn gekommen, die Natur verbessern zu wollen. Früher hat man wegen des Regens den Regenschirm erfunden. Da hat es keine großen Eingriffe in die Meteorologie gegeben. Heute bekäme ein Forschungsinstitut den milliardenschweren Auftrag, den Regen abzuschaffen. Wir haben den Respekt vor der Dunkelheit verloren.“ (siehe oben)
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