Prophylaxe

Der Krankenstand durch stressinduzierte psychische Krankheiten nimmt europaweit besorgniserregend zu.

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Nach dem Gesagten kann das eigentlich niemanden verwundern: Viele Jahrgänge von Kleinstkindern wurden und sollen weiterhin in stressende Lebensbedingungen gezwungen werden. Auch wenn Stress in jedem Jugendlichen- und Erwachsenenleben unvermeidlich ist, entscheidend ist die Fähigkeit, ihn adäquat zu verarbeiten. Die Voraussetzungen dazu verschlechtern sich mit steigender Fremdbetreuungsquote.

Unter anderem wird dies durch den BKK-Report von 2013 untermauert: Beschäftigte mit psychischen Störungen kämen mit 16,6% der Fehltage erstmals an zweiter Stelle nach Muskel- und Skeletterkrankungen. Bei keiner anderen Krankheit sei der Anteil an den Gesamtkrankentagen in einer Generation so stark gestiegen, nämlich um das Siebenfache. Darüber hinaus verursachten psychische Krankheiten mit 39,4 Krankentagen je Fall mehr Fehltage als Krebsleiden (36,5). Der Durchschnitt liege bei 13,5 Tagen. Fast 30% der ambulanten Diagnosen beziehen sich auf psychische Krankheiten, von denen die depressive Episode die wichtigste Einzeldiagnose ist.(39) Der BKK-Report von 2012 mit dem Titel: „Gesundheit fördern – Krankheit versorgen – mit Krankheit leben“ verzeichnete 40% sprachgestörte Kinder im Alter von 5-6 Jahren. Die logopädische Behandlung verursache Kosten von circa einer Milliarde Euro.

Der Report folgert, “dass Krankheit als gesamtgesellschaftliche Herausforderung aufgefasst werden muss, die nur durch einen integralen, sektorübergreifenden Ansatz im Gesundheitssystem bewältigt werden kann. Insbesondere wird die Beziehung zwischen Prävention und Versorgung deutlich gemacht und Handlungsnotwendigkeiten abgeleitet.“(40)

Der Stressreport 2012 schätzt die Therapiekosten für psychische Krankheiten insgesamt mit 28 Milliarden Euro jährlich. 41% aller Frühberentungen sind auf seelische Störungen zurückzuführen, und die Betroffenen werden immer jünger, im Durchschnitt 41 Jahre.(41) Die Häufigkeit von Angstzuständen und Depressionen, die sich auch zum großen Teil hinter der verschleiernden Diagnose „Burn-out“ verbergen, lässt den in diesem Zusammenhang häufig gebrauchten Begriff „Volkskrankheit“ berechtigt erscheinen. Die hier dargelegten Zusammenhänge mit chronischer Stresseinwirkung in der frühen Kindheit werden jedoch nicht gesehen. Auch unterscheidet sich die Symptomatik von kindlichen bzw. jugendlichen Depressionen stark von der der Erwachsenen. Eine sichere Diagnose wird hierdurch sehr erschwert; die Anzahl der Betroffenen übersteigt vermutlich deutlich die der erfassten Fälle.

Auf die EU bezogen sieht das Bild nicht besser aus: Eine wissenschaftliche Studie der TU Dresden untersuchte außer den 27 EU-Staaten auch Norwegen, Island und die Schweiz über drei Jahre. Demnach litten 38,25% aller Einwohner unter einer klinisch bedeutsamen psychischen Störung. Das sind fast 165 Millionen Menschen. Am häufigsten waren Angststörungen(14%), Schlafstörungen (7%), unipolare Depressionen (6,9%), psychosomatische Krankheiten (6,3%), Alkohol- und Drogenabhängigkeit (4%), ADHS (5%) (42)

Fiona Gore von der Weltgesundheitsorganisation in Genf hat mit australischen Forschern eine der weltweit umfangreichsten Datensammlungen zur öffentlichen Gesundheit ausgewertet. Demnach sind psychische Erkrankungen bei Jugendlichen die wichtigste Ursache für ein Leben mit erheblichen Beeinträchtigungen, was Berufschancen, langfristige Gesundheit und Lebensqualität angeht. Insbesondere Depressionen, Alkoholmissbrauch, bipolare Störung und Schizophrenie sind im Alter zwischen zehn und vierundzwanzig Jahren die häufigsten Risikofaktoren für die Beeinträchtigung im späteren Leben. 45% der Folgeerkrankungen werden in den psychiatrischen Störungen Jugendlicher gesehen. Trotzdem, so beklagt die Gruppe in der Zeitschrift „Lancet“, gebe es fast nirgendwo adäquate Programme zur Verhütung von psychischen Erkrankungen bei Jugendlichen.(43)

„Es besteht dringender Handlungsbedarf“, konstatiert auch Anna Goeldel, stellvertretende Vorsitzende der DGPM (Deutsche Gesellschaft für psychosomatische Medizin und ärztliche Psychotherapie): “Wir wissen zum großen Teil, warum und wie sich psychogene Erkrankungen entwickeln, manifestieren und chronifizieren […]. Wichtig wäre, den Schwerpunkt der Präventivmaßnahmen auf die entwicklungsfördernde gesunde emotionale Matrix, die ein Kind von Geburt auf benötigt, zu legen und die Eltern dahingehend zu sensibilisieren […]. Wenn man stringent weiterdenkt, kann man nur zu dem Schluss kommen, dass wir den Ausbruch und die Entwicklung von seelischen Erkrankungen nur dann verhindern können, wenn wir die Bedingungen so gestalten, dass Kinder und Jugendliche sich innerlich qualitativ stabil entwickeln können […].“(44)

Die gesellschaftlichen Aspekte werden auch von Brazelton und Greenspan betont: „In einer komplexen Gesellschaft sind Fürsorge und Anteilnahme die Grundlage für die Kooperation, die allein das Überleben ermöglicht. In einer Welt, die uns allen aufgrund der wechselseitigen Abhängigkeiten eine beträchtlich größere Toleranz gegenüber kultureller Vielfalt abverlangt als je zuvor und es nötig macht, dass wir weit über unsere eigene Lebensdauer und die unserer Kinder hinausdenken, um den Planeten erfolgreich zu schützen, dürfen wir die Bedeutung, die der umsichtigen Anteilnahme für die menschliche Evolution zukommt, nicht länger unterschätzen. Die zuverlässige, fürsorgliche Obhut in stabilen Familien ist daher eine Voraussetzung dafür, dass unsere Kinder später einmal in der Lage sein werden, Verantwortung für sich und die Gesellschaft zu übernehmen.“

Theoretisch ist sich die Fachwelt einig. Wie lange wird sich die Politik und Gesellschaft ihre Blindheit bezüglich einer wirkungsvollen Prävention also noch leisten können?

 

(39) BKK-Report 2013 „Gesundheit in Bewegung“

(40) BKK-Report 2012 „Gesundheit fördern – Krankheit versorgen – mit Krankheit leben“

(41) Andrea Lohmann-Haislah, Stressreport Deutschland 2012 – Psychische Anforderungen, Ressourcen und Befinden, Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, www.baua.de/dok/3430796

(42) Hans-U. Wittchen et al. (2011), Technische Universität Dresden. Eur Neuropsychopharmacol 21 (9): 655-679

(43) Fiona Gore in „Lancet“, doi:10.1016/S0140-6736(12)60203-7

(44) Anna Goeldel, Arzt und Prävention (06/2007)

 

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