Am 25. April 2010 ergab der zweite Wahlgang in Ungarn folgende endgültige Sitzverteilung im ungarischen Parlament: Der konservative Fraktionsverband aus FIDESZ-Ungarischer Bürgerbund und der Christlich-Demokratischen Volkspartei KDNP erhielt 68% der Stimmen (263 Sitze); die Ungarische Sozialistische Partei MSZP 15% (59 Sitze); die rechtsextreme „Bewegung für ein besseres Ungarn“ Jobbik 12% (47 Sitze); die linksökologische LMP („Die Politik kann anders sein“) schließlich 4% (15 Sitze). Ein Sitz ging an einen unabhängigen Kandidaten. Lediglich auf ef-online konnte man hierzulande einen unaufgeregten Beitrag zu dieser Wahl lesen: Eine nationalkonservative Partei hat eine Wahl gewonnen – na und?
In den deutschen Breitenmedien wurde dieses Wahlergebnis sonst jedoch katastrophisch als „Rechtsruck“ beschrieben. Der SPIEGEL nannte das Ergebnis eine „radikale Wende“, die SÜDDEUTSCHE wähnte schon ein „Pulverfass“ geschaffen, der Vorsitzende des FIDESZ, Viktor Orbán, wurde von der ZEIT als „Verführer“ bezeichnet und generell wird er als „Populist“, dem von TAGESSCHAU.DE schon die Absicht zur „Alleinherrschaft“ unterstellt wird, zu einer Gefahr für das demokratische Europa stilisiert. Und alles vorwiegend deshalb, weil die ex-kommunistische Partei MSZP abgewählt worden ist.
Bei den vorherigen Wahlen 2006 erzielte die MSZP 186 Mandate und koalierte mit dem liberalen Bund Freier Demokraten (SzDSz); der 18 Mandate erhielt. Gemeinschaftliche Kandidaten beider Parteien erhielten 6 Mandate. Ihnen stand die Opposition aus FIDESZ (164 Mandate); dem liberal-konservativen Ungarischen Demokratischen Forum MDF (11 Mandate) und einem Unabhängigen gegenüber. Die sozialistische Partei hatte also einen Anteil der Parlamentssitze von über 48%! Sie hatte damit ihr Ergebnis von 2002 noch verbessert, ohne dass es einem der westlichen Kommentatoren eingefallen wäre, von einem „Linksruck“ in diesem Zeitraum zu sprechen. Man könnte nun sagen: Was solls? Die SPD hatte auch schon mal 46%. Doch schauen wir uns das Spitzenpersonal der MSZP genauer an, einer sich plötzlich sozialdemokratisch gebärdenden Partei, die direkt aus der kommunistischen Staatspartei hervorging.
Ungarn nach der Wende: Kommunistische Kontinuität unter anderem Namen
Ferenc Gyurcsány, der sozialistische Ministerpräsident von 2004 bis 2009, war einst der Sekretär der Jugendorganisation der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei, also der Kommunisten. SPIEGEL online vom 19.09.2006: „Als der Eiserne Vorhang fiel, bekehrte er sich radikal zu marktwirtschaftlichen Konzepten und wurde zum Wende-Gewinner. Er nutzte die chaotische Umbruchphase, um als erfolgreicher Selfmade-Geschäftsmann ein Millionenvermögen anzuhäufen.“ So ganz „self-made“ war das sicher nicht, denn Ferenc Gyurcsány ist mit der Enkelin des Sekretärs des ZKs der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei der Kádár-Ära, Antal Apró, der nach 1956 als KGB-Verbindungsmann und Vertrauter von Kádár in Ungarn für "Ordnung" sorgte, verheiratet. Derlei Vetternwirtschaft kann schon zur Erbitterung bei politischen Gegnern, die unter dem kommunistischen Regime litten, führen; die Legalität von Gyurcsánys Vermögen ist übrigens bis heute nicht geklärt.
Gyula Horn, Aussenminister der kommunistischen Regierung Németh und in dieser Funktion sehr clever an der Öffnung des Eisernen Vorhangs 1989 beteiligt, später auch Ministerpräsident Ungarns 1994-1998, hatte kurz nach dem Krieg in der Sowjetunion studiert, was für eine unerschütterliche ideologische Festigkeit sprechen dürfte. Diese bewies Gyula Horn noch 1956, als er sich als Mitglied der sogenannten „Steppjackenbrigade“ (nach den Jacken der russischen Besatzer benannt) an der Verfolgung Aufständischer der Ungarischen Revolution beteiligte. Die Steppjackenbrigade wurde als Mittel eingesetzt, um die Säuberungswellen nach dem Aufstand durchzuführen. Aufgrund dieser Aktivitäten verweigerte ihm der ungarische Präsident die Verleihung des Verdienstkreuzes zu seinem 75. Geburtstag. Im Westen jedoch wurde Gyula Horn mit Ehren wie dem Karlspreis der Stadt Aachen überhäuft. In Ungarn versteht das nicht jeder.
Dies sind vielleicht negative Extrembeispiele, aber auch Mitglieder des aktuellen Präsidiums der MSZP wie András Balogh und László Kovács hatten weitreichende Karrieren im kommunistischen Polizeistaat gemacht, und ein solcher war bis 1989 selbstverständlich auch Ungarn. Einige Altkommunisten, die keine Wendehälse sein wollten, gründeten eine neue kommunistische Partei (die Ungarische Kommunistische Arbeiterpartei); die nie eine Rolle spielte. Heute sind natürlich viele Mitglieder der MSZP zu jung, um belastet zu sein, aber entscheidende 20 Jahre lang – immerhin 20 Jahre, fast eine Generation! – konnten die kommunistischen Kader unbehelligt im Rahmen der MSZP ihre politische Arbeit fortsetzen.
Deutschland: Der Anschluss der DDR an die BRD blockiert die Kommunisten
Während und nach dem Anschluss der DDR an die BRD, also der sogenannten Deutschen Wiedervereinigung, sind viele Fehler gemacht worden, wie man nicht erst seit heute weiß: Die Währungsunion mit dem problematischen Umtausch 1:1, die Treuhand mit ihrer Abwicklung auch lebensfähiger DDR-Betriebe und begleitenden Betrugsfällen, wohl alles wahr. Aber die Tatsache, dass die DDR geschluckt wurde, hat wenigstens verhindert, dass das unfähige und korrumpierte politische Personal dieses Unrechtsstaates zu größerer Bedeutung in der Berliner Republik gelangen konnte; schließlich wurde die Nachfolgepartei PDS vom Verfassungsschutz überwacht. Zwar ist der Verbleib eines Teils des gigantischen Vermögens der SED, das diese Partei sich unrechtmäßig angeeignet hatte, bis heute unklar, aber immerhin trat eine sogenannte „Unabhängige Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der DDR“ der umbenannten SED-PDS auf die Füße.
Dass die ehemaligen Bürger der DDR, die vom kommunistischen Regime profitiert haben, und das waren nicht wenige, die alten SED-Kader gewählt hätten, wenn diese sich zur freien Wahl hätten stellen können mit Unterstützung der großen finanziellen Möglichkeiten, die einer ehemaligen, aber unbehelligten Staatspartei in einem Wahlkampf zur Verfügung gestanden wären, unterliegt wohl keinem Zweifel. Ohne die Mehrheit der westdeutschen Stimmen, in einem selbständigen ostdeutschen Staat wären diese Stimmen für die ehemaligen Kommunisten auch nicht so verwässert worden. DIE LINKE als die aus der PDS und damit der ehemaligen DDR-Staatspartei SED hervorgegangene Partei hat im Osten Deutschlands trotz der Eindämmung durch den „großen Bruder Bonner Republik“ und trotz vergleichsweise rosiger wirtschaftlicher Verhältnisse stetig ansteigenden Zuspruch. So lag ihr Anteil bei der Bundestagswahl 1990 noch bei 11,7 Prozent, aber bei der Bundestagswahl 2009 schon bei 28,5 Prozent. Aber 2009 ist DIE LINKE auch von ihrer Mitgliederzusammensetzung her nicht mehr die Staatspartei von ehedem.
2/3-Mehrheit der Bürgerlichen in Ungarn eröffnet zumindest neue Chancen
In Ungarn hat es leider keinen „großen Bruder“ gegeben. Die Erbitterung von vielen Menschen, die in den 20 Jahren nach dem Ende des Kommunismus erleben mussten, wie die schlauen Kommunisten der ehemaligen Staatspartei sich als MSZP politischen und wirtschaftlichen Einfluss sicherten, ist nur zu verständlich. Man hat nur ein Leben, und 20 Jahre sind lang. Die Altkommunisten sind jetzt auch biologisch alt und werden bald in Frieden sterben. Die Menschen, die von ihnen unterdrückt worden sind, aber leider ebenfalls. Eine Auseinandersetzung mit dem Unrechtsregime vor 1989 ist unter diesen Verhältnissen natürlich nicht in wünschenswerter Weise erfolgt, viele Weichen wurden falsch gestellt. Zu den politischen kommen ökonomische Schwierigkeiten in Ungarn, die zu einem Großteil auf das Konto der MSZP gehen. Man kann der neuen Regierung Orbán wirklich nur viel Glück und Geschick wünschen, die notwendig sein werden, die 2/3-Mehrheit zum Wohle des Landes zu nutzen. Ihr Sieg zeigt vor allem, dass viele kommunistisch eingestellte Wähler endlich begriffen haben, dass sie sich von der Vergangenheit lösen müssen.
Vielleicht verstehen die Leser jetzt ein wenig mehr, wie es zu der Zerrissenheit Ungarns gekommen ist. Dass die deutschen Breitenmedien diese Hintergründe kaum benennen, sondern in einseitiger und tendenziöser Weise die Konservativen herunterschreiben, ist ziemlich traurig. Es ist nicht der FIDESZ, der für die schändlichen rassistischen und antisemitischen Auswüchse steht, die die rechtsextreme Partei Jobbik kennzeichnen, die wahrscheinlich bald wieder schrumpfen wird. Aber auch die Kommunisten waren ja immer für ihre kompromisslose Einhaltung der Menschenrechte bekannt – in Ungarn (wie auch in anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks) haben sie es nicht nur geschafft, ungestraft, sondern auch lange an der Macht zu bleiben, ohne dass die deutsche Presse besonders kritisch über sie geschrieben hätte. Das ist nicht mehr nur trist, sondern auf mindestens einem Auge blind, wahrscheinlich aber sogar beabsichtigt. Schlimm! Deutschland kann wirklich heilfroh sein, dass die Partei DIE LINKE (und ihre Vorgänger); die noch 20 Jahre nach der Wende die DDR für KEINEN Unrechtsstaat hält, in diesen so wichtigen 20 Jahren keinen wesentlichen Einfluss auf die deutsche Politik nehmen konnte.
Kommentare zum Artikel
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Für mich spielt der Name einer Partei oder auch die Herkunft keine Rolle, für mich ist der Inhalt wichtig. Ich lehne die Kriege im Irak und Afghanistan grundsätzlich ab, weil deren Gründe nachweislich andere sind, als die man uns erzählt! Deshalb hatte ich nicht die Qual der Wahl, obwohl sich der Umstand bis heute nicht geändert hat.
@ Pectoralis
Genau. In der Tschechei ist die polit. Situation bspw. viel besser. Da gibt es noch wirkliche politische Alternativen.
In Deutschland können Sie heute zwischen sechs linken Blockparteien wählen. Was für ein großes Glück!
Die Berichterstattung der deutschen Presse über Ungarn ist doch nicht überraschend, sie folgt dem seit Jahren üblichen Muster: Links = gut, rechts = böse. Tatsachen, geschichtliche oder aktuelle, die diese Simplifizierung widerlegen, werden nicht zur Kenntnis genommen.