Mögen Sie keine Kinder?

Drei Szenen, dreimal dieselbe Frage. Ähnliches wiederholt sich stündlich und täglich hunderte Male, und immer dreht es sich dabei um ein Mißverständnis: der Ärger richtet sich nicht gegen das Kind als solches, sondern gegen sein unangemessenes Verhalten.

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1. Szene
Eine Frau wandert im Gebirge. Verschwitzt und müde erreicht sie eine idyllisch gelegene Almhütte. Sie läßt sich auf der Terrasse nieder. Die steinerne Kulisse ist grandios. Nachdem der erste Durst gelöscht ist, lehnt sich die Wanderin zurück und streckt die Beine unter den Holztisch. Plötzlich zerreißt unbändiger Lärm die Stille. In die Salven kindlichen Gelächters mischt sich eine männliche Stimme. Die Frau schmunzelt, sie erinnert sich an eigene übermütige Spiele mit Kindern. 
Der Lärm dauert an, wird bald zum Heidenlärm. Kaskadenartiges Gezeter steigert sich zu schrillem Geschrei. Das kreischende Kind gerät in einen hysterischen Ausnahmezustand. Es brüllt, quietscht, lacht, heult auf – alles in einem. Vergeblich bemüht sich die Frau, nicht darauf zu achten, doch die natürliche Stille des Hochgebirges verstärkt den akustischen Effekt. Nach vielen weiteren Minuten qualvoll empfundener Beschallung steht sie mit einem Ruck auf. Sie will sehen, was hinter der Hausecke vor sich geht. Ein Mann treibt dort mit einem etwa drei- bis vierjährigen Kinde Schabernack. Pausenlos wird gekitzelt und gekniffen, geneckt und hochgehoben. Das Kind röchelt zwischen Lachen und Brüllen. Die Frau nimmt nun ihren ganzen Mut zusammen und bittet um etwas mehr Zurückhaltung. In der unmittelbar danach eintretenden Stille kehrt sie erleichtert zurück an ihren Platz, wo sie noch ein Weilchen sitzen will, um die Bergwelt zu schauen, deretwillen sie heraufgestiegen ist.
Da hört sie eine weibliche Stimme hinter sich, die in feindseligem Tone äußert: „Mögen Sie keine Kinder?“

2. Szene
Ein Mann ist unterwegs von München nach Frankfurt. Er hat im Großraumwagen des gutbesetzten IC noch einen freien Platz entdeckt. Der Sitz befindet sich direkt einer automatischen Glastür gegenüber. Dahinter beginnt ein kurzer Gang mit geschlossenen Abteilen. Durch die Wand hindurch ist gedämpft das Lärmen von Kindern zu vernehmen. Unser Mann faltet die mitgebrachte Zeitung auf und beginnt zu lesen. Bald jedoch wird es ihm schwer, sich zu konzentrieren. Die Kinder haben nämlich ihren Bewegungsradius aus dem Abteil hinaus und in den Gang verlegt. Wenn sie der Glastür nahe kommen, öffnet diese sich automatisch. Der Älteste, es ist ein etwa fünfjähriger Junge, stürmt herein und flitzt sogleich wieder hinaus. Zwei jüngere Kinder folgen seinen Spuren mit Freudengeheul. Die Glastür steht nicht mehr still. In immer kürzeren Zeitabständen öffnet und schließt sie sich. Johlend und polternd laufen die drei herein und hinaus und können von dem Spaß gar nicht genug kriegen. Der Mann schielt zum Nachbarsitz hinüber. Da sitzt eine Frau, eine Mittvierzigerin. Sie schaut aus dem Fenster. Die Zugreisenden in der Nähe verhalten sich allesamt so, als merkten sie nichts von Unruhe und Lärm. Der Mann faltet die Zeitung zusammen und steht auf. Er will nach einem Platz im angrenzenden Wagen suchen. Im Vorübergehen wirft er einen Blick ins Abteil, aus dem die Kinder kommen. Dort sitzen zwei Frauen, in angeregte Gespräche vertieft. Auf dem Tisch verstreute Kekskrümel, Bonbons, Limonade, Spielzeug, Anziehsachen und andere Utensilien.
Erfolglos kehrt der Mann zurück an seinen Platz. Die Kinder werden sich schon müde balgen, denkt er; eine vergebliche Hoffnung, wie er bald feststellt. Er begibt sich zu den Frauen und äußert die höfliche Bitte, sie mögen die Kinder zum Verbleib im Abteil bewegen. Eine der beiden Frauen blickt ihn grimmig an und sagt: „Wenn Sie sich gestört fühlen, dann sorgen Sie doch selbst dafür!“ Wieder zurück an seinem angestammten Platz, hört er die Mittvierzigerin vom Fenster gegenüber spitz fragen: „Mögen Sie keine Kinder?“

3. Szene
Zu weit fortgeschrittener Stunde leeren sich im Speiselokal die Plätze. Der Kellner säubert Tische, deckt sie für den nächsten Tag ein. An einem runden Tisch in der Mitte des Lokals sitzen seit den frühen Abendstunden fünf Personen: zwei Frauen, zwei Männer und – ein etwa vierjähriges Mädchen. Das Kind ist über seinem nur zur Hälfte geleerten Teller mit Nudeln eingeschlafen. Eine Stunde lang hat das Kind gegen Müdigkeit und Erschöpfung angekämpft, bis es endgültig vom Schlaf übermannt zusammensackt. Sein Kopf pendelt vor und zurück. Der Arm, über die Tischfläche gestreckt, dient als „Kopfkissen“. Eine Haarsträne kringelt sich über das erkaltete Nudelgericht. Niemanden am Tisch scheint das zu kümmern. Man trinkt, raucht, unterhält sich angeregt. Als die Runde endlich aufbricht, ist es kurz vor Mitternacht. Dem schlaftrunkenen Kind wird der Mantel übergestreift, dann wird es hinausgetragen. Keiner von den Anwesenden hat es gewagt, den Leuten vom runden Tisch die Frage zu stellen: „Mögen Sie keine Kinder?“

Notwendig und klug wäre es anzuerkennen, daß Kinder gewisse Bedürfnisse haben, die schöpfungs- und naturbedingt sind, und die daher nicht ohne Schaden ignoriert werden dürfen, zum Beispiel die Notwendigkeit der Grenzsetzung, das Bedürfnis nach einem Schonraum und nach sinnvoller Rhythmisierung des Tagesablaufes, eine elterliche Lebensführung, die dem Alter des Kindes angemessen ist und Rücksicht nimmt; dies beinhaltet einen vorübergehenden Verzicht der Eltern auf gewisse Tätigkeiten und Freizeitaktivitäten. Eltern, die sich diese Einschränkungen nicht auferlegen wollen, riskieren, daß sich der Unmut der Umgebung auf das unschuldige Kind entlädt, weil es stört ... Wo Eltern keine Rücksicht auf ihre Kinder nehmen, werden diese wohl kaum lernen, auf fremde Personen Rücksicht zu nehmen.

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Karin Pfeiffer-Stolz

Sehr geehrter "kinderrecht"-Kommentator:
Mit Ihrer Kritik an der Schule laufen Sie bei mir offene Türen ein. Ein Diskurs darüber würde den hiesigen Rahmen sprengen. Zentraler Punkt ist: Unsere Kinder sind dieser Gesellschaft lästig, weil sie, wie die Alten, nicht in den Arbeitsprozeß eingegliedert werden (dürfen). Jeder Mensch, auch der jüngste, will jedoch eine nützliche Aufgabe für das Gemeinwesen erfüllen. Ist ihm das verwehrt, so füllt er sein Leben je nach charakterlicher Veranlagung und Temperament mit Ersatztätigkeiten, deren Skala von willenloser Unterwerfung bis zur gewaltbereiter Aufsässigkeit alle Arten von beängstigenden Verhaltensweisen reicht.
Mir ging es in diesem Beitrag darum zu zeigen, daß in unserer Gesellschaft allmählich der Instinkt dafür verlorengeht, welche Lebensbedingungen für Kinder förderlich, und welche schädlich sind. Kinder haben – ich pflichte hier ausdrücklich bei – das Recht auf respektvolle Behandlung. Dazu gehört aber auch eine sinnvolle Erziehung im Rahmen des täglichen Lebenskampfes, wie es die neunfache Mutter Anna Wahlgren sehr schön in ihrem KinderBuch (Beltz Verlag) beschreibt. Dieses Buch möchte ich übrigens allen Eltern dringend zur Lektüre empfehlen! Ebenso das nachgenannte Werk: Gordon Neufeld und Gabor Maté, Unsere Kinder brauchen uns, Genius Verlag.
Kinder werden in unserer Gesellschaft nicht wirklich GEBRAUCHT. Die falsche Toleranz, die wir ihrem aus Unkenntnis oder Frustration gezeigten Fehlverhalten entgegenbringen, ist keine Toleranz, sondern beschämende Gleichgültigkeit. Gleichgültigkeit verletzt zutiefst! Unsere Kinder spüren das das alles, auch wenn sie es nicht in Worte kleiden können.
Die Massenschule ist ein Martyrium für die kindliche Seele – keinesfalls ist sie gleichwertiger Ersatz für die im vorigen Jahrhundert nach und nach aufgelösten „Zwergschulen“, die noch so etwas wie Heimatgefühl erzeugen konnten.

Gravatar: Susan

Interessante Darstellung
Die Frage ist, richtet man sich gegen die Erziehung der Eltern bzw. gegen die Gesellschaft, wenn man etwas sagt?

Gravatar: Klaus L.

Eine sehr schöne Darstellung der wirklich täglichen Vorkomnisse, mir ist eine solch bildliche Erzählung nicht gegeben, vielen Dank dafür.
Ich kann Ihnen nur voll zustimmen, ich liebe Kinder und die sollen auch toben und schreien. Aber bitte nur dort, wo es als solches auch vorgesehen ist. Ich gehe gerne auf Konzerte (z.B. AC/DC) oder auch mal zu einem Fußballspiel. Wenn ich aber nun in einem Cafe in Wien lauthals "Highway to hell" gröhle, kann ich dann auch die schlecht gelaunten Passanten fragen "mögen Sie keine Deutsche?"

Gravatar: Nicole

Ich gebe ihnen Recht. Natürlich dürfen Kinder toben, schreien, spielen, aber mit Rücksicht auf die anderen Mitmenschen. Nur die Eltern können dafür sorgen, dass ihnen Rücksicht gelehrt wird. Bei den Beispielen ist es sicher so, dass die Kinder immer ruhig sein und Rücksicht auf ihre Eltern nehmen müssen! Weil die ertragen den Kinderlärm bestimmt auch nicht ohne Ende. Bei uns ist es so: Hier herrscht oft Kinderlärm, aber meine Jungs wissen wann Schluss ist, allerdings auch nur durch meine deutliche Aussage:"RUHE!", das hat nichts damit zu tun, dass ich Kinder nicht liebe, irgendwann ist der Pegel einfach überschritten.

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