Mein Nachbar ist ein richtig guter Mensch. Sein schöner Garten mit den bunten Blumen, den sauber gepflasterten Wegen, den unkrautfreien Beeten und der gepflegten Wiese ist eine Augenweide. Im Herbst biegen sich die Äste der Obstbäume unter den reifen Früchten: Äpfel, Birnen, Aprikosen, Kirschen. Im sauber umzäunten Beet reifen saftige Erdbeeren heran. Stachelbeeren, Himbeeren, Brombeeren lassen das Wasser im Munde zusammenlaufen. Salatköpfe schwellen grün, Möhren und Radieschen sind erntereif, es ist einfach eine Pracht. Einen Zaun hat dieser feine Mensch nicht errichtet, denn er will niemandem den Anblick der Pracht und Schönheit seines Anwesens verwehren, und wer es sich näher anschauen will, sei stets willkommen.
Heute stehen Sie wieder einmal am Fenster und schauen hinüber in des Nachbars bezaubernden Garten. Seit Tagen schon tummeln sich etliche Leute darin. Einige pflücken Blumen, andere ernten Obst und Gemüse. Solch prächtige Blumen und solch saftiges Obst gibt es nirgendwo zu kaufen. Und schon gar nicht umsonst!
Auf der Wiese steht ein Zelt. Eine Gruppe junger Leute spielt Fußball. Sie johlen und lachen. Jetzt fliegt das Leder herüber in Ihren eigenen Garten. Mißvergnügt gehen Sie hinaus, holen den Ball aus dem Beet und werfen ihn in den Nachbargarten zurück. Immerhin bedankt sich einer der jungen Männer freundlich, als er den Ball auffängt. Das versöhnt.
Da fällt Ihr Blick auf den Nachbarn, diesen guten Menschen. Er wirkt müde, und Sie entbieten ihm einen freundlichen Gruß. Er kommt zum Zaun heran, den Sie zwischen den beiden Grundstücken beharrlich aufrecht erhalten, obwohl der Nachbar Ihnen immer wieder vorgeschlagen hat, ihn wegzureißen.
„Sie sehen müde aus", sagen Sie mitfühlend, als Sie bemerken, wie sich der gute Nachbar auf einen Pfosten stützt.
„Ich habe schon drei Nächte lang nicht mehr richtig geschlafen", gesteht er.
„Oh, sind Sie krank?" fragen Sie beklommen, denn einen so guten Menschen bekommt man als Nachbarn nur ein einziges Mal im Leben zugeteilt.
Eine Bierflasche kommt geflogen. „Vorsicht!" rufen Sie und können durch Ihre Geistesgegenwart Ihrem guten Nachbarn das Leben retten, weil er sich noch rechtzeitig bückt.
„Sie meinen es nicht so", sagt er. „Es sind alles nette Leute. Sicher, sie könnten mich fragen, ob ich auch etwas Obst und Gemüse für mich übrig haben will. Aber sie werden das noch lernen."
Ich bin da skeptisch. „Diese Fremden sind etwas rücksichtslos, meinen Sie nicht? Sie machen Musik bis morgens früh. Mein Schlafzimmer geht zwar auf die andere Seite, selbst da höre ich gedämpften Lärm."
Mein guter Nachbar macht beschwichtigende Handbewegungen. Das gehe alles vorüber, sobald sich die erste Freude gelegt habe, ganz sicher. Viel mehr Sorgen hingegen bereite ihm der Nachbar auf der anderen Gartenseite. Der habe sich böse über den Lärm beschwert. Er drohe sogar mit einer Klage.
„Der war immer schon etwas komisch. Wenn da mal ein Hund auf seine Garagenauffahrt ge-, ge-, Sie wissen schon, dann hat dieser unmögliche Mensch sofort eine Anzeige gemacht. Der haßt Hunde. Da kennt er keinen Pardon. Was kann denn so ein Vieh dafür. Und er haßt auch junge Leute. Jetzt droht er auch noch mir mit einer Anzeige, dieser Miesling."
Traurig schaut er aus, Ihr guter Nachbar. Und so grau im Gesicht. Das hat er nicht verdient. Aber als der Fußball wieder geflogen kommt, fängt er ihn geistesgegenwärtig auf und schleudert ihn lachend zurück zu der Gruppe. „Schauen Sie, wie glücklich sie sind! Dagegen kann man nun wirklich nichts haben!"
Nein, sagen Sie. Dagegen nun wirklich nicht.
Am Ende des Sommers erinnert im Garten Ihres guten Nachbarn nichts mehr an die ehemalige Pracht. Der Blick aus Ihrem Küchenfenster zeigt ein zertrampeltes Areal voller Erdklumpen, zerzauster Sträucher und geplünderter Bäume mit geknickten Ästen. Welch ein Jammer! Mit einem Mal fällt Ihnen auf, daß Sie den Nachbarn seit geraumer Zeit nicht mehr gesehen haben. Sie hören sich um und erfahren, daß er in einer Klinik für Nervenkranke untergebracht ist. Ihnen ist nicht ganz klar, wie es soweit kommen konnte. So ein guter Mensch!
Ist Ihr Nachbar krank geworden, weil er selbst zu gut war, während die Menschen zu böse sind? Oder ist er deshalb krank geworden, weil er zu dumm war, um den wahren Charakter der Menschen realistisch einzuschätzen? Ist er gescheitert, weil er keine Grenzen setzen konnte? Wußte er wirklich nicht, daß allein Grenzen Frieden stiften?
Und während Sie um eine Antwort ringen, ist Ihnen zumindest eines klargeworden: Den niedrigen Zaun, der Ihr eigenes kleines Grundstück eingrenzt, werden Sie im Sommer ein Stückchen höher ziehen. Sie lieben nämlich die Menschen. Sie lieben auch den Fußball, und Sie lieben das Zelten. Sie mögen Musik und gelegentlich auch das jugendliche Chaos. Aber all dies gehört Ihrer Meinung nach zur rechten Zeit an seinen rechten Ort. Wo immer das sein mag, es ist gewiß nicht Ihr privater Garten.
Kommentare zum Artikel
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@L.Beier
Mir geht es genauso wie Ihnen, dabei dachte ich schon, Leute mit meinem Empfinden seien so gut wie ausgestorben. Herzliche Grüße an SIE!
Ich musste beim Lesen des Artikels sofort an die heute übliche und weit verbreitete Duzerei denken. Mit ihr tue ich mich ausgesprochen schwer und falle manchmal sogar unangenehm auf, wenn ich bekenne, dass ich lieber per "Sie" bin. Das Sie für mich auch so etwas wie ein Zaun, der mich schützt und mir Fremde ein wenig "vom Leib hält".
@RealDeal
Ihren Worten stimme ich 100prozentig zu. Danke!
Ich kenne den Spruch: "Liebe deinen Nachbarn, aber reiß den Zaun nicht ein!"
Nicht umsonst heißt es: "Gute Zäune machen gute Nachbarn".