Wenn ein Journalist schon zu Beginn eines Interviews signalisieren möchte, dass er sich null darauf vorbereitet hat, von der Materie keinen Schimmer besitzt und daher bei Aldi an der Kasse besser aufgehoben wäre, dann stellt er seinem Gegenüber den Klassiker unter den Nicht-Fragen: „Wie fühlt es sich an, wenn man…“ (...Formel-1-Weltmeister ist, einen Hit gelandet hat, Oscar-Preisträger wurde o.ä.). Man kann natürlich auch auf andere Weise anzeigen, dass man ein investigativer Vollpfosten ist. Zum Beispiel, wenn man für „Die Zeit“ arbeitet. Und über eine in diesem Sommer wind- und wetterbedingt erhöhte Zahl von Badeunfällen an der Ostsee ein paar Zeit-typisch miserabel honorierte Zeilen schinden möchte. Dann stellt man dem Leiter der Deutschen Lebensrettungsgesellschaft in Schleswig-Holstein die unvermeidliche Frage aller journalistischen Grünschnäbel: „Nordsee ist Mordsee, hieß es einst. Heute ist die Ostsee mörderisch. Liegt das am Klimawandel?“
Der befragte DLRG-Mann, obschon vielleicht kein ausgewiesener Klimatologe, schafft es immerhin, auf derlei Stuss halbwegs diplomatisch einzugehen: „Eine solche Wetterlage hat es hier schon seit Jahrzehnen nicht gegeben. Man hat das von der Ostsee nicht erwartet.“
Es ist sicher nützlich, darüber nachzudenken, ob der Klimawandel dafür verantwortlich sein könnte, dass in Shanghai ein Dim Sum vom Teller glitscht oder der Hund des Nachbarn Stress beim Wasserlassen hat. Schließlich gilt es, die Dinge ganzheitlich zu betrachten, oder? Aber ist ein Binnenmeer wirklich „mörderisch“ zu nennen, nur weil es an dessen Küsten ein paar Wochen lang stark windet und strömt, was man vom ihm, dem ansonsten offenbar als lammfromm eingeschätzten Gewässer, so „nicht erwartet“ hat? Könnte es sein, dass die etwas angestiegene Zahl der Badeunfälle nicht auf die Rache der CO2-geschundenen Natur zurückgeht, sondern auf ein ungewöhnlich hohes Aufkommen von Badegästen in einem Sommer, der sich zumindest im Norden der Republik so heiß anfühlt wie zuletzt der des Jahres 2003? Weil es sich im Leben nämlich immer so verhält: Wo viel los ist, passiert auch viel.
Und könnte die Tatsache, dass in diesen Tagen „überwiegend männliche Badegäste jenseits der fünfzig“ (Zeit) ertranken, womöglich aber auch gar nichts „mit dem Leistungsdruck zu tun haben, der auf dieser Gruppe lastet? Der Mann im Führungspositions-Alter gesteht sich nicht zu, dass er etwas nicht bewältigen kann?“ (Zeit, dito). Sondern dass die höhere Zahl ertrunkener älterer Männer schlicht damit zu tun hat, dass heutzutage viel mehr Männer jenseits der fünfzig an Ostsee-Küsten planschen, wenngleich diese Männer mehrheitlich eher nicht in Führungspositionen tätig sind? Dass es vielleicht keinen gar so großen Klimawandel, mit Sicherheit aber einen umso größeren Demografiewandel gibt?
Wie auch immer. Bei der Zeit braucht niemand einen Extremsommer, damit ihm die Birne glüht. Am Speersort zu Hamburg stellen und beantworten sie dämliche Fragen auch in der kühleren Jahreszeit. Dafür bürgt immer noch der Theo.
www.zeit.de/2014/32/baden-ostsee-dlrg-thies-wolfhagen/komplettansicht
Zuerst erschienen auf achgut.com
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