Luther: Ein Leben voller Spannungsfelder

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Richard Friedenthal. Luther – sein Leben und seine Zeit. Piper: München, 2004. 690 Seiten. Gebraucht ab 0,85 Euro.

Der jüdische Gelehrte und Protestant Friedenthal (1896-1979) hat eine Goethe- und eine Luther-Biografie vorgelegt. Klar, er war kein Theologe, sondern Lyriker und Schriftsteller. Zu diesem Werk habe ich anlässlich eines Vortrage eine Reihe Zitate zusammengetragen.

1. Luther in Zahlen

20’000 (Kilometer unterwegs)

Luther ist viel gewandert, lange Zeit zu Fuss, später auch zu Pferd oder im Wagen. Er hat grosse Teile Deutschlands mit den Fusssohlen und vom Sattel aus kennen gelernt, auch die Schweiz, Teile Italiens. Man hat berechnet, dass er etwa 20’000 km auf diese Weise hinter sich gebracht hat im Laufe seines Lebens. Die Strasse war damals etwas anderes als heute. (…) Wegelagerei war so üblich wie heute Banküberfälle. (…) Entlassene Landsknechte zogen dahin auf der Strasse, die nur ein tief ausgefahrener Feldweg war; auch sie plünderten oder stahlen, wo sie konnten; landfahrendes Volk, Gaukler, Bettler, die ebenfalls oft Gaukler waren und mit furchtbaren Verstümmelungen Mitleid erwecken wollten, arme Scholaren, Mönche, die Halb-Mönche und Halb-Nonnen der Begarden und Beginen. (…) Die Mönche hatten, der Regel entsprechend, mit niedergeschlagenen Augen, die Hände in den Ärmeln der Kutte, dahinzupilgern. Seine Blicke sollten nicht schweifen und schon gar nicht an einem Weibe haften bleiben. Luther wird noch so gegangen sein. Aber sein Ohr war sehr scharf. Er hat schon damals begonnen, dem gemeinen Mann auf das Maul zu sehen (…) Von der Strasse, vom Markt, hat er sich den Reichtum seiner Sprache aufgelesen, die auch die vielen Berufsausdrücke der Handwerker umfasste, das stille Gebet der Frommen und die wilden Flüche und massiven Schimpfworte der Fuhrleute. (S. 87/88)

166 (Kapitel)

die Kapitel seiner beiden Lieblingsbücher, Psalmen (150) und Römer (16), zusammengezählt

20 – 30 (Publikationen/Jahr)

Seine Arbeitskraft ist auch von seinen Feinden bewundert worden; in seiner ersten Kampfzeit schon hat er zwanzig, dreissig Publikationen im Jahr in die Welt geschleudert – meist kleine Hefte – aber auch diese wurden noch mitten im Druck erweitert, verbessert oder verschlechtert (…) Zuweilen hat er drei Drucker zu gleicher Zeit in Atem gehalten. Die Lehrbuben mit den Fahnen warteten vor seiner Tür, liefen hurtig davon und kamen am nächsten Tage wieder. All dies vollbrachte Luther allein, in seinem kleinen Stübchen über dem Verbindungsgang zwischen Kloster und Brauhaus, ohne Sekretär und sonstige Hilfe. In Wittenberg entstand eine ganze Druckindustrie, nach damaligen Begriffen, und die Drucker-Verleger wurden reich. Luther bekam kein Honorar. Nachgedruckt, oft in zehn und mehr Ausgaben, wurde das meiste ausserhalb Wittenbergs, und ein weites Netz von Druckorten und literarischen Stützpunkten spannte sich aus, vor allem in Süddeutschland. (S. 257)

„Ein guter starker Zorn erfrischt das Geblüt“, meinte er, und seine zornigsten Hefte feuerte er sogleich in die Druckerei, ohne sie auch nur noch einmal durchzulesen. (S. 258)

95 (Thesen)

Das Ganze ist keine Lehre und kein System und konnte das auch kaum sein. Es ist eine lose Folge von Sätzen (…) Manche Thesen sind fast ein Selbstgespräch und handeln von Luthers innerster persönlicher Überzeugung. Andere haben den Hall und Schwung politischer Kampfparolen. Wieder andere sind Predigt für eine noch unsichtbare Gemeinde. (…) Es wirkte, und Luther war am meisten überrascht, welche Wirkung es hatte. Die Adressaten, die Gelehrten, meldeten sich nicht; niemand kam zur Disputation. Das Volk antwortete in allen seinen Schichten, das einfache Volk, die Bürger, die Geistlichen, Künstler. (…) Hier war nun ein einfacher Mönch, so verstand man die Thesen, der laut sagte, was zu sagen war. (S. 174)

10 (Wochen Übersetzungsarbeit für das Neue Testament)

In den letzten Monaten seines Wartburgaufenthaltes macht er sich daran, das Neue Testament zu übertragen. Eine übermenschliche Aufgabe für einen einzelnen, der nur ganz dürftige Hilfsmittel zur Hand hatte: den griechischen Urtext (…) seine lateinische Vulgata, in der er gross geworden war im Kloster (…) Keine Wörterbücher oder Kommentare, keine Helfer, die er erst später gründlich heranziehen konnte (…) Für das NT brauchte er etwa zehn Wochen, eine Zeit, in der es eigentlich einem Abschreiber schon schwer fallen würde, den Text nur eben aus einer Vorlage zu kopieren. (S. 369)

1 (Jahr mit dem gleichen Bettzeug)

„Ehe ich heiratete, hat mir ein ganzes Jahr hindurch niemand das Bett zurecht gemacht, in dem das Stroh von meinem Schweiss faulte. Ich war müde und arbeitete mich den Tag ab und fiel so ins Bett, wusste nichts darum.“ (S. 538) 

42 (Heirat)

Der entlaufene Mönch und die entlaufene Nonne! Das war die Formel. (S. 528)

Dieser Schritt war seine letzte grosse Protesthandlung. Es bedeutete sogleich schon eine Resignation. (S. 530)

Von diesem kleinen Familienkreis, der sich rasch vergrösserte, hat er in seinen verbleibenden Jahren versucht, nach dem grossen Schiffbruch eine kleine Welt aufzubauen. (S. 531)

Sie herrschte über das Haus, ihren, Mann, was von diesem mit Ergebenheit hingenommen wurde, denn Luther war völlig unfähig, auch nur den kleinsten Haushalt zu organisieren. (S. 532)

62 (Tod)

„Wir sind Bettler, das ist wahr.“ (S. 647)

 

2. Luther – ein Leben voller Spannungsfelder

Fröhlichkeit und Schwermut

Beides liegt bei Luther stets zusammen, die Fröhlichkeit und die Schwermut. (S. 36)

Schwere Depressionen hat Luther häufig gehabt, wie alle starken Naturen und schöpferischen Geister; er hat sie nur immer viel offener und nachdrücklicher bekannt als andere. (S. 38)

Leicht nimmt er gar nichts, sondern alles schwer. (S. 127)

Luther hat den Teufel, den Leibhaftigen, sehr oft in seiner Nähe verspürt. Er ist für ihn der Geist des Trübsinns, so wie König Saul vom bösen Geist geplagt wird, den David durch Saitenspiel vertreiben muss. (S. 358)

Der knochige Pommer Bugenhagen wurde sein Beichtvater. In seinen vielen Anfechtungen und Niederlagen flüchtete er sich zu dem gelassenen Mann. Bugenhagen kanzelte ihn energisch ab: Was sprichst du da von Gottes Zorn, der dich heimsucht. Gott ist allerdings zornig auf dich, er spricht: Was soll ich nur noch mit diesem Menschen anfangen? Ich habe ihm so viele ausgezeichnete Gaben verliehen, und dennoch will er an meiner Gnade verzweifeln. (S. 400)

Luther sah in der Musik Trost bei Trübsinn und Anfechtungen. (S. 564)

Gesundheit und Krankheit

Es ist fraglich, ob sein zäher Körper die kommenden Strapazen ausgehalten hätte ohne die sehr wohltätige und gründliche Bekanntschaft mit der Mutter Natur und frischer Luft. (S. 118)

Der harte, fast abgezehrte Kopf imponierte, Luthers Leidenschaft und Feuer, aber auch seine Eindringlichkeit und Schlagfertigkeit, die Sicherheit (…) Und mehr noch vielleicht seine Herzlichkeit im Umgang. (S. 201)

Luther ist „mittelgross, hager, von sorgen und vielen Studien so ausgemergelt, dass man aus der Nähe alle Knochen im Leibe zählen kann. Aber er steht noch im frischen Mannesalter. Seine Stimme klingt hell und klar.“ (S. 249)

„Darf unser Herrgott, gute, grosse Hechte, auch guten Rheinwein schaffen, so darf ich wohl auch essen und trinken.“ (S. 545)

Er hat häufig zu viel gegessen, zu hastig getrunken, eine sehr ungesunde Diät. (S. 528)

Luther ist ein schwieriger und eigenwilliger Patient. (S. 548) 

Öffentlichkeit und Rückzug

(Auf dem Reichstag zu Worms) Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir, Amen. (S. 327)

Das Stübchen im Verbindungsbau des Klosters blieb seine Arbeitsstätte sein ganzes Leben lang. (S. 114)

Luther ist auf eine sehr faszinierende Weise der Mann der Einsamkeit und zugleich der Öffentlichkeit und breitesten Wirkung. Das allein mit seinem Gott ist schon die innerste Zitadelle seines Glaubens; nur da fühlt er sich ganz sicher, wenn er auch ständig seine Anfechtungen bestehen muss. Sobald er heraustritt vor die Welt, um zu verkünden, was auch für ihn eine unbedingte Forderung bedeutet, wird er unsicher und laut; er schreit oft, bereut dann seine Übereilung und Heftigkeit, gar nicht selten bis zum Extrem, widerruft unbedenklich kühn Gesagtes und das macht seine Schriften so widerspruchsvoll und auch anfällig für die verschiedensten Auslegungen. Einheit ist nur in seinem Leben und in dem, was er als seine innerste Überzeugung ansah. Da allerdings kannte er weder Schwanken noch Widerruf. (S. 221)

Leidenschaft und Systematik

Luther war überhaupt kein grosser Systematiker. Er las mit Gefühl, mit Leidenschaft, was ihn ansprach. (S. 66)

Luther ging nicht überlegt, aber mit unfehlbarem Instinkt vor. (S. 202)

Luthers Schriften waren kein Programm, auch kein entwickeltes System, aber sie passten in jedes Programmen, oder besser, sie entsprach all den dumpfen Hoffnungen und Wünschen, die umgingen. (S. 268)

Nicht einmal in seinem Studierzimmer herrscht Ruhe, geschweige Ordnung. (S. 542)

Seine Schriften sind grösstenteils Improvisationen, aus dem Augenblick geboren, und für den Tag bestimmt. Er selber hat sie nicht anders angesehen und von vielen gewünscht, dass sie vergessen würden. (S. 543)

Weltfremder Mönch und Meinungsmacher

Es gibt kein Problem, zu dem Luther sich nicht äussern muss. (S. 466)

Für Luthers Leben ist es von höchster Auswirkung, dass er seine entscheidenden Entwicklungsjahre in Zeitlosigkeit (im Kloster) verbrachte und dass er dann mit einem Male in die Welt geworfen wurde, in der die Entscheidungen Jahr um Jahr, auch Monat um Monat, Tag für Tag, an ihn herantraten und Aktion forderten. Oft hat er sich nach der Stille des Klosters zurückgesehnt. (S. 42)

Einmal begann die Zeit seines Lebens, wo er in die Tagespolitik hineintritt oder hineingerissen wird. (S. 440)

Luthers Tragik war es, dass er nicht mehr ein blosser Evangelist und Gewissensrat sein konnte, sondern als Sprecher des Volkes aufgefordert wurde, sich zu einer dringenden Notlage zu äussern. (S. 522)

Volltreffer und Missverständnisse

Einfachheit ist das Geheimnis von Luthers Wirkung. (S. 145)

„Man muss nicht die Buchstaben in der lateinischen Sprache fragen, wie man soll deutsch reden, wie diese Esel tun, sondern man muss die Mutter im hause, die Kinder auf der Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt drum fragen und denselbigen auf das Maul sehen, wie sie reden und danach dolmetschen. So verstehen sie es dann und merken, dass man deutsch mit ihnen redet.“ (S. 373)

Gott will den Streit, nicht die Ruhe. Er meinte es geistig, es wurde weltlich verstanden. (S. 241)

Wie immer geht Luther von seinen persönlichen Erfahrungen aus: Das Wort hat durch ihn gewirkt, über alle seine Erwartungen hinaus, nur auf das Wort kommt es an, es wird siegen, nicht die Waffen. (S. 386)

Erneuerer und Bewahrer

Nichts lag Luther ferner, als ein Rebell zu werden. Er war eine von Grund auf konservative Natur und ist das in vieler Beziehung stets geblieben. Er erkannte die Ordnung der Dinge an, wie sie nach seiner Auffassung von Gott gegeben war. (S. 129)

Ein Geistlicher aus Hamburg: „Du sprichst die Wahrheit, guter Bruder Martin, aber du wirst nichts ausrichten. Geh in deine Zelle und sprich: Gott erbarme mich meiner!“ (S. 192)

Luther wünscht sich keine Vergewaltigung der Schwachen, die noch am alten Ritus hängen. Unwichtig erscheinen ihm all diese Äusserlichkeiten. Auf die innere Wandlung kommt alles an: Das Wort ist nun da, es soll recht gepredigt werden, dann werden die Menschen sich wandeln, so wie er sich gewandelt hat, und damit werden auch ohne weiteres die alten Formen sich ändern. Er unterschätzt völlig die gewaltige Macht des Kultus, der Riten. (S. 385)

Luther war eine sehr zusammengesetzte Natur, ungeduldig und behutsam zugleich, Feuergeist und Revolutionär, dem es nicht darauf ankam, auch das Chaos anzurufen, und konservativ in dem Sinne, dass er bewahren oder langsam, allmählich reformieren wollte. (S. 559)

Lernpunkte 

Ich wünsche mir…

… mehr von Luthers innerer Betroffenheit über meine Sünde

… Gegenüber, die mich immer wieder auf den Boden bringen

… einen Ort des Rückzugs, eine „Home base“

… Leidenschaftlichkeit, die meine Angst Harmonie zu zerstören, überwiegt

… Vorsicht vor einem Urteil in Dingen, von denen ich keine Ahnung habe

… Weisheit um die Gratwanderung zwischen Kontinuität und Veränderung zu gehen

… meiner Gesundheit Sorge zu tragen ohne zimperlich zu werden

… einfacher zu werden ohne an Tiefgang einzubüssen

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