Kinder müssten so früh wie möglich sozialisiert werden, Gemeinschaftsfähigkeit könne nur im Kollektiv erworben werden

Kita-Lüge 5: Die Sozialisation eines Kindes ist ein komplexer Vorgang, den man nicht mit gewaltsamen Maßnahmen erzwingen kann. Er steht derzeit sehr hoch im Kurs, während „Individualisierung“ als unerwünscht gilt. Auch und gerade hier ist jedoch eine Differenzierung nach Altersstufen erforderlich.

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In Wirklichkeit wird gerade die soziale Karriere der zu früh kollektivierten Kinder nachhaltig erschwert. So werden schon in diesem frühen Alter antisoziale Verhaltensweisen gebahnt, wie beiden folgenden Untersuchungen belegen:

Eine Längsschnittstudie (Thomas Achenbach, Universität Vermont) an 3000 amerikanischen Kindern und Jugendlichen, die vom Säuglingsalter ab in „daycare“-Einrichtungen verbringen mussten, ergab einen deutlichen Rückgang sozioemotionaler Kompetenzen; sie waren verschlossener, mürrischer, unglücklicher, ängstlicher, depressiver, aufbrausender, unkonzentrierter, aggressiver und häufiger straffällig.(5)

Um diese Ergebnisse zu verifizieren, initiierte das renommierte National Institute of Child Health and Development (NICHD) Anfang der neunziger Jahre eine breit angelegte internationale Studie, in die weltweit führende Spezialisten mit einbezogen wurden: Mehr als 1300 Kinder ab dem Alter von einem Monat wurden über 15 Jahre lang begleitet und die kognitive Entwicklung sowie das Verhalten in diesem Zeitraum detailliert gemessen. Mehr als 300 wissenschaftliche Studien dienten der Auswertung.(6)

Der Neuropädiater und Leiter des Bielefelder Sozialpädagogischen Zentrums, Rainer Böhm, fasste die Ergebnisse in einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zusammen - auch nachzulesen im Internet unter „Die dunkle Seite der Kindheit“7. Er schreibt: „Am beunruhigendsten war indes der Befund, dass Krippenbetreuung sich unabhängig von sämtlichen anderen Messfaktoren negativ auf die sozioemotionale Kompetenz auswirkt. Je mehr Zeit kumulativ Kinder in einer Einrichtung verbrachten, desto stärker zeigten sie später dissoziales Verhalten wie Streiten, Kämpfen, Sachbeschädigungen, Prahlen, Lügen, Schikanieren, Gemeinheiten begehen, Grausamkeit, Ungehorsam oder häufiges Schreien. Unter den ganztags betreuten Kindern zeigte ein Viertel im Alter von vier Jahren ein Problemverhalten, das dem klinischen Risikobereich zugeordnet werden muss. Später konnten bei den inzwischen 15 Jahre alten Jugendlichen signifikante Auffälligkeiten festgestellt werden, unter anderem Tabak- und Alkoholkonsum, Rauschgiftgebrauch, Diebstahl und Vandalismus […]. Neuere wissenschaftliche Daten belegen, dass es sich bei diesen nur um die sprichwörtliche Spitze des Eisberges handelt […].“

Die Ergebnisse dieser Studie müssen die erheblichen Zweifel untermauern, die eine sorgfältige Beobachtung von Kleinstkindern ergibt: Bis zu einem Lebensalter von circa drei Jahren sind sie aufgrund des Stadiums ihrer Ichentwicklung noch nicht in der Lage, ein Sozialverhalten zu zeigen, das diesen Namen auch verdient. Wenn sie nicht durch zu viel Angst und Stress daran gehindert werden, sind sie zwar neugierig, befühlen und betasten ihre Kameraden wie ein willkommenes neues Spielzeug. Soziales Verhalten jedoch, das sich durch die Fähigkeit zur Zurücknahme der eigenen Person, Einhaltung von Regeln und Empathie äußert, erlernen nur sicher gebundene Kinder in späterem Kleinkindalter störungsfrei. So folgert auch Rainer Böhm aus den Ergebnissen der NICHD-Studie: „Durch nichts zu belegen ist die Hoffnung auf Förderung des Sozialverhaltens, die viele Eltern derzeit den frühen Besuch einer Krippe in Betracht ziehen lässt.“ (7)

(5) Thomas M. Achenbach, (2010): Multicultural evidence-based assessment of psychopathology at ages 1½-18 years. Transcultural Psychiatry, 47, 707-726.

(6) NICHD: www.nichd.nih.gov/research/.../seccyd.aspx

(7) Rainer Böhm: Die dunkle Seite der Kindheit, FAZ vom 4.4.2012

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Gravatar: Dr. Gerd Brosowski

„Wo Gold spricht, gilt jede andere Rede nichts“, sagt das Sprichwort. Die Unterbringung der Kleinsten in Krippen wird vom Chor der Lobbyisten unisono verlangt, und da rufen viele mit: Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften, Sozialindustrie. Es grenzt an ein Wunder, wenn durch dieses Geschrei noch kritische Stimmen wie die von Frau Oppermann durchdringen können, wenn es noch wissenschaftliche Untersuchungen gibt, welche die üblen Folgen der staatlichen Verkrippung nachweisen. Großangelegte, unabhängige Untersuchungen dazu kommen fast nur noch aus den USA; auch Frau Oppermann beruft sich darauf.
Ein weiteres Beispiel einer solchen Untersuchung hat – Ehre wem Ehre gebührt – der SPIEGEL in einem großen Bericht mit zugehöriger Buchbesprechung vorgestellt:
„Protokoll des Grauens“ ( SPIEGEL 8/2014, S. 124 ff.). Im Untertitelt hieß es dazu: „Hirnforscher haben das Schicksal rumänischer Heiminsassen verfolgt und mit dem von Kindern in Pflegefamilien verglichen“.
Der Artikel fasst eine 416 Seiten starke Untersuchung von Forschern der Universität Harvard zusammen: Charles Nelson et al. : „Romania’s Abondonend Children“, Harvard University Press, Cambridge.
Es würde hier zu weit führen, den Bericht detailliert vorzustellen. Ein paar herausgegriffene Zitate müssen genügen. Etwa zur Frage, ob Folgen der Vernachlässigung zu heilen sind:
Charles Nelson fasste den Befund dazu so zusammen: „Für die Symptome der Vernachlässigung ist Bindung die beste Kur.“ Fügen wir als Folgerung hinzu: Damit die Symptome der Vernachlässigung gar nicht erst auftreten, ist die Bindung in einer Familie, auch in einer Pflegefamilie, notfalls bei einer Tagesmutter, die beste Vorsorge.
Wie reagierten die im Heim Beschäftigten auf die Tätigkeit der Forscher? Hierzu schreibt der SPIEGEL : „Mit Misstrauen und Unbehagen begegneten die Schwestern von St. Catherine den Forschern, die in ihr Reich eingedrungen waren….Denn sie wussten: Das Waisenhaus in Bukarest ist das Herzstück einer ausgedehnten Betreuungsindustrie in Rumänien – und die Forscher aus Amerika stellten diese Industrie in Frage.“ Und fügt einen Rückblick auf die kommunistischer Ära an : „Die Aufgabe der Erziehung indes war keineswegs nur den Familien vorbehalten. Gezielt warben Ärzte und Sozialarbeiter dafür, im Fall von Schwierigkeiten die Kinder lieber beim Staat in Obhut zu geben. Nirgendwo werde besser für sie gesorgt als dort.
Getrieben von Ceausescus Wahn, ein kopfstarkes Volk gefügiger Untertanen heranzuzüchten, wuchs so in den Heimen ein Heer seelischer Krüppel heran.“
Was geschieht heute hierzulande ? Da wird das Almosen namens Betreuungsgeld von der Familienministerin als „Herdprämie“ verunglimpft. Hätten die armen Kinder in Rumänien nur einen Herd gehabt, an den sie sich hätten flüchten können!
Liest sich der Rückblick auf die Zustände in der Kommunistenzeit nicht wie ein Vorausblick auf das, was hierzulande sich anbahnen könnte? Ist das Lied vom Staat als dem besseren Erzieher, das die Sozialarbeiter des Ceausescu angestimmt haben, nicht auch bei uns zu hören?

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