Imre Kertész und das Abendland

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Die essayistischen Äußerungen des ungarischen Autors Imre Kertész, bekannt für seine außergewöhnlich scharfe intellektuelle Durchdringung der Kulturkatastrophe des Holocaust, werden gerade in Deutschland gerne dann angeführt, wenn gezeigt werden soll, dass die nazi-deutsche Massenvernichtung der europäischen Juden mehr Einwanderung und mehr Multikulturalismus, also insgesamt weniger „Abendland“ zur Konsequenz haben müsse. In dieser sozialdemokratisch-grünen Agenda liegt einer der Gründe für die Beliebtheit des Ungarn bei der kulturellen Elite in Deutschland. Es handelt sich jedoch um ein Missverständnis, natürlich ist nichts für Kertész falscher als das.

Denn Kertész liebt die abendländische Kultur - und meint genau sie, wenn er von „Europa“ spricht. Er liebt sie, obwohl sie zum Höllensturz des Holocaust fähig war oder ihn zumindest nicht verhindert hat, besonders innig. Die schreckliche Konsequenz des Holocaust ist für ihn gerade nicht die Ablehnung dieser wunderbaren Kultur, sondern in tragischer Weise die Unmöglichkeit, sie zu verteidigen. Wer auch immer ihre oft unerreichten Vorzüge benennt, muss heute damit rechnen, als kulturchauvinistisch, bestenfalls eurozentristisch beschimpft zu werden. Andere Kulturen, für sich gesehen zweifellos von eigenem Recht und Verdienst, trumpfen auf aus dem einzigen Grund, weil sie anders sind, und werden von der Politik und Intellektuellen hofiert, die aus dem Holocaust die Lehre vom Scheitern der abendländischen Kultur gezogen haben.

Kertész ist für ein solch plumpes Fazit viel zu intelligent. Das Dilemma besteht für ihn vielmehr darin, dass Deutschland und Europa aus der moralischen Katastrophe bis heute keinen Ausweg gefunden haben und leicht angreifbar geworden sind. Jede berechtigte abendländische Kritik an Anderen wird gekontert mit dem Hinweis auf den monströsen Sündenfall der Shoa. Mag auch keinerlei Zusammenhang bestehen, das beispiellos Böse von Auschwitz liefert quasi den Trumpf, mit dem jedes noch so gute Argument erschlagen werden kann.

Das deutsche Feuilleton verschweigt geflissentlich diese Ansichten von Kertész. Sie passen nicht zum Bild des Autors, das der deutsche Kulturbetrieb sich von ihm gemacht hat. Ein Jude, der Auschwitz mit knapper Not überlebt hat und trotzdem gerne in Berlin wohnt - das ist doch gleichsam ein willkommenes Trostpflaster der Versöhnung auf der öffentlich gepflegten Wunde schuldbeladener Zerknirschung. Kertész war dem deutschen Literaturbetrieb dankbar, dass er ihn aus der ungarischen Anonymität zum Nobelpreisruhm gebracht hat. Doch hat er die falschen Töne im Umgang mit ihm bald bemerkt. In seinen zuletzt erschienenen Tagebüchern aus den Jahren 2001-2009 („Letzte Einkehr“) hadert er denn auch mit sich, den „Holocaust-Clown“ gegeben zu haben.

Es folgen einige Zitate aus dem erwähnten Buch, die zeigen, wie genau Kertész die Probleme Europas sieht, die aus dem oben beschriebenen ungelösten Dilemma resultieren. Eine simple Lösung kann er auch nicht bieten. Doch befürchtet er mörderische Konflikte aus den verständlichen Reaktionen auf den kulturellen Selbsthass Europas, weil jene möglicherweise so überzogen sein könnten wie dieser tatsächlich überzogen ist. Es wird deutlich, warum diese Einsichten von Kertész keine breitere Erörterung in den Feuilletons gefunden haben.

19. November 2004

[...] Es bricht eine mörderische Welt an, Nationalismus, Rassismus; Europa beginnt zu erkennen, wohin seine liberale Enwanderungspolitik geführt hat. Plötzlich wird man gewahr, daß es Fabelwesen, die man multikulturelle Gesellschaft nennt, gar nicht gibt. Eine interessante, paradoxe Sackgasse: Während die Europäische Union erweitert wird, schnüren sich die einzelnen Unionsländer enger zu. Die zu erwartenden Gesetze stehen im Widerspruch zur Verfassung der Union, doch wer wollte ihre grundlegende Bedeutung leugnen. Das Problem ist, daß man nicht differenziert: indem etwa gesonderte Gesetze für die einheimischen Bürger gelten und sich andere auf die Muslime beziehen. Doch das wäre Ausgrenzungspolitik. Wiederum ist es unmöglich, sich vorzustellen, daß, sagen wir, Frankreich in zwei bis drei Generationen ein muslimisches Land sein wird. Politiker, die von den durch die allgemeine Angst und Hysterie entfesselten Emotionen aufgewühlt sind, werden die Situation eher zur Erhaltung ihrer eigenen Macht nutzen wollen, als sich die Köpfe über wirkliche Lösungen zu zerbrechen. Direkt gesagt: es tut sich die Möglichkeit neuer Diktaturen auf, die unter dem Vorwand drohender Gefahren in erster Linie die eigenen Staatsbürger in Gefahr bringen. Vor derartigen Problemen steht die zivilisierte Welt, und es ist nicht möglich, öffentlich zu ihrer Verteidigung aufzutreten, weil man dann auf der Straße erschossen wird (siehe den Fall Theo van Gogh). [...]

3. Februar 2006

Das tägliche Elend des Verfalls Europas. Europa bittet den Islam um Gnade, zuckt und windet sich vor Ergebenheit. Dieses Schauspiel widert mich an. Feigheit und moralische Debilität werden Europa zerstören, seine Unfähigkeit sich zu verteidigen, und der offenkundige moralische Schlamassel, aus dem es seit Auschwitz nicht herausgefunden hat. Es begann mit einer Erhebung gegen die östliche Tyrannei (Perserkriege) und endet mit einer Kapitulation vor der unwürdigsten östlichen Macht (Palästinenser). Requiem aeternam...

27. September 2006

Europa erlebt ohne Zweifel wieder eine seiner schmachvollsten Epochen. Die Deutsche Oper in Berlin hat Mozarts Idomeneo vom Programm genommen, weil die Handlung, so wörtlich, den Islam verletzen könnte.

 

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