Hysterie und Gefühl

Auf den Bestsellerlisten hat sich eine neue Gattung des Bekenntnisbuches etabliert, die man am besten als Mitleidsliteratur bezeichnet und die eine Erkrankung oder Disposition, die früher dem diskreten Gespräch mit dem Therapeuten vorbehalten geblieben wäre, für die interessierte Öffentlichkeit möglichst anschaulich, um nicht zu sagen “schonungslos” aufbereitet. Jüngster Zugang zu diesem Genre ist die Kommunikationswissenschaftlerin und Anne-Will-Freundin Miriam Meckel mit ihrem Buch “Brief an mein Leben”, das bei “Amazon” gleich am Erscheinungstag auf Platz 10 stieg.

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Es muss nicht immer Krebs sein, lernt man dabei, um mit seiner Leidensgeschichte erfolgreich auf den Markt zu treten, es reicht schon, dass man beim Packen einen Weinkrampf bekommt und die E-Mails im Computer nicht mehr öffnen kann. Früher hätte man von einer hysterischen Episode gesprochen und strenge Bettruhe verordnet, heute wird daraus eine Krise, die einem erst einen Buchvertrag und dann “Spiegel”-Gespräch und Feuilleton-Aufmacher in der FAZ eintragen. “Nichts geht mehr. Die Diagnose: Burnout”, heißt es dazu im Klappentext mit einem Pathos, als sei die Autorin knapp mit dem Leben davon gekommen. Ganz so schlimm ist es dann doch nicht, wie man später erfährt: Fünf Wochen im Sanatorium mit Gruppengespräch und Schweigestunde und schon liegt als neuer Leistungsnachweis ein Buch über das Ganze vor. Burnout ist die ideale Krankheit für Leute, die auf die Frage, was ihre größter Fehler sei, gern mit “Ungeduld” antworten.

Die Passionsliteratur entzieht sich normalen Bewertungsmaßstäben, entscheidendes Kriterium ist nicht das Ausdrucksvermögen des Autors, seine sprachliche Leistung, sondern allein den Eindruck, den er beim Leser hinterlässt: Je mehr sich dieser durch das Geschriebene angesprochen und das heißt betroffen fühlt, desto authentischer und damit lobenswerter das Buch. Keine Besprechung kommt ohne Rekurs auf die eigene Leseerfahrung aus, tatsächlich ist die Identifikationsqualität dieser Texte das entscheidende Verkaufsargument, weshalb schon in den Verlagsankündigungen laufend davon die Rede ist, wie sehr einen die Lektüre “berühre” und “bewege”, oder, wie es im vorliegenden Fall heißt: “Miriam Meckels Läuterungsgeschichte berührt und rüttelt auf.”

Voraussetzung für eine erfolgreiche Karriere als Mitleidsliterat scheint die völlige Abwesenheit von Humor zu sein. Ironie schafft Distanz, auch zu sich selbst, genau das aber verträgt diese Gattung schlecht. “Der MENSCH meines Lebens bin ich”, erklärte schon Verena Stefan in “Häutungen”, dem großen Klassiker der Betroffenheitsliteratur: Der heilige Ernst, mit dem sich die Sentimentalistin Stefan vor 35 Jahren gegenübertrat, gilt ungebrochen für alle modernen Nachfolger. Meckel selber hält ihr Buch für Teil einer “Gegenbewegung”, wie sie der FAZ anvertraute: “In einer Welt wachsender Selbstinszenierung, etwa durch Websites wie Facebook, stehen Geschichten, die vom eigenen Versagen handeln, für Authentizität.” Darauf kann nur eine Kommunikationswissenschaftlerin kommen: 220 Seiten über sich selbst als Widerstandsakt gegen die Dauerbeschäftigung mit sich selbst.

 

Erschien zuerst auf unterlinken.de

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: feedback loop

Was soll ich von dieser Kritik halten (Ich kenne das Buch)?. Aber Sie schreiben ja eigentlich überhaupt nichts zum Buch, sondern ärgern sich darüber, dass es sich gut verkauft. Ihr Ärger hat nichts mit dem Buch zu tun und interessiert mich auch nicht. Auch Ihre Kategorisierung als "Mitleidsliteratur" trifft überhaupt nicht auf das Buch zu. Sie scheinen zu denken, dass man aus Mitleid mit an der Seele erkrankten Autorin dieses Buch liest. Eine Fehleinschätzung. Wenn Sie das Buch nicht berührt und Sie auch nicht zu Assoziationen oder auch Widersprüchen aus/mit Ihrem eigenen Empfindungen und erfahrungen angeregt werden, dann ist es nichts für Sie. Mich ärgert Ihre abfällige Klassifizierung, die nur davon zeugt, dass sie es nicht verstehen können. Warum ärgert es mich...? schliesslich kenne ich Sie doch gar nicht. Sehen Sie, jetzt kann sogar Ihre inkompetente Buchkritik ein Anlass zur Selbstreflexion werden ...
Mitleid habe ich mit Ihnen, nicht mit der Autorin. Denn offensichtlich fehlt Ihnen eine Lebensdimension, ohne dass ich mir kein gutes Leben vorstellen kann. Sonst hätten Sie diese Kritik nicht veröffentlichen wollen.

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