Hungarophobie

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Als deutscher Publizist beobachte ich natürlich die deutschen Befindlichkeiten, doch aufgrund meiner Herkunft schaue ich schon auch mal gerne nach Ungarn - zumal sich bisweilen die deutschen Verhältnisse mit den ungarischen kreuzen. Im April sind wieder Parlamentswahlen in Ungarn. Nachdem die Auseinandersetzungen der Brüsseler Euro-Bürokraten mit der ungarischen Regierung Orbán im letzten Jahr etwas abgeebbt sind, teils weil sich die Anschuldigungen als haltlos herausgestellt, teils weil die ungarische Regierung in Teilen nachgegeben und beanstandete Punkte ihrer Arbeit korrigiert hat, ist auch die negative Berichterstattung über Ungarn in den deutschen Leitmedien etwas weniger vehement geworden, ja, sie ist bisweilen sogar eingeschlafen. Nicht bloß die ungarische Regierung, sondern Ungarn war ja schon zu einem Symbol des Bösen geworden.

Als Zusammenfassung der Kritik an Orbáns Politik der letzten vier Jahre kann das im Unrast Verlag Münster letztes Jahr erschienene Buch von Andreas Koob, Holger Marcks und Magdalena Marsovszky namens „Mit Pfeil, Kreuz und Krone: Nationalismus und autoritäre Krisenbewältigung in Ungarn“ bezeichnet werden. Auf 208 Seiten wird dort beschrieben, wie Orbán zwar kein Faschist sei, aber die „Option“ für die Entstehung eines Faschismus in Ungarn geschaffen habe. Drunter machen es die Autoren nicht, und man tut ihnen sicher kein Unrecht, wenn man ihre politische Ausrichtung grob als „links“ verortet (siehe dazu auch die Webseite des Verlags, dessen Leitung sich als "Kollektiv" versteht und "Antifa-Kalender" sowie Bücher zur "Feministischen Wissenschaft" ediert).

Die Kritikpunkte von der angeblichen billigenden Inkaufnahme von Antiziganismus und Antisemitismus bis zur angeblichen Unterhöhlung des demokratischen Rechtsstaates sind alle aufgeführt und ausführlich analysiert. Aber die recherchierten Beispiele, welche die Kritik untermauern sollen, sind tendenziös ausgewählt und die Analyse der Entwicklung ist einseitig. Zwei Beispiele mögen das zeigen.

Wie alle Linken stört die Autoren besonders das Motto, das der Präambel des Ungarischen Grundgesetzes vorangestellt ist und dem „Himnusz“ getitelten Gedicht von Ferenc Kölcsey (1790-1838), dessen erste Zeile es ist, entstammt: „Gott, segne den Ungarn!“ In diesem Motto sehen die Autoren beispielhaft eine reaktionäre und nationalistische Ideologie wiederauferstanden, die sich dann in der Präambel Bahn breche. Die ganze erste Strophe, die nebenbei erwähnt nichts weniger als den Text der Nationalhymne bildet, lautet in wörtlicher Übersetzung übrigens so: „Gott, segne den Ungar mit frohem Mut und Überfluss. Strecke deinen schützenden Arm zu ihm hin, wenn er mit dem Feinde kämpft! Ihm, den seit langem das Unglück zerreißt, bringe fröhliche Jahre! Dies Volk hat schon für Vergangenheit und Zukunft genug gebüßt.“ Das ist natürlich ein Text, der vor chauvinistischer Aggressivität und Arroganz nur so strotzt. Man mag es für überflüssig halten, einen Gottesbezug in eine Verfassung aufzunehmen, doch ist es in Wahrheit genau diese Erwähnung Gottes, die den Autoren unerträglich ist - sie war es auch schon den ungarischen Kommunisten nicht nur in den stalinistischen Nachkriegsjahren.

Ein anderer Vorwurf an die Adresse Orbáns ist der Revisionismus, also angebliche „großungarische Ansprüche“ gegenüber der Slowakei, Rumänien und Serbien. Große Teile dieser Staaten gehörten vor 1920 zum Königreich Ungarn. Mit dem Friedensvertrag von Trianon wurden den genannten Staaten, deren Einwohner eigentlich genauso wie die Ungarn als Untertanen der Habsburger Doppelmonarchie zu den Verlierern des Ersten Weltkriegs gehörten, Gebiete nach dem Grundsatz zugeteilt: Wo z. B. nur ein einziger Slowake lebt, das ist Slowakei. Für die Ungarn galt das umgekehrt nicht. Daraus folgerte zwangsläufig, dass heute etwa ein Drittel der Ungarn grenznah, aber ausserhalb der Landesgrenzen im Ausland lebt. Die Behandlung der ungarischen Minderheiten in den genannten Staaten konnte und kann teilweise heute noch als Unterdrückung, zumindest Benachteiligung bezeichnet werden. Orbán hat sich deshalb ausdrücklich auch für die Auslandungarn verantwortlich bezeichnet, um deren Situation im Rahmen der EU zu bessern. Von irgendwelchen Gebietsansprüchen, wie sie beispielsweise noch bis zu den Ostverträgen, ja bis zur Wiedervereinigung die Vertriebenenverbände in Deutschland indirekt formulierten, keine Spur. Es geht um Fragen einer Autonomie, wie sie z. B. in Südtirol verwirklicht ist, ohne dass die Südtiroler illoyale Italiener wären. Für die Autoren des o. g. Buches gründen die Bemühungen Orbáns jedoch auf einem primitiven völkischen Weltbild, dem die Südtiroler entsprechend auch verfallen sein müssten. In diesem Kontext ist es interessant, dass nicht nur der französische Philosoph Alain Finkielkraut fordert, die europäischen Probleme weniger auf der bürokratischen EU-, sondern wieder mehr auf nationaler Ebene zu lösen.

Es könnten noch weit mehr Beispiele gebracht werden, wie Sachverhalte bewußt verzerrt und verdreht, zumindest einseitig beleuchtet dargestellt werden. Der anti-ungarische Furor schießt in vieler Hinsicht über eine sachliche Kritik hinaus: Ungarn ist tatsächlich zu einem Symbol des Bösen geworden. (Wem das übertrieben erscheint, lese bitte "Schöne Grüße aus dem Orbán-Land: Die rechte Revolution in Ungarn" von Adrowitzer / Gelegs oder "Wo Europa endet: Ungarn, Brüssel und das Schicksal der liberalen Demokratie" von J.-W. Müller.) Da nun die Vorwürfe an die Regierung Orbán (und, wie der Untertitel zeigt, an Ungarn) in dem besagten Buch übersichtlich gebündelt, aber immer noch so hysterisch sind wie in den ersten Jahren nach der in freier Wahl erzielten Zweidrittelmehrheit des Fidesz, empfiehlt sich für diese Art der Negativpresse der Begriff „Hungarophobie“. Die sich selbst als fortschrittlich verstehende Linke (und in ihrem Gefolge die von ihr geprägten Leitmedien) stigmatisieren Andersdenkende ja gerne mit pathologisierenden Beiworten. Es ist vielleicht nicht besonders nett, das zu übernehmen. Aber es gibt dafür eine Rechtfertigung, nämlich wenn das Beiwort stimmt. Die Linke muss es ertragen, wenn man eine so offen zur Schau getragene Abneigung als das bezeichnet, was sie ist.

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[Anmerkung Redaktion Freiewelt.net: Aufgrund einer technischen Störung kann der folgende Kommentar von Prof. Adorján Kovács nur unter dem Namen der Redaktion gepostet werden]

Prof. Adorján Kovács schrieb:
Vielen Dank, Timo, für Ihren offensichtlich kundigen Kommentar, den ich, da er recht spät nach Erscheinen des Artikels eingestellt wurde, bisher leider nicht bemerkt habe.
Sie verfehlen aber das Thema meines Beitrags. Er war keineswegs eine Buchrezension, sondern viel mehr die Rezension des Geistes, in dem das Buch von Andreas Koob, Holger Marcks und Magdalena Marsovszky wie auch die beiden nur kurz erwähnten anderen Bücher geschrieben wurden. Eine Buchrezension hätte ich ganz anders geschrieben.
Wenn Sie diesen Geist berücksichtigen, verstehen Sie sofort, dass auch das von Ihnen gebrachte Zitat, nämlich dass „die großungarischen Bestrebungen – seien sie offen oder symbolisch artikuliert – zunächst im Bereich der Rhetorik einzuordnen“ seien, genau das zeigt, worauf ich hinwies. Achten Sie auf den Begriff „großungarische Bestrebungen“ sowie auf das Wörtchen „zunächst“. Beides ist eigentlich unglaublich: Orbán und der Fidesz, um deren angeblich autoritäre Krisenbewältigung es ja geht, haben keine diesbezüglichen Bestrebungen, und das „zunächst“ ist eine Unverschämtheit. Genau um diese subtile Diffamierung war es mir zu tun.

Gravatar: Timo

Ohje, das ist eine sehr unsaubere, um nicht zu sagen unseriöse Rezension. Als jemand, der das Buch häufiger zur Hand nimmt, eben weil es sehr sachlich referiert und sich in gewinnbringenden Analysen versucht – ganz anders als etwa das oberflächliche Werk von Adrowitzer und Gelegs –, habe ich den Eindruck, dass der Rezensent das Buch wohl nur sehr flüchtig durchgeblättert hat. Wer den Vorwurf erhebt, es würden Sachverhalte „bewusst verzerrt und verdreht“, steht besonders in der Bringschuld, selbst sachlich abzuliefern. Das kann man hiervon aber nicht behaupten. Denn der Rezensent gibt die Inhalte des Buches in einer Weise wieder, die nachweislich falsch ist. Ein einfaches Beispiel, um mit den Worten des Rezensenten zu sprechen, mag das zeigen.

Der Rezensent wirft den Autoren vor, Orbán „großungarische Ansprüche“ bzw. Gebietsansprüche zu unterstellen, wo es doch eigentlich nur um Autonomie ginge. Das Problem: Nirgends in dem Buch ist eine derartige Behautpung zu finden. Die Autoren stellen zunächst fest, dass großungarische Symboliken sehr viral sind und dass Beobachter darin „großungarische Ambitionen“ (so die korrekte Zitation) sehen. Im Folgenden gehen sie der Frage nach, inwiefern das zutrifft. Dabei referieren sie den historischen Hintergrund (wobei sie durchaus das Spezielle in der Situation der Auslandsungarn anerkennen) und, darauf aufbauend, ausführlich die relevanten Aspekte in der Fidesz-Politik wie auch in der Politik der ungarischen Rechten im Allgemeinen. Diese Darstellung ist sehr sauber; kaum einer wird die dabei angeführten Maßnahmen (Wahlrecht, Geschichtspolitik, Symbolpolitik, Einflussnahme usw.) leugnen können. Und jeder Leser kann sich selbst eine Meinung bilden, was er davon hält. Die Autoren halten schließlich ganz klar fest, dass es seitens des Fidesz keine offenen Gebietsansprüche gibt, sondern eine Politik der Autonomisierung betrieben wird - eben genau das, was die Autoren dem Rezensenten zufolge verdrehen würden. Gebietsansprüche werden aber sehr wohl von der extremen Rechten offen artikuliert. Ingesamt wird festgestellt, dass es „keinerlei Hinweise auf expansionistische Bestrebungen“ gibt und dass „die großungarischen Bestrebungen – seien sie offen oder symbolisch artikuliert – zunächst im Bereich der Rhetorik einzuordnen“ sind. Wie bitte passt diese durchaus differenzierende Darstellung mit den Indifferenz-Behauptungen des Rezensenten zusammen? Das, was er hier wiedergibt, ist offensichtlich an den Haaren herbeigezogen. Die Rezension geht vollständig am tatsächlichen Text vorbei.

Mehr will ich gar nicht dazu sagen. Dieses Beispiel genügt meines Erachtens als Indikator, dass der Rezensent nicht besonders vertrauenswürdig ist. Dass es ihm zudem an einem tieferen Verständnis von Begriffen wie „Faschismus“ oder „völkisch“ mangelt und er sich einer Auseinandersetzung damit durch die plumpe Suggestion einer hysterischen Herangehensweise der Autoren entzieht, zeigt die Schlichheit seiner Analysefähigkeiten, die ich persönlich für wissenschaftlich unwürdig halte.

Gravatar: Crono

Danke für Ihren Artikel.

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