Gewählte Demokratieverweigerer

Was ist das für ein Selbstverständnis als Abgeordneter, wenn man sich als Volksvertreter wählen lässt, um sich dann dem demokratischen Prozess zu verweigern?

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Nehmen wir mal die Belegschaft einer beliebigen Aldi-Filiale als fiktives Beispiel. Stellen wir uns vor, die Mitarbeiter werden gerufen, um an der Kasse ihre Arbeit zu verrichten und die Regale einzuräumen, bleiben aber trotz mehrfacher Aufforderung und Durchsage einfach auf dem Flur stehen und verhöhnen ihren Arbeitgeber. Der Laden muss geschlossen werden, weil der Arbeitsbetrieb zum Erliegen kommt. Wie schnell säßen wohl alle fristlos gekündigt vor der Türe? Nun – die Arbeitsverweigerung unserer gewählten Parlamentarier beim Hammelsprung im Bundestag am vergangenen Freitag wird ohne Folgen bleiben. Jeder behält schön sein Mandat, niemand muss sich dafür rechtfertigen. Genau genommen bekommen sogar all die Oppositionspolitiker, die draußen auf den Fluren des Bundestags absichtlich eine Beschlussunfähigkeit des Parlamentes herbeiführten, auch noch ihr Sitzungsgeld für diesen Tag ausgezahlt und konnten sich als kleines Schmankerl sogar früher als geplant ins Wochenende verabschieden. Gute Fahrt noch.

Ja, der Bundestagspräsident Norbert Lammert könnte dieses Verhalten ahnden, wenn er denn wollte. Wenn die Ordnung oder die Würde des Bundestages verletzt wird, darf er gegen die entsprechenden Abgeordneten ein Ordnungsgeld in Höhe von bis zu 1000 Euro verhängen. Will er aber nicht, Norbert Lammert hat nämlich Verständnis für die Arbeitsverweigerung im Parlament. Nun, Herr Lammert, das unterscheidet uns, ich habe keines.

Fragwürdiges Demokratieverständnis

Ich habe kein Verständnis dafür, dass Abgeordnete, die sich für diesen Job haben wählen lassen, und die sich für diesen Job bezahlen lassen, ihre Aufgabe nicht wahrnehmen. Schlimmer noch, die sogar absichtlich die Arbeit des Bundestages sabotieren, nur um der Regierungskoalition eins auszuwischen. Was ist das für ein Verständnis von Demokratie, wenn man sich absichtlich dem demokratischen Gesetzgebungsprozess verweigert, und dies auch noch feixend auf den Fluren des Parlamentes feiert? Es ist Respektlosigkeit. Gegenüber der Würde des Hauses – vor allem aber gegenüber dem Volk, in dessen Auftrag und mit dessen Geld man dort steht.

Schnell wurde klar, dass es bei der Sache einzig und allein um die Verhinderung der ersten Lesung zum Betreuungsgeld ging, die allerdings erst später am Tag, um 12:35 auf der Tagesordnung stand. Unzählige Abgeordnete der Opposition waren so begeistert von sich und ihrem Trick, dass sie ihre Schadenfreude über den gelungenen Coup sofort über Twitter verbreiteten und jedem nächstbesten Journalisten auf den Block diktierten. Man feiert sich selbst. Mein Gott, was für ein Spaß! Man verhindert, dass über das Betreuungsgeld diskutiert wird,, bringt damit den parlamentarischen Zeitplan durcheinander, eine Verabschiedung vor der Sommerpause ist damit höchst unwahrscheinlich. Von Unrechtsbewusstsein keine Spur. Soll das jetzt als Methode Schule machen? Ist das jetzt unsere neue demokratische Kultur? Immer wenn der politische Gegner ein unliebsames Gesetz diskutieren will, verhindert man einfach die Sitzung, um die Beratung auf den Sankt Nimmerleinstag zu verschieben? Stell dir vor, es ist Demokratie, und keiner geht hin.

Öffentlich wird nun die Schuld hin- und hergeschoben. Die Regierungsfraktionen seien selber schuld, heißt es aus den Reihen der Opposition, wären alle ihre Mitglieder anwesend gewesen, wäre das nicht passiert. Stimmt. Auch von CDU/CSU und FDP fehlten morgens um 11 noch geschätzte 126 Abgeordnete. Wären die alle schon da gewesen, wäre es nicht passiert. „Viele wünschen sich, dass das Betreuungsgeld nicht kommt“, fabuliert Frank-Walter Steinmeier über die Gründe, warum nicht alle Fraktionsmitglieder der Regierung anwesend waren. Die Antwort ist leider banaler. Es sind, außer wenn namentliche Abstimmungen anstehen, nie alle Abgeordneten da. Manche haben andere Termine, wie zum Beispiel die Familienministerin an diesem Morgen, sie weilte noch bei einer Konferenz. Was nicht heißt, dass sie nicht um 12:35 Uhr zum Tagesordnungspunkt Betreuungsgeld anwesend gewesen wäre, wie vermutlich noch viele mehr von den fehlenden 126 ihrer Fraktion. Manche sind vielleicht krank, manche haben vielleicht auch einfach keine Lust an diesem Morgen. Es ist Usus, dass sich zu Spezialthemen oft nur die Fachleute aus den entsprechenden Ausschüssen einfinden. Wie oft sieht man bei Fernsehübertragungen nur einen winzigen Haufen gelangweilter Parlamentarier ausharren, Zeitung lesend oder in ihr Smartphone vertieft. Faktisch beschlussunfähig ist das Parlament oft, es wird aber nur auf Antrag festgestellt – oder eben durch einen Hammelsprung, wenn genau gezählt wird. Die dröge Sitzung am Freitag zum Presse-Grosso-Antrag von SPD und Grünen war wohl nicht von brennendem Interesse begleitet, dennoch waren geschätzte 400 bis 500 Abgeordnete zu der Beratung anwesend, sagte mir gestern Wolfgang Bosbach auf Anfrage. Mehr als genug. Die wundersame Verkleinerung des Parlamentes nahm erst beim Hammelsprung ihren Lauf.

Abgekartetes Spiel

Während also bei der Abstimmung zum Presse-Grosso das Präsidium rund um Sitzungsleiterin Petra Pau auch nach zweimaliger Abstimmung durch Handzeichen nicht eindeutig die Mehrheitsverhältnisse feststellen konnte und den Hammelsprung anordnete, ist nach dem Hammelsprung jedenfalls klar, dass die Nein-Stimmen 204 betragen, die Ja-Stimmen nur 7. Solche glasklaren Mehrheitsverhältnisse hätte Petra Pau vorher auf Anhieb im Parlament gesehen. Es spricht also einiges dafür, dass die vorherigen Ja-Stimmen der Opposition im Parlament jetzt auf dem Flur, auf der Toilette oder bei der Zigarettenpause verweilten. Es müssen also um die 200 gewesen sein, die den Sitzungssaal nicht mehr wieder betraten. Ein abgekartetes Spiel, das vorher verabredet worden ist. Wer glaubt, dass über 200 Leute spontan eine Abstimmung verweigern, an der sie sich nur Minuten vorher zweimal selbst mit Handzeichen beteiligt haben, glaubt auch, dass die Erde eine Scheibe sei. Wer genau bei dem schmutzigen Spielchen mitgemacht hat, ist leider nicht feststellbar, denn bei Handzeichen und Hammelsprung wird niemand namentlich erfasst. Bleiben nur Augenzeugen und diejenigen, die ihre Schadenfreude öffentlich in den Medien und im Netz verbreiteten.

Überhaupt scheint niemand wirklich wissen zu wollen, wie viele Abgeordnete sich an diesem Morgen im Parlament ursprünglich eingefunden hatten. Eine nicht unerhebliche Frage, wenn man bereits um 11:30 Uhr das Parlament wegen Beschlussunfähigkeit nach Hause schickt. Es wäre doch spannend zu wissen, welche und wie viele Parlamentarier sich zu Beginn der Sitzung um 9:15 Uhr als anwesend eingetragen haben, sich damit 50 Euro Sitzungsgeld gesichert haben, um dann bereits gute zwei Stunden später durch Abwesenheit zu glänzen. Meine Anfrage bei der Pressestelle des Bundestages wird am Montag freundlich aber informationsarm beantwortet. Ja, man registriere natürlich wegen der Abrechnung der Sitzungsgelder, wer da war, aber es gäbe keine Liste, die könne man auch nicht erstellen und deswegen auch keine Auskunft geben. Nicht gerade glaubwürdig, dass jeder Anwesende registriert wird, man dann aber keine Zahl der Anwesenden nennen kann. Ich bitte ein zweites Mal im Namen des Volkes um Mitteilung, welcher und wie viele meiner Volksvertreter ihr Mandat bei einer Sitzung mit Anwesenheitspflicht wahrgenommen haben. Auf wundersame Weise taucht nun die Liste, die es nie gab, am Dienstag doch auf – sie wird genau genommen sogar bei jeder einzelnen Sitzung erstellt. Sie könne mir aber aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht gezeigt werden. Wer in einer öffentlichen Sitzung des Bundestages, die im Parlamentsfernsehen übertragen wird, anwesend ist und wer nicht, ist also Geheimsache? Datenschutz?

Keine Frage, schwarz auf weiß will hier niemand wissen, wer sich eingetragen und Geld kassiert hat und trotzdem seine Mitarbeit verweigerte. Und damit sind wir wieder bei Herrn Lammert, dem Verständnisvollen, angelangt, der als einziger Klarheit und Konsequenzen schaffen könnte. Doch Herr Lammert rügt nicht seine Schäfchen, sondern die Regierung. Der Zeitplan zur Verabschiedung des Betreuungsgeldes sei „etwas fahrlässig und treuherzig“ gewesen. Es sei ja bekannt gewesen, dass die Opposition mehr Zeit zur Vorbereitung eingefordert habe, also selbst schuld, liebe Regierung.

Endlich ran an die Arbeit!

Mehr Zeit? Wie lange braucht die Opposition denn noch? Seit Monaten wird das Thema auf allen Kanälen totgequatscht. Seit Monaten lässt die Opposition keine Gelegenheit aus, ihre Nase in jede nächstbeste Kamera zu halten und gegen Herdprämie, Mütter und Eltern im Allgemeinen zu wettern. Man hat Zeit, zum Thema Betreuungsgeld in Fernsehshows zu sitzen, Zeit für Interviews – aber wenn es dann im Parlament zur Sache geht, dann ist man noch nicht so weit? Nur zur Erinnerung: Das Betreuungsgeld wurde bereits im Jahr 2008 gemeinsam von CDU/CSU und SPD beschlossen, bei der Verabschiedung des Kinderförderungsgesetzes. Es stand erneut in der Koalitionsvereinbarung von CDU/CSU und FDP im Jahr 2009.

Es ist alles gesagt, vier Jahre lang hattet ihr Zeit, darüber nachzudenken, Meinungen zu ändern und neue zu finden. Jetzt macht endlich eure Arbeit!

Dieser Beitrag erschien zuerst auf TheEuropean.de

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Lupengucker

@Michael Moehler
Sie fragen: "Warum denkt eigentlich niemand darueber nach, die Demokratie in den EU-Mitgliedstaaten zu staerken??"
Darüber denken viele nach, nur nicht die Mächtigen in Politik, Justiz und Medien. Ihnen scheint dieses Ansinnen trotz gegenteiliger Behauptung gar nicht zu schmecken.
Man kann nur spekulieren, warum das so ist.

Gravatar: Ursula Prasuhn

@Karin Weber
Sie sprechen genau das aus, was auch ich denke. Herzlichen Dank!

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