Gelegenheit macht Diebe - Massenschule macht Kummer

Der Mensch besitzt einen Willen, und selbstverständlich hat er die Wahl, sich in seinen Handlungen für das jeweils „Gute“ oder „Böse“ zu entscheiden. Dennoch werden seine Wahlmöglichkeiten durch die äußeren Umstände eingeschränkt, ja unter Umständen aufgehoben.

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Angenommen, wir haben einem Freund versprochen, seinen Platz zu hüten und nicht zu verlassen, ehe er zurückkommt. Nun gefällt es einem Spaßvogel, just unter unserem Sitzmöbel ein kleines Feuerchen anzuzünden. Sobald wir die Hitze am Hosenboden verspüren, werden wir mit einem Satz aufspringen und nichts wird uns halten. Da nützen alle Versprechungen, alles Wollen und Wünschen und Sollen nichts. Kurz: die Umstände erzwingen oftmals ein Verhalten, das weder geplant noch gewollt ist. Wie groß ist die Verlegenheit, in die selbst der Kreuzbrave gerät, wenn er sich plötzlich einem wertvollen Gegenstand gegenüber sieht, und kein Mensch weit und breit zu sehen ist. Der Volksmund hat das in die Formel gegossen: „Gelegenheit macht Diebe!“ Damit ist angedeutet, „daß es die Gelegenheit ist, die uns zu schlechtem Benehmen führt, und nicht irgendeine Art von Verderbtheit. Gelegenheit ist natürlich nichts anderes als bloß ein weiteres Wort zur Beschreibung eines scheinbar kritischen Volumens der Macht. Selbst ein abgehärteter Dieb wird nicht stehlen, wenn er keine Möglichkeit zur Flucht sieht. Andererseits wird sich sogar ein ehrlicher Mensch schlecht benehmen, wenn er die Gelegenheit – die Macht – dazu hat, es zu tun.

Dies erklärt, warum wir alle – die Guten sogar mehr als die Bösen – Gott bitten, uns nicht in Versuchung zu führen. Denn wir wissen besser als viele politische Theoretiker, daß unser einziger Schutz gegen das Straucheln nicht einer moralischen Einstellung oder einer Androhung von Bestrafung entstammt, sondern mangelnder Gelegenheit. Dies erklärt auch, warum Mütter auf der ganzen Welt seit eh und je wissen, daß die einzige Möglichkeit, ihre Marmelade vor den Händen ihrer Kinder zu schützen, darin besteht, sie außerhalb ihrer Reichweite aufzubewahren. Keine Geschichte über einen mythischen Jungen, der in einem unbeobachteten Augenblick der Versuchung widerstand, einen Apfel zu stehlen, und dem dann die Frucht als Lohn für den Sieg über sein eigenes Selbst gegeben wurde, hätte jemals ähnliche Resultate produziert. Sicher werden einige eine außerordentliche Willenskraft aufbringen und aus ihrer intellektuellen Stärke heraus gut bleiben. Die bloße Tatsache aber, daß auch diese Menschen harte Schlachten mit den Mächten der Gelegenheit ausfechten müssen, zeigt den elementaren Charakter dieser Mächte. Die allererste Sünde des Menschen, die Ursünde, bestand in der Anwendung von Kraft, um eben jenes Obst zu erlangen, das als einziges aller Arten verboten war. Keine Warnung, kein Aufruf an ihr besseres Gewissen, nicht einmal die Androhung, das Paradies zu verlieren, hielt Eva davon ab, zu fallen. Seit dem Morgengrauen der Geschichte hat sich in dieser Beziehung nichts geändert. Denn Tugend und Untugend sind nicht Qualitäten der menschlichen Seele, die durch den Geist bloß in einem bedeutungslosen Grad am Rande beeinflußt werden könnten, sondern sie sind die automatische Reaktion und Widerspiegelung eines rein äußerlichen Zustandes – des gegebenen Volumens von Macht.

Wenn wir dies aber immer noch anzweifeln, dann brauchen wir uns nur an die kleineren oder größeren Sünden zu erinnern, die wir selbst in der Vergangenheit begangen haben. Wer von uns hat als Kind keine Süßigkeiten gestohlen? So wie wir älter werden, werden wir klüger und uns auch unseres moralischen Benehmens bewußt; das aber, was uns besser macht, ist weder der Prozeß des Alterns noch der des Trainings. Es ist das allmähliche Versiegen lockerer Gelegenheiten. Sobald uns, selbst im höheren Alter, eine Gelegenheit in den Schoß fällt, sind sofort wieder unsere mittelalterlichen Instinkte am Werke. Das ist der Punkt, an dem die Wertvollsten von uns anfangen, Bücher zu stehlen, nicht in Buchläden, wo die Gelegenheiten gering und die Konsequenzen peinlich sind, sondern von unseren besten Freunden. Fast alle von uns haben zu irgendeiner Zeit die öffentlichen Verkehrsmittel um die gebührende Bezahlung fröhlich beschwindelt, indem sie unübertragbare Monatskarten anderer Leute verwendeten oder auf andere Art, wo immer möglich, der Bezahlung aus dem Wege gingen. Ich selbst, gemeinsam mit einer Anzahl von Professoren-Kollegen, war in dieser Beziehung ein schwerer Sünder.“*

Das menschliche Maß ist stets das Kleine

Der obige Text stammt aus einem Werk des bekannten Philosophen Leopold Kohr (1909 – 1994). Kohr beschäftigte sich zeitlebens mit der Frage nach dem „richtigen Maß“, das für ihn das „menschliche“ war – also so klein wie der Mensch eben ist. Berühmtheit über alle Grenzen hinweg erlangte der Slogan „small is beautiful“, womit jedoch das Werk Leopold Kohrs nicht erschöpfend beschrieben ist. In seinem stilistisch erbaulichen und mit vielen Bonmots ausgeschmückten Buch „Das Ende der Großen“ („The Breakdown of Nations“, 1957 erstmals in englischer Sprache erschienenen) beschwört er die Verantwortlichen in Wirtschaft und Politik, sich auf das menschliche Maß zu besinnen und Abschied zu nehmen von der irrigen Hoffnung, durch Zusammenlegungen und Vergrößerung der einzelnen Teile alle Probleme der Welt in den Griff zu bekommen. Die Gigantomanie erst schaffe die wirklich großen Probleme, die sich am Ende wegen ihrer Übergröße als völlig unlösbar erwiesen. Mit der Größe der Organisation wüchsen auch die Probleme. Große Nationen, große Kriege; große Schulen, große Disziplindefizite. Für alles, was wachsen kann, gilt: ab einem gewissen Stadium ist es nicht mehr beherrschbar. In der Atomphysik spricht man von der „kritischen Masse“; sie entlädt sich in der Explosion.

Wir wissen, daß in Großgesellschaften relativ kleine Ereignisse die Auslöser für überdimensionale Katastrophen sein können – denken wir nur an den scheinbar banalen Anfang des Ersten Weltkrieges oder – ein Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit – die Entstehung der Massenpanik bei der Love-Parade in Duisburg, wo ebenfalls durch die Zusammenballung von Menschen die kritische Masse erreicht wurde, welche sich bekanntlich in der folgenschweren Massenpanik entlud.

Mehr Sorgen um das Wohlergehen der Hühner als um das der Kinder?

Wie erklären wir uns die von den Lehrern großer Schulen beklagten Phänomene des Mobbing und der körperlichen Gewaltanwendung unter Kindern und Jugendlichen? Welches sind die Ursachen der brutalen bewaffneten Überfälle auf Schulen durch psychopathische Individuen? Bislang ist dafür keine hinreichend plausible und befriedigende Erklärung erfolgt. „Wenn ich allein mit ihm spreche, ist er ganz zugänglich“, ist eine oft gehörte Aussage des Pädagogen, der das Einzelgespräch mit einem auffällig gewordenen Jugendlichen sucht. Liegt hier nicht der Schlüssel zum Verständnis für die Verhaltensstörungen, welche an den heutigen Schulen das zivilisierte Miteinander so erschweren? Im Einklang mit der Lehre des Leopold Kohr vermuten wir, daß Schulzentren schon allein aufgrund Ihrer baulichen und organisatorischen Größenordnung geradezu für Katastrophen aller Art prädestiniert scheinen. In diesen „Lernfabriken“ werden Tausende von Heranwachsenden physisch auf engstem Raum zusammengepfercht. Für täglich viele Stunden sind sie in ihrer Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit stark beschnitten – ein unnatürlicher Zustand, der selbst einem kultivierten Erwachsenen, der weder an Energieüberschuß leidet noch auf Konfrontationskurs aus ist, auf Dauer ein Übermaß an Duldungsbereitsschaft und Leidensfähigkeit abverlangen würde, vor dem er schließlich kapitulieren müßte.

Kohrs These der Überdehnung von Größe als Auslöser für Gewalt ist außerordentlich bemerkenswert. Anstatt das Land mit immer größeren Schulfabriken zu überziehen, sollten wir uns mit dem Gedanken befassen, ob es nicht besser wäre, diese „Lernbatterien“ wieder in kleine Einheiten zu zerlegen. Nicht nur Hühner verdienen eine Befreiung aus „Legebatterien“. Für ein gutes Frühstücksei zahlen viele von uns gern einen Aufpreis, wenn dieses Ei von einem artgerecht gehaltenen Huhn stammt. Deshalb setzen wir uns dafür ein, daß die sogenannten „Legebatterien“ abgeschafft werden. Ist es nicht närrisch, daß wir uns um das Federvieh mehr Sorgen machen sollten als um unsere Kinder? Den Einwand, Kleinschulen seien nicht finanzierbar, kann man nicht gelten lassen. Die vormals üblichen, wohnortnahen Schulen in überschaubarer Größe haben ja auch existiert, und gar mancher erinnert sich gern an seine Schulzeit dort. Natürlich waren die damaligen Klassenzimmer weder mit Whiteboards noch mit anderem Schnickschnack ausgestattet – doch Hand aufs Herz: brauchen wir die teuren Segnungen der Hochtechnik wirklich für eine erfolgreiche Betreuung und Unterweisung von Schulkindern?

Für die Beseitigung eines großen Kummers gibt es ein Rezept: Schaffe dir einen noch größeren Kummer an! So frotzelte einer, als ihm ein anderer sein Leid klagte. Es geht aber auch anders herum: Die größten Schulprobleme unserer Zeit (Reformwut, Volksentscheide, PISA & Co.) ließen sich ohne Federlesens umgehend beseitigen, wenn wir bereit wären, uns in aller Bescheidenheit auf eine Vielzahl kleiner Probleme zu beschränken. Diese könnten nach einem gerechten Aufteilungsschlüssel den vielen neu geschaffenen kleinen Schulen zugeteilt werden, wo sie unter Verzicht auf die mediale Begleitmusik der landesweit aufspielenden Empörungs- und Ratlosigkeitskapelle gelöst werden könnten.

 

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* Leopold Kohr. Das Ende der Großen. Zurück zum menschlichen Maß.

Otto Müller Verlag Salzburg/Wien 2002. Zitat: Seiten 90-91

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Karsten Butze

Die Autorin singt das Hohelied der Kleinteiligkeit.
Aber genau diese ist das aktuelle Problem und lässt sich sehr leicht in einen historischen Kontext bringen:
Mit dem Ende des 2. Weltkrieges beschlossen die Siegermächte DE niemals mehr mächtig werden zu lassen.
1. Schritt Teilung in Bundesländer-> politische Blockade
2. Bildungshoheit an Länder geben -> bildungspolitische Kleinstaaterei
3. Schwächung der Fächer/Tugenden die DE zur wirtschaftlichen Macht verholfen haben zugunsten der "Laberfächer" -> heutige 68 -iger Dominanz in Politik und Medien
4. Diffamierung des gesellschaftlichen "wir" zugunsten des individuellen "ich" -> Verlust einer einheitlichen nationalen und gesellschaftlichen Idee, Vereinzelung, Übertragung von Verantwortung auf andere (Gesellschaft), Verlust von Autoritäten
5. Diffamierung der Nation -> Vereinzelung, Pseudowerte (D-Mark, EU) Verlust des Nationalgefühls, Verlust der Identität
6. Propagierung multikultureller Bereicherung -> Maßlose Toleranz fremdkultureller Erscheinungen (Burka, Zwangsehe, Frauenfeindlichkeit, Bildungsfeindlichkeit, Parallelgesellschaften)
...
Fazit:
Die gewollte Zerstörung der deutschen Nation und Zivilgesellschaft wird mittlerweile getragen von den Opfern, den Deutschen selbst. In der Medizin würde man das "Stockholm-Syndrom" nennen.
Es können ALLE angesprochenen Symptome der deutschen Bildungs-,Werte, und Erziehungslandschaft in diese argumentative Reihe gestellt werden. Die Lösungen liegen damit ebenfalls auf der Hand.

Gravatar: Meier

Die Kritik an der Einheitsschule ist sicher berechtigt und Schulzentren haben lange Schulwege zur Folge. Die Experimente, sehr leistungs- oder erfolgsverschiedene Schüler möglichst lange zusammen zu unterrichten halte ich für eine Dummheit, an der auch das Lehrpersonal, in der Quadratur des Kreises, Verzweiflung erlebt.

An der aktuellen rot/grünen Politik z.B. in NRW zeigt sich die Qualität des politischen Personals. Als erstes wurden die Kopfnoten abgeschafft. Mit guten Kopfnoten hatten mäßige Schüler immerhin noch Chancen auf eine Lehrstelle aufgrund ihrer Tugenden.
Nun wird Canabiskonsum und -handel in kleinen Mengen, wegen "einer Entkriminalisierung Jugendlicher und Entlastung der Justitz" erlaubt.
Im Ergebnis wird ein zunehmender Drogenkonsum normalisiert.
Soviel "zum noch größeren Kummer" infoge rotgrüner Kümmerer.

Gravatar: Pauline

Das Neue Testament mit der Lehre Jesu und den Apostelbriefen ist eine wunderbare Quelle für eine respektvolles und friedliches Miteinander.
Es ist leicht, diese Quelle zu finden.

Gravatar: Damian Duchamps

Probleme in Schulen so sehr auf die Größe der Systeme gründen zu wollen, trifft meiner Meinung nach nicht den Kern dieser Probleme. Zwar mag es wohl zutreffen, dass Mobbing und Gewalt unter Jugendlichen an größeren Schulen gehäufter auftreten, sie finden sich jedoch auch an kleinen Schulen ebenso wieder.
Hinter dem Phänomen steckt ein gesamtgesellschaftliches Problem, das sich eher als mangelnde Erziehungsarbeit in vielen Elternhäusern und fehlende gemeinsame Werte in der Gesellschaft beschreiben lässt.

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