Evangelii Gaudium: Ein hartes Stück Arbeit … und jetzt?

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Fertig! Gelesen, markiert, überdacht … und vermutlich noch ganz, ganz viel an dem 180–260-Seiten-Werk (je nach Formatierung) nicht verinnerlicht und durchdacht. Das Problem mit Mammutwerken wie dem apostolischen Schreiben „Evangelii Gaudium“ für einen Nichttheologen ist, dass einem massenweise Zusammenhänge, Querverweise, Rückschlüsse und möglicherweise kritische Aspekte entgehen. Da liest man also mit einer Einstellung die Papst Benedikt XVI. beschrieb als „Vorschuss an Sympathie, ohne den es kein Verstehen gibt“ und sieht sich anschließend im eigenen Umfeld um, nur um festzustellen, dass man möglicherweise nicht kritisch genug gelesen hat.

Das Schreiben ist bei Sozialisten und Kirchenreformern auf Gegenliebe gestoßen und – ich sag's mal so – wenn Oskar Lafontaine ein Schreiben gut findet, dann werden meine Augen auch schmal. Ich kann dabei durchaus nachvollziehen, was die benannten Gruppen an dem Schreiben finden, bin aber – wie es schon bei anderen Texten, ob gesprochen oder geschrieben, des Papstes auftrat – nicht sicher, ob diese Gegenliebe auf dem richtigen Verständnis beruht. Marktwirtschaftler und – ich bitte die Schubladisierung zu entschuldigen – konservative Katholiken stehen dem Papier dagegen skeptisch gegenüber, vielleicht nicht zuletzt aufgrund der positiven Reaktionen der anderen Gruppe, wohl aber auch, weil man einiges, was der Papst schreibt, durchaus entweder kritisch betrachten (was die Marktwirtschaft angeht) oder auch in den falschen Hals kriegen kann. Diese Einschätzung enthält aber vielleicht auch eine unzulässige Bewertung – denn auch die Verantwortung für ein Missverständnis darf man durchaus auch beim Autor des missverstandenen Textes suchen.

Diese Einleitung macht vielleicht schon deutlich: dieser Beitrag wird keine Jubelarie über das Schreiben des Papstes, allerdings auch kein Verriss! Das Werk zu lesen war ein hartes Stück Arbeit, die sich aber gelohnt hat. Denn es erlaubt wiederum, wie es ebenfalls schon bei den bisherigen päpstlichen Äußerungen der Fall war, einen Einblick in die Schwerpunktsetzungen des Papstes. Ich hatte schon früher darauf hingewiesen, dass die Evangelisierung offensichtlich ein Herzensanliegen des Papstes ist. Absehbar war in den letzten Wochen und Monaten aber auch, dass das Thema der Gerechtigkeit und der Kampf gegen Armut und Ausgrenzung einen weiteren Baustein dieses Pontifikats darstellen wird. Beides sind auch die wesentlichen Themen von Evangelii Gaudium, bei beiden Themen geht der Papst mit den bestehenden Umständen hart ins Gericht.

Bloggerkollege Josef Bordat hat in einer frühen Einschätzung bereits die Struktur des Dokuments beschrieben als „Schalenmodell“. Thematisch befassen sich die „äußeren“ Kapitel 1 und 5 mit der Mission, die Kapitel 2 und 4 mit den Themen Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und dem karitativen Tun der Kirche und im „Zentrum“ das Kapitel 3 mit der Verkündigung des Evangeliums. Dieses Modell erscheint mir bei der Lektüre des Schreibens hilfreich, mir hat es jedenfalls zum Verständnis geholfen.

Mission und Evangelisierung

Was mir wesentlich erscheint, ist die selbstkritische Sicht auf die Kirche. Die stößt manchen bitter auf, wenn der Papst vergleichsweise hart austeilt, zum Beispiel im zweiten Kapitel:

95. Diese bedrohliche Weltlichkeit zeigt sich in vielen Verhaltensweisen, die scheinbar einander entgegengesetzt sind, aber denselben Anspruch erheben, „den Raum der Kirche zu beherrschen“. Bei einigen ist eine ostentative Pflege der Liturgie, der Lehre und des Ansehens der Kirche festzustellen, doch ohne dass ihnen die wirkliche Einsenkung des Evangeliums in das Gottesvolk und die konkreten Erfordernisse der Geschichte Sorgen bereiten. Auf diese Weise verwandelt sich das Leben der Kirche in ein Museumsstück oder in ein Eigentum einiger weniger. Bei anderen verbirgt sich dieselbe spirituelle Weltlichkeit hinter dem Reiz, gesellschaftliche oder politische Errungenschaften vorweisen zu können, oder in einer Ruhmsucht, die mit dem Management praktischer Angelegenheiten verbunden ist, oder darin, sich durch die Dynamiken der Selbstachtung und der Selbstverwirklichung angezogen zu fühlen. Sie kann auch ihren Ausdruck in verschiedenen Weisen finden, sich selbst davon zu überzeugen, dass man in ein intensives Gesellschaftsleben eingespannt ist, angefüllt mit Reisen, Versammlungen, Abendessen und Empfängen. Oder sie entfaltet sich in einem Manager-Funktionalismus, der mit Statistiken, Planungen und Bewertungen überladen ist und wo der hauptsächliche Nutznießer nicht das Volk Gottes ist, sondern eher die Kirche als Organisation. In allen Fällen fehlt dieser Mentalität das Siegel des Mensch gewordenen, gekreuzigten und auferstandenen Christus, sie schließt sich in Elitegruppen ein und macht sich nicht wirklich auf die Suche nach den Fernstehenden, noch nach den unermesslichen, nach Christus dürstenden Menschenmassen. Da ist kein Eifer mehr für das Evangelium, sondern der unechte Genuss einer egozentrischen Selbstgefälligkeit.

Das sitzt! Problematisch sind in der Tat, und auch mir aufgefallen, Formulierungen wie „bei einigen“ und „bei anderen“. Man müsste den Originaltext bemühen, ob das tatsächlich – wie bei manchen Kommentatoren insinuiert – Vorwürfe gegen andere Gruppen sind, über die sich der Papst selbst „elitär“ abhebt. Oder ist es nicht vielmehr, und so heißt es auch im Titel dieses Abschnitts , die Beschreibung von „Versuchungen“, denen man erliegen kann, wenn man sich mit der Mission oder der Karitas befasst? Ich neige zu letzterem, und empfinde die von manchen als Vorwurf empfundenen Stellen eher als eine Möglichkeit der Selbstüberprüfung, eine Art Gewissensspiegel der Mission und der kirchlichen Tätigkeit.

Man mag fragen, ob der Papst mit den Beschreibungen nicht die falschen Schwerpunkte setzt, ob das Problem nicht in anderen Themenstellungen liegt als in den vom Papst benannten? Dann ist es aber auch ein persönliches Dokument, der Papst schreibt an vielen Stellen in der „ich“-Form – meine abgeleitete These ist, dass der Papst Versuchungen und Fehlentwicklungen benennt, die er erstens in seinem Umfeld wahrnimmt (das sicher noch ganz wesentlich durch seine Tätigkeit als Kardinal in Buenos Aires geprägt sein wird) und die er zweitens auch für sich selbst als Versuchung erlebt. So gelesen ist das, was der Papst hinsichtlich der kirchlichen Mission als kritikwürdig beschreibt nicht so sehr ein Vorwurf sondern eine Selbsteinschätzung des Papstes von sich und der Kirche. Andersherum gesagt: wer sich den Schuh anzieht …? Nebenbei bemerkt befasst sich der Abschnitt über die „Versuchungen der in der Seelsorge Tätigen“ wie der Name schon sagt mit Priestern, Diakonen, kirchlichen Seelsorgern – der Inhalt ist aber auch für jeden Laien geeignet, sich selbst und seine Evangelisierungs- und Missionstätigkeit zu überprüfen. Und im Hinblick auf den obigen Abschnitt kann ich mich als katholischer Blogger zum Beispiel selbstkritisch fragen, ob ich nicht auch ab und an Beiträge schreibe, damit sie Leser anziehen und bei denen ich die Verkündigung aus dem Fokus verliere. Den Kritikern des Papstes (in dieser Hinsicht) kann ich also nur ans Herz legen, sich selbst kritisch zu prüfen und – im besten Fall – sich den Schuh nicht anzuziehen, aber nicht von einem treffenden Vorwurf auf eine Überheblichkeit des Papstes zu schließen.

Man kann das Schreiben auch als eine Handreichung des Papstes sehen, in der er neben Gefahren auch – neudeutsch – „Best Practices“ darstellt, wenn es zum Beispiel im dritten Kapitel um die eigentliche Verkündigung des Evangeliums geht: von der inneren, nennen wir es ruhig spirituellen Einstellung desjenigen, der das Evangelium verkünden soll bis hin zur sehr operativ gehaltenen Beschreibung der Vorbereitung einer Predigt durch den Priester (ein Abschnitt der sich ebenfalls für Laien im Hinblick auf die eigene, persönliche Schriftlesung durchaus als Anregung eignet) lässt der Papst offenbar nichts aus, was ihm bei dem Thema durch den Kopf ging (was vielleicht auch den Umfang des Schreibens erklärt) – man kann dem Papst fast beim Durchdenken der Themen zusehen!

Stark ist das Dokument wie ich finde an den Stellen, in denen es um den Kern der Evangelisierung geht, wie der Papst schreibt um den „missionarischen Traum, alle zu erreichen.“ [31] Diesem Ziel, letztlich der Zweck der Kirche, die Evangelisierung voranzutreiben, muss sich in der kirchlichen Realität alles unterordnen. Dabei geht es dem Papst aber nicht darum, einfach nur die Botschaft zu senden, sondern auch dafür Sorge zu tragen, dass sie auch verstanden werden kann:

Vor allem ist zu sagen, dass in der Verkündigung des Evangeliums notwendigerweise ein rechtes Maß herrschen muss. Das kann man an der Häufigkeit feststellen, mit der einige Themen behandelt werden, und an den Akzenten, die in der Predigt gesetzt werden. Wenn zum Beispiel ein Pfarrer während des liturgischen Jahres zehnmal über die Enthaltsamkeit und nur zwei- oder dreimal über die Liebe oder über die Gerechtigkeit spricht, entsteht ein Missverhältnis, durch das die Tugenden, die in den Schatten gestellt werden, genau diejenigen sind, die in der Predigt und in der Katechese mehr vorkommen müssten. Das Gleiche geschieht, wenn mehr vom Gesetz als von der Gnade, mehr von der Kirche als von Jesus Christus, mehr vom Papst als vom Wort Gottes gesprochen wird. [38]

Auch hier wieder: Wer sich den Schuh anzieht … was ist der Schwerpunkt meiner persönlichen Verkündigung? Es geht nicht nur um die Priester, es geht auch darum, wie ich als Laie das Evangelium erläutere. So richtig wie die Morallehre der Kirche ist, sie ist das Ergebnis und nicht die Grundlage der Schrift. Es ist also durchaus nicht unangemessen, kritische gesellschaftliche Entwicklungen anzuprangern, seien es Armut, seien es Fragen der Sexualmoral, seien es Fragen des Wertes des Lebens oder der Familie. Die Gefahr besteht aber in der Tat, über diese Art der „Verkündigung“ seine Zuhörer und Leser zu verlieren und die eigentliche Botschaft, die der Erlösung des Menschen durch Jesus Christus und des ewigen Lebens, nicht mehr loswerden zu können. Die Kirche als Institution der Verbote – man kann bei den Grünen beobachten, wo das hinführt.

Mein Plädoyer ist an dieser Stelle noch mal, dem Papst nicht seine Beispiele zum Vorwurf zu machen sondern darauf zu achten, was die Zielrichtung in den betreffenden Themen ist. Mir kam bei der Lektüre der Kapitel zu Mission und Evangelisierung auch der Gedanke, was denn mit den Patres und Ordensfrauen in Schweigeklöstern ist, die – rein weltlich betrachtet – gar nicht in Evangelisierung oder Diakonie tätig sind? Man darf wohl annehmen, dass der Papst deren Leistung nicht gering achtet, sehr wohl aber auch hier Schwerpunktsetzungen in seinem Papier vornimmt. Wer bei der ehrlichen (!) und betrachtenden Lektüre des Schreibens zu dem Schluss kommt, sich den Schuh nicht anziehen zu müssen, der kann beruhigt sein. Wer es doch tut, für den sollte die Fragestellung viel näherliegend sein, in welchen Aspekten der Papst mit seinen „Vorwürfen“ Recht haben könnte, als ihm vorzuwerfen, elitär von oben herab zu urteilen.

Liebe, Barmherzigkeit und Kapitalismuskritik

Ein wesentlicher Aspekt der Liebe Gottes ist die der Barmherzigkeit und der Zuwendung zu den Armen. Der Papst weist auf das Offensichtliche hin: Jesus selbst hatte eine „Vorliebe“ für die Armen. Alleine das so zu schreiben erscheint aber heute schon schwierig, wird diese Vorliebe direkt mit einer „Abneigung“ gegen die Reichen gleichgesetzt. Das wiederum ist ein Trugschluss, es sollte aber klar werden, dass wir als Christen, wenn wir Jesus nachfolgen, ein besonderes Verhältnis zur Armut und zu den Armen entwickeln müssen. Wie der Papst schreibt, gilt die Forderung, in der Mission jeden zu erreichen, aber in unseren Herzen müssen die Armen und die Hilfe für sie einen besonderen Platz haben.

An dieser Stelle muss man auf das eingehen, was man in den Medien als „scharfe Kapitalismuskritik“ bewertet. Und in der Tat, der Papst hält sich auch hier nicht mit Nuancen auf, wenn er Zustände anprangert, die uns Jesus im Gericht vor Augen halten wird:

53. Ebenso wie das Gebot „du sollst nicht töten“ eine deutliche Grenze setzt, um den Wert des menschlichen Lebens zu sichern, müssen wir heute ein „Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung und der Disparität der Einkommen“ sagen. Diese Wirtschaft tötet. Es ist unglaublich, dass es kein Aufsehen erregt, wenn ein alter Mann, der gezwungen ist, auf der Straße zu leben, erfriert, während eine Baisse um zwei Punkte in der Börse Schlagzeilen macht. Das ist Ausschließung. Es ist nicht mehr zu tolerieren, dass Nahrungsmittel weggeworfen werden, während es Menschen gibt, die Hunger leiden. Das ist soziale Ungleichheit. Heute spielt sich alles nach den Kriterien der Konkurrenzfähigkeit und nach dem Gesetz des Stärkeren ab, wo der Mächtigere den Schwächeren zunichte macht. Als Folge dieser Situation sehen sich große Massen der Bevölkerung ausgeschlossen und an den Rand gedrängt: ohne Arbeit, ohne Aussichten, ohne Ausweg. Der Mensch an sich wird wie ein Konsumgut betrachtet, das man gebrauchen und dann wegwerfen kann. Wir haben die „Wegwerfkultur“ eingeführt, die sogar gefördert wird. Es geht nicht mehr einfach um das Phänomen der Ausbeutung und der Unterdrückung, sondern um etwas Neues: Mit der Ausschließung ist die Zugehörigkeit zu der Gesellschaft, in der man lebt, an ihrer Wurzel getroffen, denn durch sie befindet man sich nicht in der Unterschicht, am Rande oder gehört zu den Machtlosen, sondern man steht draußen. Die Ausgeschlossenen sind nicht „Ausgebeutete“, sondern Müll, „Abfall“.

Auch das sitzt! An dieser und an anderer Stelle macht der Papst deutlich, welche Auswirkungen die Armut haben kann und wo er die Ursachen dieser Armut sieht. Hierzu ergänzend möchte ich noch folgende längere Abschnitte zitieren, die verdeutlichen, was ich im Folgenden meine:

54. In diesem Zusammenhang verteidigen einige noch die „Überlauf“-Theorien (trickle-down Theorie), die davon ausgehen, dass jedes vom freien Markt begünstigte Wirtschaftswachstum von sich aus eine größere Gleichheit und soziale Einbindung in der Welt hervorzurufen vermag. Diese Ansicht, die nie von den Fakten bestätigt wurde, drückt ein undifferenziertes, naives Vertrauen auf die Güte derer aus, die die wirtschaftliche Macht in Händen halten, wie auch auf die sakralisierten Mechanismen des herrschenden Wirtschaftssystems. […]

56. Während die Einkommen einiger weniger exponentiell steigen, sind die der Mehrheit immer weiter entfernt vom Wohlstand dieser glücklichen Minderheit. Dieses Ungleichgewicht geht auf Ideologien zurück, die die absolute Autonomie der Märkte und die Finanzspekulation verteidigen. Darum bestreiten sie das Kontrollrecht der Staaten, die beauftragt sind, über den Schutz des Gemeinwohls zu wachen. Es entsteht eine neue, unsichtbare, manchmal virtuelle Tyrannei, die einseitig und unerbittlich ihre Gesetze und ihre Regeln aufzwingt. Außerdem entfernen die Schulden und ihre Zinsen die Länder von den praktikablen Möglichkeiten ihrer Wirtschaft und die Bürger von ihrer realen Kaufkraft. Zu all dem kommt eine verzweigte Korruption und eine egoistische Steuerhinterziehung hinzu, die weltweite Dimensionen angenommen haben. Die Gier nach Macht und Besitz kennt keine Grenzen. In diesem System, das dazu neigt, alles aufzusaugen, um den Nutzen zu steigern, ist alles Schwache wie die Umwelt wehrlos gegenüber den Interessen des vergöttlichten Marktes, die zur absoluten Regel werden.

57. Hinter dieser Haltung verbergen sich die Ablehnung der Ethik und die Ablehnung Gottes. Die Ethik wird gewöhnlich mit einer gewissen spöttischen Verachtung betrachtet. Sie wird als kontraproduktiv und zu menschlich angesehen, weil sie das Geld und die Macht relativiert. Man empfindet sie als eine Bedrohung, denn sie verurteilt die Manipulierung und die Degradierung der Person. Schließlich verweist die Ethik auf einen Gott, der eine verbindliche Antwort erwartet, die außerhalb der Kategorien des Marktes steht. Für diese, wenn sie absolut gesetzt werden, ist Gott unkontrollierbar, nicht manipulierbar und sogar gefährlich, da er den Menschen zu seiner vollen Verwirklichung ruft und zur Unabhängigkeit von jeder Art von Unterjochung. Die Ethik – eine nicht ideologisierte Ethik – erlaubt, ein Gleichgewicht und eine menschlichere Gesellschaftsordnung zu schaffen. In diesem Sinn rufe ich die Finanzexperten und die Regierenden der verschiedenen Länder auf, die Worte eines Weisen des Altertums zu bedenken: »Die eigenen Güter nicht mit den Armen zu teilen bedeutet, diese zu bestehlen und ihnen das Leben zu entziehen. Die Güter, die wir besitzen, gehören nicht uns, sondern ihnen.« (Johannes Chrysostomus, De Lazaro conciones II,6: PG 48, 992 D.)

58. Eine Finanzreform, welche die Ethik nicht ignoriert, würde einen energischen Wechsel der Grundeinstellung der politischen Führungskräfte erfordern, die ich aufrufe, diese Herausforderung mit Entschiedenheit und Weitblick anzunehmen, natürlich ohne die Besonderheit eines jeden Kontextes zu übersehen. Das Geld muss dienen und nicht regieren! Der Papst liebt alle, Reiche und Arme, doch im Namen Christi hat er die Pflicht daran zu erinnern, dass die Reichen den Armen helfen, sie achten und fördern müssen. Ich ermahne euch zur uneigennützigen Solidarität und zu einer Rückkehr von Wirtschaft und Finanzleben zu einer Ethik zugunsten des Menschen.

Was der Papst an Symptomen feststellt ist, zumindest im globalen Rahmen, nicht von der Hand zu weisen. Die Anamnese, also die Beschreibung der Entwicklung, lässt sich kaum von der Hand weisen. Eine Abwertung des Menschen zum Konsumenten oder zur Arbeitskraft ist insbesondere in unseren Breiten festzustellen – die Forderung, dass Frauen nach der Geburt eines Kindes möglichst umgehend zurück „in die Produktion“ kommen sollen, spricht hier Bände. Was seinen Wert nicht in Geld bestimmen kann wird als wertlos betrachtet. Die Problematik der extremen Armut, die dazu führt, dass manchen Menschen das Nötigste zum Leben fehlt, ist möglicherweise in Westeuropa nicht so ausgebreitet, Tendenzen gibt es aber auch hier und es ist nicht möglich, über bittere Not und Hunger in der Welt hinwegzusehen.

Der Bruch entsteht erst in der Diagnose und der daraus folgenden vom Papst nahegelegten Therapie. Wer sich nämlich umsieht, an welchen Stellen es heute in der Welt zu extremer Armut kommt, der muss feststellen, dass Armut Hand in Hand geht mit Unfreiheit. Überall dort, wo Menschen an ihrer freien Entwicklung gehindert werden, sei es drastisch in einer echten Diktatur oder „weich“ durch staatliche Gängelungen, wird das Gemeinwohl geschädigt, der Wohlstand der breiten Bevölkerung reduziert, es entstehen genau die oben beschriebenen Ungerechtigkeiten. Ich möchte dabei Gerechtigkeit an dieser Stelle nicht mit Gleichheit verwechselt wissen, auch wenn der Papst den Begriff der Gleichheit an einigen Stellen strapaziert. Es ist aber nicht zu widersprechen, dass Ungerechtigkeit dem Gemeinwohl widerspricht und eine möglicherweise angestrebte Angleichung mit Sicherheit verhindert. Unfreiheit und die Ausnutzung ungerechter Strukturen sind es also, die Armut und Ausschließungen hervorrufen. Um daraus die rechten Schlüsse zu ziehen, wäre es notwendig, vertieft in die Wirtschaftswissenschaften einzusteigen. Das Ziel staatlicher Regulierungen in der Sicherung des Gemeinwohls zu sehen, wie es der Papst tut, ist sicher nicht falsch – ob sich dieses Ziel aber eher in einer Deregulierung als in einer zunehmenden Regulierung erreichen lässt, diese Frage liegt – mit Verlaub – außerhalb der Kompetenz des Papstes. Der ist aber durchaus auf der richtigen Fährte, wenn er im vierten Kapitel schreibt:

189. Die Solidarität ist eine spontane Reaktion dessen, der die soziale Funktion des Eigentums und die universale Bestimmung der Güter als Wirklichkeiten erkennt, die älter sind als der Privatbesitz. Der private Besitz von Gütern rechtfertigt sich dadurch, dass man sie so hütet und mehrt, dass sie dem Gemeinwohl besser dienen; deshalb muss die Solidarität als die Entscheidung gelebt werden, dem Armen das zurückzugeben, was ihm zusteht. Wenn diese Einsichten und eine solidarische Gewohnheit uns in Fleisch und Blut übergehen, öffnen sie den Weg für weitere strukturelle Umwandlungen und machen sie möglich. Eine Änderung der Strukturen, die hingegen keine neuen Einsichten und Verhaltensweisen hervorbringt, wird dazu führen, dass ebendiese Strukturen früher oder später korrupt, drückend und unwirksam werden.

Also, um es zu diesem Thema abschließend kurz zu machen: Aus dem Papst werde ich durch meine Interpretationen keinen Libertären machen! Das auch vor dem Hintergrund, dass er wenige Zeilen später schreibt „Solange die Probleme der Armen nicht von der Wurzel her gelöst werden, indem man auf die absolute Autonomie der Märkte und der Finanzspekulation verzichtet und die strukturellen Ursachen der Ungleichverteilung der Einkünfte in Angriff nimmt, werden sich die Probleme der Welt nicht lösen und kann letztlich überhaupt kein Problem gelöst werden. Die Ungleichverteilung der Einkünfte ist die Wurzel der sozialen Übel. [202]“ Seine Kompetenz liegt aber in der Beschreibung bestehender Ungerechtigkeiten und in der Forderung, diese zu beseitigen. Dass Menschen unverschuldet in Armut leben, das kann von einem Menschen vor dem Hintergrund des Libertarismus möglicherweise entschuldigend erklärt werden durch Umstände für die der „Reiche“ nicht verantwortlich zu machen ist. Für einen Christen ist diese Erklärung in der Nachfolge Jesu aber nicht ausreichend – ihn muss das Schicksal der Armen umtreiben, er muss sich mühen um Liebe, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit gerade für die Armen, das beinhaltet im politischen Umfeld um eine Gesellschaftsform die dem Rechnung trägt. Im Ziel kann man als libertärer Katholik also mit dem Papst einig sein, in den vorgeschlagenen Wegen liegen aber deutliche Unterschiede. Diese sind zu diskutieren und insofern kann man den Papst sicher auch beim Wort nehmen, wenn er schreibt:

208. Falls jemand sich durch meine Worte beleidigt fühlt, versichere ich ihm, dass ich sie mit Liebe und in bester Absicht sage, weit entfernt von jedem persönlichen Interesse oder einer politischen Ideologie. Mein Wort ist nicht das eines Feindes, noch das eines Gegners. Es geht mir einzig darum, dafür zu sorgen, dass diejenigen, die Sklaven einer individualistischen, gleichgültigen und egoistischen Mentalität sind, sich von jenen unwürdigen Fesseln befreien und eine Art zu leben und zu denken erreichen können, die menschlicher, edler und fruchtbarer ist und ihrer Erdenwanderung Würde verleiht.

Das ist ein Anspruch, an dem sich ein Christ, arm oder reich, Unternehmer oder Angestellter, egal mit welchen gesellschaftlichen Vorstellungen ansonsten ausgestattet, orientieren kann: den anderen, den Armen im Besonderen, im Blick zu haben bei seinem Handeln. Ob dabei staatliche Einflussnahme hilfreich ist, wie der Papst andeutet, oder eher schadet, wie ich es sehen würde, ist ein Thema, dass mit der Verkündigung des Evangeliums nur noch am Rande zu tun hat.

Ich gebe zu, ich finde es schade, dass der Papst sich in wesentlichen Teilen seines Schreibens mit Themen beschäftigt, die nicht seiner Fachkompetenz entsprechen. Mit der Zielsetzung, der Verminderung von Armut und daraus induzierter Not und Gewalt, kann ich aber – wie sollte es anders sein – konform gehen. Die Ursache allerdings sehe ich nicht in „zu wenig“ staatlicher Einflussnahme sondern in „zu viel“ staatlicher Regulierung, die Menschen, die auch in einer freien Marktwirtschaft unmoralisch handeln würden, zu ihren Gunsten ausnutzen.

Was bleibt? Der Versuch eines Fazits

Evangelii Gaudium ist ein Dokument der Evangelisierung! Evangelisierung in dem Sinne, das Evangelium in der Welt bekannt zu machen. Der Papst geht auch auf die Notwendigkeit der Neuevangelisierung und Wiederevangelisierung ein und rundet damit dieses Bild ab. Es geht darum, das Evangelium als ein Dokument, eine Botschaft der Freude zu verbreiten, und es mit Freude zu verbreiten. Wenn die Freude am Evangelium aber dazu führt, Christus nachzufolgen, dann ist es auch folgerichtig, auf konkrete Problematiken einzugehen, die Menschen heute von der Liebe zu Gott oder von seiner Nachfolge abhalten. Insofern passen die Themen der Missionstätigkeit, ihrer Schwerpunkte bis hin zu ihren Methoden genau so gut in das Dokument wie die Fragen der Armut, des Hungers und der Gewalt und ihrer Bekämpfung als einem Akt der Barmherzigkeit und Nächstenliebe den Betroffenen gegenüber.

Evangelii Gaudium ist im Kern kein Dokument der Kritik an kirchlichen Strukturen! Diese werden, die Presse hat das hinreichend breitgetreten, benannt, wo sie der Evangelisierung im Wege stehen. Die Berücksichtigung der Hinweise des Papstes wird die Kirche aber nicht auf den Kopf (wie manche befürchten) oder vom Kopf auf die Füße (wie andere erhoffen) stellen, sondern sie im besten Sinne optimieren. Nicht alle Strukturen, nicht alle Verhaltensweisen und Prozesse, mit denen die Kirche identifiziert wird, sind der Mission dienlich, der sie sich unterordnen müssten. Ich lese aus dem Dokument, auch aus Abschnitten in denen die „Neuausrichtung des Papsttums“ [32] angedeutet oder gefordert wird, die Bischöfe sollten in bestimmten Themen nicht als Hirten vorangehen sondern eher den Gläubigen folgen [31], keine Revolution heraus. Mir erscheinen solche Passagen im Gesamtzusammenhang eher als Mosaiksteine einer notwendigen organischen Entwicklung, die sich dem widmet, was eben der Kern des Dokuments ist, der Evangelisierung.

Evangelii Gaudium ist ein Dokument, das in teilweise drastischen Worten, die den Papst selbst dazu veranlassen klarzustellen, dass er niemanden beleidigen will, Fehlentwicklungen in der Welt anprangert, bei denen kein Christ unbeteiligt abseits stehen kann! Man kann sich ganz einfach nicht Christ nennen, wenn einem das Schicksal der Armen gleichgültig ist. Die Konsequenzen, die der Papst fordert, sind dagegen das Ergebnis einer eher theologischen Betrachtung des Abstellens eines Mangels, durchaus auch aus einer Sicht, die den Staat in führender Stellung der Gesellschaftsentwicklung sieht. Dass ich dem nicht in allem folgen kann, wird die Leser dieses Blogs nicht verwundern, ich halte es aber umgekehrt auch nicht für so entscheidend. Als libertärer Katholik sehe ich mich eher aufgefordert, den Nachweis zu führen, dass die freie Marktwirtschaft das Mittel der Wahl ist, einerseits die beschriebenen Mängel zu beheben, andererseits auch kompatibel mit unserem Glauben zu sein, und dass die staatliche Einmischung eine wesentliche Ursache der Probleme und auch des schwindenden Glaubens und der schwindenden Solidarität mit den Armen darstellt. Ich kann dem Papst als Theologen und Seelsorger nicht zum Vorwurf machen, kein Kenner des Libertarismus oder der österreichischen Schule der Nationalökonomie zu sein. So lange ich mich aber in der Zielsetzung, der Evangelisierung einerseits und der Liebe und Barmherzigkeit den Armen gegenüber sowie der Bekämpfung der Armut andererseits auf der gleichen Linie wie der Papst sehe, kann ich mit dem Dokument gut leben. Ich muss wohl akzeptieren, dass allerlei Sozialisten und Staatsgläubige versuchen werden, das Schreiben für sich zu vereinnahmen. Das ist dann aber eben mein Auftrag – der Papst hat seinen aus seiner Rolle als Oberhaupt der Kirche erfüllt, jetzt sind wir dran, jetzt bin ich dran!

Nochmal: Evangelii Gaudium ist ein Dokument der Evangelisierung! Als solches kann und sollte es mir Ansporn und Gradmesser meiner eigenen Aktivitäten sein. Evangelisierung und Mission findet dort statt, wo das Wort Gottes noch nicht bekannt ist. Dieser Ort ist nicht ein Kirchengebäude, in aller Regel nicht auf dem Petersplatz, hoffentlich nicht zu sehr in den Gemeindegebäuden; der Ort der Evangelisierung ist mein persönliches Umfeld, mein Arbeitsplatz, mein Verein, mein Freundeskreis; der Ort ist auch in meinen Aktivitäten, in denen ich mich für Gerechtigkeit einsetze, Armen helfe, mithelfe Strukturen zu verändern, die zu Ungerechtigkeit, Armut, Hunger und Gewalt führen. Evangelisierung ist hoffentlich dort, wo ich bin! Das ist mein persönlicher Auftrag, den ich aus dem Dokument mitnehme, gegen den sich alle sonstige Kritik daran als kleinlich ausnimmt!

Anmerkung

Ich bitte um Entschuldigung für den Umfang dieses Beitrags, habe aber eigentlich noch nicht alles gesagt, was zu sagen wäre. Daher: Fortsetzung folgt (möglicherweise).

Beitrag erschien auch auf: papsttreuer.blog.de

Für die Inhalte der Blogs und Kolumnen sind die jeweiligen Blogger verantwortlich. Die Beiträge der Blogger und Gastautoren geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers wieder.

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Crono

SIe haben es richtig verstanden.

Gravatar: Klimax

Sie haben das vor lauter Furor falsch verstanden. Das tut mir leid für Sie. Sie haben das "ich würde wohl" überlesen. Aber wurscht, Sie gehen ja auch gar nicht auf die Zusammenhänge ein. Insofern verstehe ich Ihren Kommentar als reine Polemik. Das hat der neue prosozialistische Papst aber wohl nicht nötig, sich auf so billige Art verteidigen zu lassen.

Gravatar: Crono

@Klimax sagt:
......Soso, wir sind also “Sklaven einer individualistischen, gleichgültigen und egoistischen Mentalität” – dann wird es natürlich Zeit .....
~~~
Ich fühle mich gar nicht mit den Satz angesprochen. Sind Sie, Klimax, so eine " individualistische, gleichgültige und egoistische Mentalität-Person"?? Also bleibt es Ihnen dann nichts mehr übrig, als "der katholische Kirche spätestens jetzt den Rücken kehren". Benedikt kommt nicht mehr zurück und der gegenwärtige Papst könnte Sie noch überleben, wenn Sie zu lange auf dessen Nachfolger warten möchten. Der kath. Kirche wird Ihre Entscheidung nicht weh tun. :-)
Dann, nur zu!!

Gravatar: Klimax

Soso, wir sind also "Sklaven einer individualistischen, gleichgültigen und egoistischen Mentalität" - dann wird es natürlich Zeit, daß staatlicher Kollektivismus mit der geistigen Hilfe der Katholischen Kirche uns das austreibt! Ein Hoch auf den Sozialismus und seine Fraternisierung mit dem Oberhaupt des Vatikan. Klar, daß der Oskar sich freut. - Nein, ich kann der Ideologie dieses Papstes trotz aller im Artikel versuchten Aufhübschungen nicht folgen. Mir war Benedikt dreimal lieber, und ich würde wohl der katholische Kirche spätestens jetzt den Rücken kehren oder zähneknirschend auf den Nachfolger warten.

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