Ein Überlebender analysiert die stalinistischen Säuberungen

Stalins politische Exzesse, wie das verordnete Verhungern von mehr als zehn Millionen ukrainischer Bauern und die darauf folgende Große „Säuberung“, bei der nicht nur die alte Revolutionsgarde und fast alle Bürgerkriegshelden, sondern auch willkürlich verhaftete Angehörige von ausgewählten Berufsgruppen und Minoritäten ihr Leben verloren oder für Jahrzehnte im Gulag verschwanden,

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Stalins politische Exzesse, wie das verordnete Verhungern von mehr als zehn Millionen ukrainischer Bauern und die darauf folgende Große „Säuberung“, bei der nicht nur die alte Revolutionsgarde und fast alle Bürgerkriegshelden, sondern auch willkürlich verhaftete Angehörige von ausgewählten Berufsgruppen und Minoritäten ihr Leben verloren oder für Jahrzehnte im Gulag verschwanden, sind so wenig im öffentlichen Bewusstsein, dass es immer wieder erstaunt, wie früh schon genaue Analysen dieses Terrors veröffentlicht wurden.

Ein Beispiel ist das von Alexander Weißberg- Cibulski mehrfach aufgelegte Buch: „Im Verhör- Ein Überlebender der stalinistischen Säuberungen berichtet“. Zuletzt erschien es im Europa- Verlag Wien 1993.

Alexander Weißberg war ein österreichischer Jude, der schon früh in die Kommunistische Partei eintrat und bald seine Arbeitskraft als Wissenschaftler der Sowjetunion zur Verfügung stellte. Hochqualifizierte Fachleute wie er wurden gebraucht. Weißberg war schnell leitender Ingenieur in einem Großbetrieb in Charkow.

Er arbeitet dort ab Anfang der dreißiger Jahre, also zur Zeit der verordneten Hungersnot in der Ukraine. Augenzeugenberichte sagen, dass Charkow damals voll war von verzweifelten Bauern, denen es gelungen war, den Cordon sanitaire ihres Dorfes zu durchbrechen und in der Stadt etwas Nahrung zu ergattern.

Weißberg muss sie gesehen haben, zumindest vom Fenster seines Dienstwagens aus. Aber dieses Verbrechen erschüttert seine Liebe zu ersten kommunistischen Feldversuch in der Geschichte der Menschheit nicht.

Er kritisiert zwar die Einführung eines Kartensystems, das für einen Teil der Bevölkerung die niedrigen Lebensmittelpreise aufrechterhält, während sie auf dem staatlichen schwarzen Markt astronomische Höhen erreichen, aber nur, weil er die Maßnahme wirtschaftlich unvernünftig findet.

Seine grundlegende Kritik am Sowjetsystem beginnt, als er selbst in dessen Mühlen gerät.

Es beginnt mit einem Anruf: „Wiederholen Sie keines meiner Worte! Hier spricht das NKWD. Kommen Sie bitte um 11 Uhr zu uns“.

Weißberg hat keine Wahl. Er muss dieser „Einladung“ Folge leisten. Nach den ersten vier Verhören wird er immer wieder nach hause entlassen. Das NKWD schlägt vor, mit ihm zusammenzuarbeiten. Er soll gestehen, eine Gruppe von Terroristen rekrutiert zu haben, mit dem Ziel, Stalin und Woroschilow bei einem Jagdausflug zu erschießen. Er soll seine Mitverschwörer nennen, dann würde er nach einem kurzen Aufenthalt im Lager, anschließend ein gemachter Mann sein.

Weißberg lehnt dieses Ansinnen ab und beteuert seine Unschuld. Er bleibt dabei, auch, als er im Gefängnis landet. Anfangs glaubt er noch an einen Irrtum und daran, dass seine Vernehmer  an der Wahrheit interessiert seien.

Allerdings ist er zu klug und zu wenig indoktriniert, um nicht bald das System zu durchschauen. Was er erlebt, ist eine verbrecherische Groteske. Die Untersuchungsführer wissen genau, dass sie Unschuldige vernehmen. Alle Geständnisse sind falsch. Aber unter keinen Umständen dürfen Gefangene und Vernehmer zugeben, dass es sich um eine reine Farce handelt.

Als Weißberg nicht aufhört, alle Beschuldigungen zurückzuweisen, wird er schließlich der schärfsten Behandlung unterzogen, die das NKWD in petto hatte: der Fließbandvernehmung, genannt der „große Konveyer“.

Der sah so aus, dass der Gefangene tagelang ununterbrochen verhört wurde, sitzend, was bald zu Schwellungen der Lymphknoten und zu unerträglichen Schmerzen führte.

Die einzigen Pausen waren die Toilettengänge und Mahlzeiten von 10 Minuten. Der Gefangene sollte unbedingt bei Kräften bleiben.

Am vierten Tag brach Weißberg zusammen und bot dem Untersuchungsrichter an, jedes vorgefertigte Geständnis zu unterschreiben. Dafür wurde er sofort der Sabotage bezichtigt, denn damit würde er ja behaupten, das NKWD hielte Unschuldige fest.

Nach weiteren zwei Tagen schrieb Weißberg eigenhändig ein Geständnis, das er sofort widerrief, nachdem er sich von den Strapazen des Fließbandverhörs wieder erholt hatte.

Es folgten drei weitere Fließbandverhöre, Geständnisse und Widerrufe. Zwischendurch rief der Hauptuntersuchungsfüher aus: „Warum quälen Sie mich so?“.

 

Das NKWD musste seinen Plan fallen lassen, Weißberg als Belastungszeugen im Bucharin- Prozess einzusetzen. Dass Weißberg nicht einfach erschossen wurde, wie man ihm mehrfach angedrohte, lag wohl daran, dass er österreichischer Staatsbürger war und sich u.a. Einstein und die Joliot- Curies für ihn einsetzten, wovon Weißberg selbstredend nichts ahnte.

Dass die Verhör- Groteske steigerungsfähig war, erfuhr Weißberg von einem Zellengefährten. Kuschnarenko, Bürgerkriegsheld und Kommandeur der Roten Armee, hatte einen jungen, ehrgeizigen, aber unerfahrenen Vernehmer. Der hatte inzwischen ein Netz aus Indizien aufgebaut, dass Kuschnarenko der Kopf einer Bande war, die den bewaffneten Aufstand plante. Der Untersuchungsführer hatte zwar bedacht, dass dazu Waffen gebraucht werden, aber nicht, dass er am Ende das Versteck der Waffen enttarnen müsste. Inzwischen hatte er schon zwölf Aussagen, wer die nicht existierenden Waffen an wen weitergereicht haben wollte, als Kuschnarenko als angeblicher Empfänger genannt wurde.

Der wollte nun niemandem den schwarzen  Peter zuschieben und wurde dafür fürchterlich gefoltert. Am dritten Tag fiel Weißberg, dem sich Kuschnarenko anvertraute, ein Ausweg ein. Er solle einfach einen schon Verstorbenen als nächsten Waffenempfänger benennen. Der Untersuchungsführer würde froh sein, denn einem Toten konnte er nicht mehr zwingen, das Waffenversteck preiszugeben. So kam es dann auch.

Außer den Verhören lernte Weißburg auch alle Arten von Zellen des NKWD kennen. Von der Isolierzelle, in der er fast drei Monate saß bis zur Massenzelle, in der die Menschen so dicht gepfercht saßen, dass sie in der Nacht nur auf der Seite liegen konnten, mit ineinander verhakten Beinen. Im Sommer gab es Schweißnebel in der Zellenluft und einen dicken Film von menschlichem Schweiß auf dem Boden.

Trotzdem beschreibt Weißburg sein Leben in der Massenzelle als die schönste Zeit seines Gefängnisaufenthalts. Er begegnete interessanten Menschen. Tagsüber gab es angeregte Gespräche oder Vorträge, abends wurden Geschichten erzählt, oder aus Büchern vorgelesen. Wenn viele zum Verhör geholt wurden, gab es sogar ausreichend Platz zum Schlafen.

Zwar waren die Gefangenen von der Außenwelt und allen Informationen völlig abgeschnitten, die vielen Verhafteten brachten aber immer wieder Neuigkeiten.

So erfuhr Weißberg schon im Gefängnis, warum die engsten Freunde Lenins alles gestanden, was man von ihnen verlangte und sich seelenruhig zum Tode verurteilen ließen. Man hatte ihnen versprochen, dass sie nicht hingerichtet, sondern in einen stillen Teil des großen Landes verbannt werden würden.

Zwar stand die Nachricht von ihrer Hinrichtung in der Zeitung, sie lebten aber noch zehn Tage länger. In dieser Zeit wurden sie der nächsten Gruppe von Schauprozesskandidaten vorgeführt, als Beweis, dass die Todesurteile nicht vollstreckt würden. Vor den Erschießungskommandos merkten sie dann, dass sie Stalin zu Unrecht vertraut hatten.

Drei Jahre musste Weißberg in NKWD- Gefängnissen verbringen. Dann wurde er im Ergebnis des Hitler- Stalin- Paktes an die Nazis ausgeliefert.

Leider hat er das Buch, wie er die Nazidiktatur überlebte, nie geschrieben.

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