Die Wahl der Qual

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Gestern war erster Advent. Ich besuchte die Innenstadt Zürichs. Die ganze Atmosphäre schien aus einer einzigen Aufforderung zu bestehen:  Geniesse den ersten Advent!

Ich stieg in der Bahnhofstrasse aus der Strassenbahn und befand mich mit einem Schlag in einer Menschenmenge, die nicht gemütlich durch die Strasse schlenderten, sondern sich aneinander vorbei drängelten. Viele von ihnen waren sauber herausgeputzt, sorgfältige Frisur, teure Kleidung, Lederstiefel, das Hündchen an der Leine, den Papiersack aus der Boutique in der Hand. Ich sah konsequent nach unten, um nicht in die Gesichter sehen zu müssen. Diese standen in auffälligem Kontrast zu Outfit und Kleidung.

Die nächste Station war bereits erreicht. Meine Jungs sind ins „Märchentram“ eingeladen worden. Der Nikolaus fuhr die rote Strassenbahn mit den blinkenden Lämpchen. Ich winkte den Kindern zum Abschied. Mein Dritter schrieb im Nachgang: „Es hatte zwei Engel. Sie sagten, dass sie die Sterne putzten. Sie streuten uns Goldstaub auf die Nasen. Das war der Schmutz der Sterne. Sie sagten: ‚Jetzt müsst ihr die Augen schliessen, dann wünschen und fest daran glauben, dass der Wunsch erfüllt wird. Umso fester man daran glaubt, desto schneller geht der Wunsch in Erfüllung.‘“ Er konnte es nicht unterlassen, dem Engel eine Feder auszurupfen. Mein Vierter schrie begeistert: „Ihr seid nur verkleidet.“

Inzwischen suchte ich in einer Nebengasse etwas Entspannung. Doch auch da drängten sich die Menschen. Ein Platzkonzert war im Gange, ein Jugendmusikorchester spielte ein rüstiges Stück. Der Moderator schrie ins Mikrofon: „Geniessen Sie den ersten Advent.“ Die Passanten drängten sich vor der Treppenbühne. Ein junger Mann warf vor mir seinen Pappbecher weg, einer Dame auf die Füsse. Im Hintergrund schleppte die Polizei zwei falsch parkierte Fahrzeuge ab. Grün leuchtete die Reklame „Glühwein“. Nein, danke.

Ich folgte der Limmat aufwärts und erblickte die beiden beleuchteten Grossmünstertürme. Ich hastete vorwärts, um mich für einige ruhige Momente ins Kirchenschiff zu flüchten. Die Kirche war voll besetzt. Ein Offenes Singen hatte eben begonnen. Das grösstenteils ergraute Publikum machte willig mit. Warum waren sie all gekommen? Der Dirigent kommentierte die Stücke seelenvoll. Er schaffte es mühelos, die christlichen Texte ohne den leisesten Hinweis auf die Inhalte zu kommentieren. „Dieses ‚Gloria‘ tönt noch nicht so hoheitsvoll.“ Darauf ertönten die Stimmen machtvoll. „Prima, jetzt sind noch einige Engel dazugekommen.“

Ich verliess die Kirche, um die Jungs am Zielort vom „Märchentram“ abzuholen. Es hatte Verspätung. Die Kälte kroch mir von den Füssen in den Körper hoch. Ich suchte in einem Warenhaus Zuflucht. Die Verkäuferinnen standen gelangweilt herum. Einzelne Käufer schlenderten eher ziellos durch die Regalstrassen. Stehend las ich einige Seiten, um wieder nach draussen zu gehen.

Wieder zu Hause angekommen, fühlte ich mich leer. Gleichzeitig merkte ich, dass ich mich im Austausch mit meiner Frau nicht richtig konzentrieren konnte. Meine Wahrnehmungskanäle waren verstopft. Wie es wohl den anderen Menschen ergehen wird, die den ersten Advent in der Stadt genossen haben? Die sassen jetzt wohl vor dem Fernseher, um den Sonntag ausklingen zu lassen.

N. B. Der Lernstart am Montagmorgen gestaltete sich ebenfalls harzig.

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Gravatar: Joachim Datko

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