Die Neutronik – der Weg zur nuklearen Batterie?

Vielleicht markiert der Neutristor – ganz wie der Transistor – die Geburt eines neuen technischen Paradigmas, das man in metaphorischer Anlehnung an die „Elektronik“ als „Neutronik“ bezeichnen könnte.

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Das Prinzip eines Pumpspeichers ist leicht zu veranschaulichen. Man hebe einfach ein Glas Wasser hoch – und lasse es fallen. Der erste Schritt entspricht dem Pumpen von Wasser in ein höher gelegenes Becken. Das erfordert Arbeit, wie man leicht merkt, wenn man es mit einem vollen Maßkrug probiert. Denn die Erdanziehungskraft gilt es zu überwinden, wenn auch nur für ein paar Zentimeter. Ein Teil der aufgewendeten Energie ist nun im Wasserglas gespeichert – ein Teil aber auch unwiederbringlich verloren (beispielsweise durch Reibung in den Muskeln oder durch die Verdrängung der Luft). Beim Pumpspeicher geschieht gleiches. Verluste entstehen unter anderem in den Pumpen und durch die Reibung des Wassers in den Leitungen. Läßt man das Wasser aus dem oberen Reservoir wieder abfließen und zur Stromerzeugung durch Turbinen strömen, wird die gespeicherte Energie wieder freigesetzt. Genau wie beim fallenden Wasserglas.

Jeder Energiespeicher funktioniert nach diesem Prinzip. Gespeicherte Energie ist das Potential eines Systems, Arbeit zu leisten. Verliehen wird ihm diese Fähigkeit durch ein Kraftfeld, in dem es sich befindet. Je näher sich das System an der Quelle dieses Feldes befindet, desto geringer ist sein Potential. Denn desto weniger Energie kann es bei einem “Absturz” noch freisetzen. Neben der Gravitation, die auf alle Massen wirkt, gibt es noch die elektromagnetische Kraft, die nur Systeme mit einer elektrischen Ladung betrifft. Das dritte wichtige Feld ist das der starken Wechselwirkung, die auf Distanzen innerhalb von Atomkernen begrenzt ist. Letzteres wird im folgenden einfach als “Kernkraft” bezeichnet, denn die vierte fundamentale Wechselwirkung, die “schwache Kernkraft”, hat andere Eigenschaften und kann daher im hier betrachteten Zusammenhang ignoriert werden.

Energie zu speichern bedeutet, Systeme in diesen Feldern in geeigneter Weise zu “positionieren”. Energie aus dem Speicher wieder zu entnehmen, gelingt durch eine Veränderung dieser “Position”. Energie auf diese Weise zu produzieren ist unmöglich. Nach den Gesetzen der Thermodynamik bekommt man grundsätzlich weniger hinaus, als man hineingesteckt hat. Das Schema soll dies verdeutlichen. Energiespeicher sind Maschinen, die Arbeit leisten und damit immer auch Energieverbraucher. Energie erst zu speichern, um sie zu einem späteren Zeitpunkt geregelt wieder freisetzen zu können, lohnt sich daher nur bei bestimmten Anwendungen. Die vergleichsweise hohen Kosten von Batterien und Akkumulatoren nimmt man gerne in Kauf, um elektronische Geräte mobil betreiben zu können. Als Energiequellen für stationäre Verbraucher, man denke an “Power-to-Gas” und ähnliche Konzepte, sind Speichersysteme grundsätzlich gegenüber der Nutzung vorhandener Energieressourcen im Nachteil.

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Denn die zur Speicherung notwendige Energie erscheint bei letzteren nicht auf der Rechnung. Vielmehr wird auf die kostenlos erbrachte Leistung natürlicher Prozesse zurückgegriffen. Bei fossilen Energieträgern wie Erdöl hat ein komplexer Vorgang aus Photosynthese, chemischer Zersetzung und physikalischen Einflüssen wie Druck und Temperatur für die Überführung der Strahlungsleistung der Sonne in Bindungen von Kohlenstoff und Wasserstoff gesorgt. Das Potential steckt in der Anordnung der Elektronen in den elektrischen Feldern der Atomkerne, es ist daher auf die elektromagnetische Wechselwirkung zurückzuführen. Solche chemischen Bindungen sind stabil, es ist daher Energie zuzuführen, um sie zu trennen und es den Elektronen zu ermöglichen, “Positionen” mit geringerem Potential in einer Bindung aus Kohlenstoff oder Wasserstoff und Sauerstoff einzunehmen.

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Ein wichtiges Kriterium, nach dem die Physik dem Ingenieur einen Suchraum für neue Energiespeicher vorgeben kann, ist das der Energiedichte. Denn von der Stärke des verwendeten Kraftfeldes hängt in erster Linie die Menge an Energie ab, die pro Masseneinheit gespeichert kann. Setzt man die Stärke der Kernkraft gleich 1, so liegt die der elektromagnetischen Wechselwirkung bei 10-² und die Gravitation ist bei 10-41 anzusiedeln.

Die folgende Tabelle listet einige Beispiele auf. Dabei werden sowohl das genutzte (Reaktions-)Prinzip und eine bekannte technische Realisierung, als auch die zugrundeliegende Wechselwirkung genannt. Bei den Angaben zur Energiedichte handelt es sich um eine Schätzung bzw. Rundung der real erreichbaren Höchstwerte. Es geht hier nur darum, einen prinzipiellen Vergleich zu ermöglichen.

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Die höchste überhaupt denkbare Energiedichte weist die vollständige Umwandlung von Materie in Energie gemäß dem Einsteinschen Äquivalenzprinzip E=mc² auf. Nutzen könnte man es durch die Reaktion von Materie mit Antimaterie, was momentan schlicht an den Möglichkeiten scheitert, relevante Mengen von Antimaterie herzustellen. Schwungräder, heißer Dampf und Druckluftspeicher am anderen Ende der Skala speichern kinetische Energie. Diese ist mit der trägen Masse der Materie verknüpft. Nach dem Machschen Prinzip und der Allgemeinen Relativitätstheorie sind träge und schwere Masse identisch und werden durch die Summe der Gravitation aller anderen Massen im Universum definiert. Daher sind auch diese Speichersysteme auf die Schwerkraft als wirkendes Feld zurückzuführen.

Zwei Begriffe in der Tabelle sind kursiv gesetzt. Denn die Nutzung des Neutroneneinfangs und die Verwendung angeregter Kerne sind noch hypothetischer Natur.

Neutroneneinfang – die einfache Lösung aller Energieprobleme?

Atomkerne können freie Neutronen einfangen. Diese Fähigkeit ist die Grundlage der Elementsynthese in den Sternen. Wenn sich ein Neutron an einen vorhandenen Kern anlagert, wird Energie freigesetzt. Ganz ähnlich wie beim Wasserglas „fällt“ sozusagen auch das Neutron auf die Quelle der Anziehung hinunter. Nur handelt es sich hier eben nicht um ein Gravitationspotential, sondern um das Feld der Kernkraft. Dessen Stärke bedingt bei diesem Vorgang eine nennenswerte Freisetzung von Energie durch hochenergetische Photonen, durch Gammastrahlung. Die beispielsweise zur Erwärmung eines geeigneten Materials verwendet werden könnte, um Dampf und schließlich Strom zu produzieren. Das Prinzip ist tatsächlich genau so einfach, wie es klingt. Man richte einen Strahl Neutronen auf einen Block eines ordinären Metalls, beispielsweise Eisen. Dieses besteht zu über 90% aus einem Isotop mit der Massenzahl 56 (im Kern befinden sich also 26 Protonen und 30 Neutronen). Fügt man ein Neutron hinzu, bildet sich Eisen 57 – ebenfalls stabil und nicht radioaktiv. Genau wie das nächsthöhere Isotop Eisen 58. Eisen als Energiespeicher? Das Material ist quasi unbegrenzt verfügbar. Wenn man von der abzuschirmenden Gammastrahlung absieht (die ja auch genutzt und nicht freigesetzt werden soll), wäre das nicht eine höchst saubere Sache?

Leider nein, denn es findet nicht nur der simple Neutroneneinfang statt. Tatsächlich können eine Vielzahl an Kernreaktionen ausgelöst und kaum verhindert werden, die erstens nicht unbedingt die Effizienz des Systems erhöhen und zweitens eben doch radioaktive Abfälle produzieren. Genau deswegen hat der Neutroneneinfang ja heute schon eine gewisse technische Bedeutung. Bei der Neutronenaktivierungsanalyse werden Materialproben mit Neutronen bestrahlt. Die dadurch ausgelösten, anhand der  freiwerdenden Strahlungsenergie analysierbaren Kernreaktionen sind von der Zusammensetzung der Probe charakteristisch abhängig.

Viel hinderlicher aber ist: Es gibt keine freien Neutronen. Eine effiziente und hinsichtlich der gewünschten Reaktion effektive Neutronenquelle wäre die Grundvoraussetzung für diese Art der Energiegewinnung, die die Kernkraft nutzt, ohne Kerne zu spalten oder zu fusionieren.

Die nukleare Batterie

Ganz ähnlich wie die Elektronen in der Atomhülle können auch die Protonen und Neutronen im Atomkern unterschiedliche Energieniveaus besetzen. Nur ist das Potential der Kernkraft mathematisch weit schwieriger zu beschreiben. Für die Atomhülle kann der Kern als eine zentrale, punktförmige Quelle elektrischer Anziehung angesehen werden. Im Kern selbst dagegen hängt nach dem sogenannten Schalenmodell die auf ein Teilchen wirkende Kraft von der Überlagerung der Kräfte aller anderen Teilchen und damit von deren Relativpositionen ab. Aber ganz ähnlich wie in der Atomhülle ergeben sich auch im Kern diskrete Energieniveaus, die aufgrund quantenmechanischer Gesetzmäßigkeiten jeweils nur von einer bestimmten Anzahl an Teilchen besetzt werden können. Ein Kern, dessen Energieniveaus von niedrig nach hoch lückenlos gefüllt sind, befindet sich im Grundzustand. Denn kein Nukleon kann durch den Übergang auf ein niedrigeres Niveau (eine „tiefergelegene“ Schale) Energie abgeben. Kein Nukleon findet Platz, um ähnlich wie das Wasserglas „herunterfallen“ zu können. Durch Energiezufuhr kann man Kerne anregen. Kernteilchen wechseln dann von niedrigen in höherenergetische Zustände. Solche Kerne nennt man „Isomere“ des Grundzustands. Sie entstehen beispielsweise in Kernreaktoren und sind in der Regel sehr kurzlebig. In Bruchteilen von Bruchteilen einer Sekunde nimmt ein Nukleon wieder den freigewordenen Platz ein, „fällt“ also wieder herunter und der Grundzustand wird – unter Freisetzung von Strahlungsenergie – wieder hergestellt.

Es gibt aber einige wenige Ausnahmen, sogenannte metastabile Isomere mit zum Teil sehr langen Lebensdauern (gekennzeichnet durch ein kleines „m“ nach der Massenzahl). Manchmal nämlich ist der Übergang von einem angeregten zurück in den Grundzustand schwierig. Weil nicht nur die potentielle Energie, sondern auch quantenmechanische Eigenschaften wie der sogenannte “Spin” nur diskrete Niveaus in bestimmten Kombinationen einnehmen dürfen. Wenn ein Übergang von einem angeregten in einen Grundzustand eine größere Änderung dieser Eigenschaften erfordert, um unzulässige Kombinationen von Quantenzahlen zu vermeiden, dann findet er seltener statt. Isomeren kann man daher ähnlich wie anderen radioaktiven Kernen eine Halbwertszeit zuordnen.

Tantal 180m ist ein angeregter Zustand, dessen Lebensdauer (Größenordnung 1015 Jahre) die des Grundzustands (8 Stunden) ironischerweise sogar übersteigt. Weitere bekannte langlebige Isomere sind Technetium 99m (6 Stunden) oder auch Protactinium 234m (1 Minute).

Die gezielte Umwandlung von Energie in potentielle (Lage-)Energie von Kernteilchen in metastabilen Nukleonen wäre das Prinzip einer neuartigen „nuklearen“ Batterie. In ihr könnte Energie in einer Dichte gespeichert werden, die die von Treibstoffen oder Batterien um das Millionenfache übersteigt. Handys müssten nie mehr aufgeladen und Fahrzeuge nie mehr aufgetankt werden. Stattdessen wäre am Ende der Lebensdauer solcher Systeme der Energiespeicher immer noch so gut gefüllt, daß man ihn ausbauen und weiterverwenden könnte. Es gibt da nur ein paar kleinere Hürden zu überwinden:

     

  • Es bedarf eines Herstellungsverfahrens für metastabile Isomere eines geeigneten Typs in geeigneten Mengen. Man kann hierzu Materialien mit Neutronen aus Forschungsreaktoren oder Teilchenbeschleunigern (Spallationsquellen) bestrahlen. Bislang können auf diese Weise aber lediglich Quantitäten im Gramm-Bereich in Zeiträumen von Jahren produziert werden. Der erforderliche Energieaufwand spottet zudem jeder Beschreibung.
  • Es bedarf eines regelbaren Konversionsverfahrens zur Überführung der Isomere in ihren Grundzustand. Das Grundprinzip ist, ähnlich zum oben beschriebenen Vorgang der Verbrennung von Kohlenwasserstoffen, den angeregten Kern durch einen kleinen energetischen Schubs in einen noch höher angeregten Zustand zu versetzen, aus dem heraus der Übergang in den Grundzustand viel einfacher ist und daher unmittelbar stattfindet.
  • Die freiwerdende Gammastrahlung ist in geeigneter Weise abzuschirmen und möglichst vollständig in Wärme oder Elektrizität umzuwandeln.
  • Und schließlich sollte das ganze auf engstem Raum stattfinden. Die Möglichkeit des „Wiederaufladens“ ist dabei nicht zwingend erforderlich, eine nukleare Batterie kann auch als Einwegsystem gute Dienste leisten. Sie könnte daher fertig verkapselt und mit den entsprechenden Stromanschlüssen versehen aus der Fabrik kommen. Idealerweise steht sie in verschiedenen Baugrößen (und damit für verschiedene Leistungen) zur Verfügung.
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Dies ist keine reine Fiktion. Seit mindestens drei Jahrzehnten wird intensiv an den Grundlagen solcher Systeme geforscht. Schwierigkeiten bereitet dabei vor allem die geringe Zahl an bekannten metastabilen Isomeren, die für eine solche Anwendung in Frage kommen. Besondere Aufmerksamkeit erregte dabei das oben erwähnte Tantal 180m, bei dem als bislang einzigem Isomer der Übergang in den Grundzustand durch von außen zugeführte Energie demonstriert werden konnte. Große Hoffnungen verbinden sich bis heute mit Hafnium 178m2, für das Experimente in dieser Hinsicht widersprüchliche Ergebnisse zeigten. Im Jahr 2008 veröffentlichte das Lawrence Livermore Laboratory einen zusammenfassenden Bericht – der weiten Teilen sicher nur für Fachleute verständlich ist. Die Autoren gelangen zu einer eher pessimistischen Aussicht:

Our conclusion is that the utilization of nuclear isomers for energy storage is impractical from the the points of view of nuclear structure, nuclear reactions, and of prospects for controlled energy release. We note that the cost of producing the nuclear isomer is likely to be extraordinarily high, and that the technologies that would be required to perform the task are beyond anything done before and are difficult to cost at this time.

„Beyond anything done before“ – genau dies macht die Angelegenheit so faszinierend und so lohnenswert. Tatsächlich enthält die Nuklidkarte noch viele weiße Flecken, unerforschte Gebiete, in denen sich so manch geeignetes Isomer verbergen könnte. Auch gibt es noch immer keine umfassende Theorie der Vorgänge in den Atomkernen, Experimente zeigen immer wieder überraschende und unerwartete Ergebnisse. Forcierte, breit angelegte Forschungsanstrengungen sind erforderlich. Die gegenwärtig unstetige, auf weltweit nur wenige Arbeitsgruppen und hochspezifische Fragestellungen begrenzte Tätigkeit wird kaum anders als durch einen glücklichen Zufall Durchbrüche erbringen können.

Der Neutristor

Das Glück gehört dem Tüchtigen – man kann die Wahrscheinlichkeit eines solchen Zufalls enorm erhöhen. Auch hier wäre mit einer geeigneten Neutronenquelle dem Fortschritt sehr geholfen.  Neutronen sind ideale Werkzeuge, um Vorgänge in Atomkernen auslösen und analysieren zu können. Erstens haben sie genug Masse, um wirklich einen Effekt zu erzielen. Zweitens wechselwirken sie über kurze Distanzen mittels der starken Kernkraft und drittens werden sie, da neutral, nicht vom elektrischen Potential der Protonen beeinflußt.

Wenn, wie jüngst überall kommuniziert wurde, Deutschland ein Problem mit Spitzenforschern und Nachwuchskräften hat, dann liegt das vielleicht nicht nur an Geld und Zeitverträgen, sondern auch am fehlenden Zugang zu Forschungswerkzeugen. Man denke an Beschleunigeranlagen, Forschungsreaktoren, aber auch an Großteleskope oder Windkanäle – wann immer man als Wissenschaftler eine solche Infrastruktur benötigt, wird es schwierig. Einem bürokratischen Antragsverfahren folgen lange Wartezeiten und Chancen hat man ohnehin nur, wenn man das erwartete Ergebnis seines Ansatzes schon vorher erläutern kann. Einfach mal ins Unbekannte hinein experimentieren ist kaum möglich, von der stetigen Wiederholung eines Projektes unter variierten Rahmenbedingungen ganz zu schweigen.

Natürlich sind Reaktoren und Beschleuniger längst nicht mehr die einzigen verfügbaren Neutronenquellen. Es gibt Geräte, die auf einen Schreibtisch passen und damit halbwegs als portabel angesehen werden können. Klassisch werden Isotope eingesetzt, die eine hohe Neigung zu einer spontanen Spaltung aufweisen und dadurch Neutronen freisetzen (bspw. Californium 252). Allerdings müssen auch diese Nuklide zunächst aufwendig hergestellt werden. Da sie im Laufe der Zeit von selbst zerfallen, ist Lebensdauer des Neutronengenerators begrenzt. Der Neutronenfluß kann nicht gesteuert werden und die Handhabung erfordert spezielle Sorgfalt. Immerhin handelt es sich um radioaktive und mitunter auch toxische Stoffe, was fachmännischen Gebrauch und Entsorgung erforderlich macht.

Als saubere Alternative hat sich in den letzten Jahren die Nutzung der Kernfusion etabliert. Dabei werden beispielsweise Deuterium-Kerne („schweres Wasser“) in elektrischen Feldern beschleunigt. Sie können dann zu Helium fusionieren, wobei ein Neutron frei wird. Ohne radioaktive Stoffe zu nutzen und ohne solche zu produzieren. Die luxemburgische Firma NSD-Gradel-Fusion liefert solche Systeme. Ein anderes ist der vielleicht einigen Lesern bekannte Fusor, den mit ein wenig technischem Verständnis jeder sogar selbst bauen kann.

Auch diese Geräte sind aber noch zu groß und – in entsprechender Qualität – zu teuer. Ein wesentlicher Fortschritt in diesen beiden Punkten gelang jüngst den Sandia National Laboratories aus den USA. Im Jahr 2012 stellten diese den „Neutristor“ der Öffentlichkeit vor. Eine Neutronenquelle in der Größe eines Mikrochips, die für eine industrielle Massenproduktion geeignet ist. Die Abbildung verdeutlicht die Funktion, es handelt sich im Prinzip um einen Teilchenbeschleuniger im Miniaturformat.

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Die Neutronik als neues technisches Paradigma

Man kann hier eine Entwicklung erkennen, die dem Sprung von der Elektrotechnik (Röhren und Relais) zur Elektronik (Transistoren und integrierte Schaltkreise) in den 1960er Jahren entspricht. Mit dem Neutristor können freie Neutronen im Prinzip jedem Schüler, jedem Studenten, jedem Wissenschaftler, ja selbst Hobbybastlern zu geringen Kosten jederzeit und überall zur Verfügung stehen. Dadurch erst werden Forschungstätigkeiten in einem Umfang möglich, der wirklich zu revolutionären neuen kerntechnischen Systemen führen kann.

Der rasante Fortschritt in der elektronischen Datenverarbeitung, der in wenigen Jahrzehnten von lochkartengespeisten und aus heutiger Sicht erschreckend leistungsschwachen Großgeräten zum Smartphone führte, war nur aufgrund einer positiven Rückkopplung zwischen Nutzer und Entwickler möglich. Zwischen den beiden Seiten verwischten die Grenzen mit jeder neuen Gerätegeneration zunehmend. Enthusiasten gründeten kleine Unternehmen, aus denen Konzerne wurden, die neue Welten etablierten, durch die neue Ideen immer schneller immer weiter verbreitet werden konnten. Und dieses Innovationsfeuerwerk ist ungebrochen. In Hard- wie Software. Das Potential einer Technologie, sei es der Mikrochip, sei es das Internet, sei es die digitale drahtlose Datenübertragung, wird umso besser ausgeschöpft und ausgebaut, je mehr Menschen Zugang zu ihr haben, je mehr Menschen sie nutzen, je größer also das kollektive Gehirn ist, das sich ihr widmet. Auch und gerade dann, wenn die Beschäftigung in spielerischer Weise erfolgt, wenn sie der Befriedigung der Neugier oder schlicht dem puren Vergnügen dient.

Mit dem Neutristor könnte ein ähnlicher Effekt die Kerntechnik erfassen. Vielleicht markiert er – ganz wie der Transistor – die Geburt eines neuen technischen Paradigmas, das man in metaphorischer Anlehnung an die „Elektronik“ als „Neutronik“ bezeichnen könnte.

Zunächst sind Neutronen vor allem wertvolle Werkzeuge der Analyse. Strukturen von Materialien aller Art können mit ihnen wie mit kaum einem anderen Instrument untersucht werden. Was hilft, Vorgänge auf molekularer Ebene zu entschlüsseln und zu erklären. Ein Überblick dazu findet sich hier: What can be investigated with neutrons? Wird diese Möglichkeit erst einmal umfassend ausgenutzt und bleibt nicht, wie bislang, auf nur vereinzelte Forschergruppen begrenzt, kann die Neutronik eine Basis für bedeutende Innovationen in vielen anderen Bereichen werden – von der Molekularbiologie bis hin zur Materialwissenschaft.

Dann ist natürlich die Bestrahlung mit Neutronen eine etablierte und wirksame Methode zu Behandlung von Krebserkrankungen. Mit dem Neutristor werden solche Therapien deutlich preiswerter und sind auch ambulant möglich. Statt nur einzelner großer Zentren könnte bald jedes Krankenhaus, gar jede Arztpraxis zum Anbieter werden. Man könnte einem Patienten sogar an geeigneter Stelle im Körper einen solchen „Chip“ implantieren, der dauerhaft mit geringer Dosis Tumore bekämpft.

Schließlich geht es um den Übergang von molekularen Dimensionen zu denen der Atomkerne selbst. Von der Nano- über die Piko- zur Femtotechnologie. Neutronen können in diesen Dimensionen helfen, Kernreaktionen auszulösen und ihre genauen Abläufe zu verfolgen. Sie können helfen, bislang unbekannte metastabile Isomere zu entdecken und zu produzieren. Sie können bei der Entwicklung von Mechanismen helfen, mit denen die in solchen Kernen gespeicherte Energie geregelt freigesetzt werden kann. Und am Ende stünde dann tatsächlich die nukleare Batterie. „Beyond anything done before“  - war genau das nicht schon immer die entscheidende Motivation?

Ebenfalls erschienen auf science-skeptical.de

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