Die Dinge vom Kopf wieder auf die Beine stellen

Menschen, denen es Ernst damit ist, unser demokratisches System weiterzuentwickeln, haben oft klare Vorstellungen, was getan werden müsste.

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Das beginnt bei Einführung einer Wahlpflicht – wahlweise bei einer hohen Zahl von Nichtwählern die Reduzierung der zu vergebenden Parlamentssitze -, setzt sich fort bei der Forderung nach plebiszitären Verfahren – Volksabstimmungen, Direktwahl des Bundespräsidenten – und endet noch lange nicht bei der gewünschten Abschaffung des Fraktionszwangs für Abgeordnete. Einig sind sich jedenfalls alle, dass sich etwas ändern muss. Die nüchterne Beurteilung der einzelnen Forderungen fällt nicht leicht, haben sie doch sowohl Vor- als auch Nachteile. Der Wähler neigt ja bisweilen dazu, nicht immer nur nach Sachargumenten zu entscheiden, sondern er ist durchaus stimmungsanfällig. Nehmen wir also mal an, die Partei A, die in Berlin regiert und wegen ihrer Politik im Volk unbeliebt ist, stellt zur Wahl des Bundespräsidenten einen phantastischen Kandidaten auf. Wäre nicht die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass viele Bürger das Vehikel der Wahl des Staatsoberhaupts nutzen würden, um der verhassten Partei A mal “einen Denkzettel zu verpassen”? Und wäre das gut für unser Land, wenn ein Kandidat, der eigentlich perfekt ist, einer Anti-Stimmung gegen seine Partei zum Opfer fiele? Oder Volksabstimmungen: Wie viele Bürger haben denn das Wissen um unser internationales Finanzsystem, dass sie befähigen würde, eine Entscheidung darüber zu treffen, ob es gut oder schlecht für Deutschland wäre, den Euro abzuschaffen? Welcher 18-Jährige, welcher Malermeister, welche Marktfrau kann das sachgerecht entscheiden? Dieses Land hat sich ja das System einer repräsentativen Demokratie gegeben, damit wir uns Leute wählen, die sich intensiv mit den Dingen beschäftigen und dann möglichst in unserem Interesse entscheiden. Die unbestreitbare Tatsache, dass das manchmal schiefgeht, spricht nicht grundsätzlich gegen das System.

Schauen wir auf den Fraktionszwang. Natürlich ist auch jetzt qua Gesetz jeder Abgeordnete zunächst einmal seinem Gewissen verantwortlich und völlig frei in seinem Abstimmungsverhalten. Soweit die Theorie. In der Praxis stimmen fast alle Abgeordneten in 99 Prozent der Fälle geschlossen mit der eigenen Fraktion. Das regt manche Bürger auf, hat aber ebenfalls einen Sinn. Die große Mehrheit der Wähler kreuzt in der Wahlkabine einen Politiker an, den sie persönlich gar nicht kennen. Sie haben über ihn vielleicht in der Zeitung gelesen, kennen sein Konterfei von Wahlplakaten. Aber sie schenken diesem Kandidaten oder dieser Kandidatin ihr Vertrauen. Und zwar wegen des Parteikürzels hinter dem Namen. Man wählt einen Abgeordneten, weil der Kandidat der XY-Partei ist und in der Überzeugung, dass dieser später als Abgeordneter dann auch die Politik vertritt, für die seine Partei steht. Wollen wir wirklich ein System, in dem wir einen Abgeordneten wählen und uns dann überraschen lassen, was er wohl in den folgenden Jahren im Parlament mit unserem Vertrauen so macht? Also, ich weiß gerne vorher, woran ich bin. Und wenn Sie mir jetzt schreiben, dass man ja vor der Wahl feststellen kann, wofür ein Kandidat steht, dann rufe ich schon jetzt: Einspruch, euer Ehren! Oder haben Sie schon vor zwei Jahren gewusst, was 2014 in der Ukraine passieren würde? Viele Themen entstehen überraschend, praktisch aus dem Nichts.

Nach meiner Meinung wäre es vorrangig, wenn wir erst einmal die ursprüngliche Aufgabenteilung zwischen Exekutive und Legislative wieder herstellen könnten. Sie erinnern sich: Das Parlament entscheidet, die Regierung führt aus – so ist es gedacht. Aber so läuft es nicht. Die Regierungsparteien in Deutschland sichern die Politik der Regierung im Parlament durch Mehrheitsbeschaffung ab. Das stellt das Prinzip auf den Kopf. Wichtige politische Initiativen aus der Mitte des Parlaments, wohlmöglich auch noch fraktionsübergreifend oder – Gott bewahre! – gegen die erklärte Politik einer Regierung? Das ist die Ausnahme. Das Kanzleramt und die Ministerien bestimmen die Agenda, das Parlament nickt ab. Wissen Sie, warum kürzlich die schwedische Regierung kollabiert ist? Weil die Opposition einen Haushaltsentwurf ins Parlament eingebracht hat, der eine Mehrheit fand. Sie haben richtig gehört. In Schweden darf die Opposition einen eigenen Etatplan erarbeiten und zur Abstimmung stellen. In Deutschland ist das nicht möglich. Hier legt die Regierung ihre Finanzplanung vor und die sie tragenden Parteien stimmen brav zu, denn alles andere würde ja als eine Niederlage der Regierung angesehen. Ja und? Das Parlament entscheidet! Das Parlament, unser Parlament, gebildet aus den Leuten, die wir als unsere Vertreter nach Berlin entsenden. Zurück zu den Wurzeln, würde ich empfehlen.

Beitrag erschien auch auf: denkenerwuenscht.com

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