Der zähe und begabte Kleine

 

Zum 85. Geburtstag: Am 19. Februar 1926 ist György Kurtág, einer der besten Komponisten der Gegenwart, geboren worden.

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Am 18. Juni 1995 wurde Karlheinz Stockhausens weit über zwei Stunden dauerndes Werk WELTRAUM, die elektronische Musik aus der Oper FREITAG aus LICHT, im voll besetzten Planetarium Artis in Amsterdam uraufgeführt. Diese Musik von gigantischen Ausmaßen, mit tief im Bassregister dröhnenden, schier endlos langen Drones auf der einen und wie Mückenschwärme flirrenden Wolken kürzester und brillanter Töne auf der anderen Seite war wie geschaffen dazu, den Hörer zu fesseln, aber beim ersten Hören auch zu überfordern. Das Auditorium war abgedunkelt, um die Aufmerksamkeit vollkommen auf die Bewegungen der Töne im Raum zu lenken und es zu ermöglichen, gleichzeitig die Bewegungen der Sterne auf dem künstlichen Himmel zu verfolgen. Nach einer Stunde gab es eine Pause, die man gerne nutzte, um die überwältigten Sinne wieder etwas ins Lot zu bringen, bevor die Reise weiter ging. Am Ende waren nicht wenige der Zuhörer erschöpft.

Schon in der Pause fiel mir ein kleiner, schmaler Mann an der Seite Stockhausens auf, der dem energischen Meister mit flinken, aber linkischen Bewegungen folgte. Wie Geselle Wagner seinem Herren Faust. Ein kurzer Haarschnitt, eine große Brille, im Auftreten etwas Niedergedrücktes, jedenfalls das genaue Gegenteil zum hochgewachsenen, kräftigen und selbstbewußten Stockhausen im gewohnt weißen Outfit. Der Mann hätte den Eindruck eines peniblen Büromenschen machen können, und manchmal dachte ich schon, ich sähe in seiner Hand eine Aktentasche. Es war fast wie damals in Wien, in den Zwanzigern, als der kurze Teddy Wiesengrund neben dem langen Alban Berg herging und ihm die Tasche trug. Und es war ebenso trügerisch. Denn auch der unauffällige kleine Mann neben Stockhausen hatte etwas Irritierendes, das Respekt heischte. War es die Selbstverständlichkeit, mit der er sich an Stockhausens Seite bewegte? Das professionelle Moment, das dem Gespräch der beiden äußerlich ungleichen Männer anzumerken war und das sie auf einer Ebene, der der Musik, einander annäherte?

Dieses erste Mal, an dem ich György Kurtág, den großen ungarischen Komponisten sah, hatte symbolischen Charakter. Denn seine Musik ist zunächst ebenso leise, unspektakulär, eine Miniatur wie er selbst; kaum möglich, dass sie die große Geste sucht. Dabei aber offenbart sie eine große Intensität. Stockhausen zaudert und zagt nicht, er packt zu, er trifft mit seiner Musik ins Schwarze, "dann klingelt die ganze Schießbude und alle Lampen gehen an". Kurtág ist vorsichtig, voller Selbstzweifel, gelangt letztlich aber genau dadurch zu einer äußersten Verdichtung in seiner Musik. Stockhausen ist unverkennbar ein extrovertierter Rheinländer mit einer extrem breiten Palette des Ausdrucks, Kurtág ein introvertierter, vergeistigter Ungar, seine Kunst tief und konzentriert. Berühmt wurde er mit Werken für Sopran und Ensemble (Messages de feu demoiselle R. V. Troussova) bzw. Sopran und Violine (Kafka-Fragmente). Überhaupt hat Kurtág viele Dichter vertont: Beckett, Hölderlin, Ahmatova, Cvetajeva, József, Pilinszky. Bei dieser Auswahl zeigt sich, dass er einen Hang zum Tragischen und Grotesken hat. Primär ist Kurtág kammermusikalisch ausgerichtet, aber er hat daneben einige sehr schöne Orchesterstücke wie STELE geschrieben. Wunderbar und auch witzig sind seine bereits mehrere Hefte umfassenden Klavierstücke (Játékok, auf deutsch Spiele).

Was ihn von Stockhausen unterscheidet, ist nicht so wichtig wie das, was ihn mit ihm verbindet. Kurtág ist so konsequent und kompromißlos wie man nur sein kann. Es hat lange gebraucht, bis sich Kurtág im Jahre 1959 zur Opusnummer 1 durchgerungen hat. Werke aus den 10 Jahren davor, die ihn nicht befriedigten, hat er zwar nicht vernichtet, aber verworfen. Immer wieder wurde ihm erlaubt, aus dem kommunistischen Ungarn auszureisen, um im Ausland zu lernen und zu arbeiten. Er konnte Stockhausens GRUPPEN 1958 in Köln hören und hat entscheidende Anstöße erhalten, ohne seine Unabhängigkeit aufzugeben. Zur Zeit der Uraufführung von WELTRAUM war er gerade in Amsterdam tätig. Seine Musiksprache ist eindeutig modern, hat aber sicher nicht so viele Gesichter wie die Stockhausens. Doch Kurtág konnte trotzdem vermeiden, in einen "Stil", in einen Manierismus zu verfallen, wie dies bei manchen amerikanischen Komponisten wie Reich und Glass der Fall ist. Kurtágs Musik kommt beim Publikum gut an: Es ist das Groteske, Spielerische, das seiner Musik, die keine Konzessionen macht, dennoch großen Zuspruch verschafft. Sicher spielt eine Rolle dabei, dass er nur für akustische Instrumente komponiert. Allerdings war auch der Weg zum Erfolg sehr lang, Kurtág musste zwei volle Jahrzehnte warten, bis der Erfolg kam. Er lebte vom Unterrichten an der Musikhochschule. Mittlerweile hat er alle bedeutenden Musikpreise der Welt erhalten, zuletzt 2006 den Grawemeyer-Preis für ...concertante... für Violine, Viola und großes Orchester. Auch hierbei hat er also Zähigkeit bewiesen und ist nicht von seinem Weg abgewichen. Es ist dieser künstlerische Mut, diese Radikalität, die den großen Künstler ausmachen.

Seit 2002 lebt Kurtág mit seiner Frau in der Nähe von Bordeaux, er hat zusätzlich auch die französische Staatsbürgerschaft angenommen. Kurtág ging es nie schlecht in Ungarn, er äußert sich auch nicht politisch, weshalb die Ungarn ihn wohl eher als seinen Studienkollegen György Ligeti schätzen, aber man darf annehmen, dass es nicht nur die Meeresluft und der Wein sind, die ihn nach Frankreich getrieben haben.

 

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