Der Kater vor dem Fest

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Die Katzenräuber gehen um. Überall sind sie aktiv. Sie klauen die armen Tiere der Katzenmami sozusagen unter der Milchflasche weg, nur um den praktisch unstillbaren Bedarf von Tierversuchs-Chemiekonzernen oder der international operierenden Katzendecken-Mafia zu befriedigen. Die Medien und das Internet sind voll von Beweisen für diese Untaten. Unser solidarisches Entsetzen wäre groß und berechtigt - fiele da nicht ein Schatten des Zweifels auf die Glaubwürdigkeit aller Berichte: Noch nie ist ein solcher Katzenfänger auch gefangen worden. Wie ist das möglich, wo doch unsere Polizei vom bayerischen Steuersünder bis zum rumänischen Taschendieb durchaus den einen oder anderen Missetäter erwischt?

Aber wie sollte sich beispielsweise jene Frau in Diez an der Lahn geirrt haben, die Ulli Kulke in einem Bericht zum Thema in der Berliner Morgenpost aufführt? Um 23.30 Uhr musste sie laut örtlicher Zeitung mitansehen, wie vor dem Haus ihre Katze von zwei Männern am Genick gepackt wurde. Als die entsetzte Frau um Hilfe schrie, ließen die Männer von Mautzi ab, stiegen in ihren weißen Lieferwagen (ohne Firmenaufschrift!) und fuhren davon. Die Katzenbesitzerin konnte im Auto „mehrere mittelgroße Gitterboxen" ausmachen. Sogar die Sprache hatte sie erkannt, jedenfalls dass sie „osteuropäisch" war.

Solche Präzision in der Darstellung macht glaubwürdig. Und Augenzeugen solcher Vorfälle gibt es bundesweit reichlich in Lokalblättern, Boulevardzeitungen und in der Regenbogenpresse. Ein Vielfaches davon steht im Internet, nachzulesen bei Haustierdiebstahl.deTigerfreund.deforum.tier.tvverschwundene-haustiere.deagtiere.de. Dutzende Bürgerinitiativen und Interessengemeinschaften, Internetforen, Chatklubs (oder Catklubs?) haben sich gegründet. Dort wird Buch geführt, in welchen Postleitzahlbezirken Katzenfänger gesichtet werden, und das ist in scheinbar mehr als 10% der verfügbaren der Fall.

Dieses Internet-Engagement verdanken wir wackeren Bürgern, meist Frauen im Alter zwischen 45 und 65 Jahren. Hunderte, wenn nicht Tausende Katzenbesitzerinnen allesamt. Deren Bewusstsein ist durch die vorgenannten Medien geschärft. Sie schauen nach den typischen weißen Lieferwagen, beobachten auffällige Zeitgenossen, die auf der Suche nach leeren Futterdosen um den Müll herumschleichen.

Dummerweise ist die Szene auf der Suche nach alleiniger Rettungskompetenz heillos zerstritten. „Panikmache" durch „Wichtigtuer" schade nur, denn es leiste der Behauptung Vorschub, all das sei nur ein Märchen, eine „Urban Legend", so kommt die Betreiberin der Website katzenfreunde-gegen-katzenklau.de der Sache schon näher. Immerhin muss die Szene einräumen, nicht nur keine überführten Täter, sondern auch keine anderweitigen Beweise vorlegen zu können.

Immerhin nennt man Zahlen. Die Katzenschützer sprechen von 200.000 bis 300.000 jährlich verschwindenden Tieren. Kulke dagegen rechnet glaubwürdig vor, dass es so um die 50.000 sein werden. Das ist nur ein kleiner Teil angesichts in Deutschland lebender zwölf Millionen Hauskatzen. Und den Katzenfreunden muss die traurige Wahrheit nahegebracht werden, dass ihre Lieblinge gerne einmal unter Autoreifen geraten und möglicherweise von Leuten erschossen, vergiftet oder weggefangen werden, die etwas dagegen haben, dass die pelzigen Lieblinge ihrerseits jedes Jahr 200 Millionen Singvögel, Fasanenküken und andere Vögel wegfangen.

„Bisher haben wir trotz vielfältiger Hinweise nie konkrete Beobachtungen oder gar gerichtsverwertbare Beweise für kriminelle Handlungen erhalten, sei es von Tierfängern oder von Tierversuchslaboren", sagt zu dem Thema der Sprecher des Deutschen Tierschutzbundes, Marius Tünte. Alle Recherchen von Tierfreunden hätten keine Anhaltspunkte ergeben, die eine Verfolgung durch die Polizei ermöglicht hätten.

Auch die Motivation potentieller Katzenfänger im Interesse der Industrie ist mehr als zweifelhaft, denn laut europäischer Verordnung und deutschem Tierschutzgesetz müssen seit Jahrzehnten sämtliche Versuchstiere für Forschungslabore aus registrierten Zuchten kommen. Aus Tierschutzgründen, aber auch, um die Forschungsergebnisse nachvollziehbar zu machen. Irgendwelche Hauskatzen würden die Forschungslinien nämlich unbrauchbar machen.

Wir müssen also leider der guten Frau aus Dietz konstatieren, dass sie nach allen Regeln der Vernunft trotz Katze einen Vogel hat. Nur spekulieren können wir, ob es sich bei ihr um ein Opfer einer Hysterie oder einer Massenhysterie handelt, ob sie eine Wichtigtuerin ist oder ob sie sich finanzielle Vorteile verschaffen will. Im Grunde handelt es sich aber wohl um einen von unendlich vielen dynamischen Prozessen, die sich in der Niedergangsgesellschaft abspielen - vom Glauben an die unzerstörbare Glühbirne bis zur zionistischen Weltverschwörung.

Nach dem Motto „Eine Million Fliegen können sich nicht irren“ wird jede Scheiße hochgejubelt, die am Wegesrand liegt. Auch wo man selbst nichts mehr bewegen kann, will man wenigstens so tun als ob. Und man will dazugehören oder wenigstens mitreden können. Nicht von ungefähr sind diese virtuellen Informationswolken fast immer so angelegt, dass gerade die Leute angesprochen werden, deren Intellekt zwar ausreicht, ein Problem zu erkennen, aber nicht, es vernünftig anzugehen.

Unsere Gesellschaft verliert mehr und mehr die Realität aus dem Blick. Unser Erfahrungsschatz speist sich nicht mehr aus der persönlichen Wahrnehmung oder jener glaubwürdiger Menschen aus unserem in der Realität verorteten Umfeld oder doch wenigstens aus seriösen Quellen, sondern aus dem sensations- und manipulationslüsternen Faktenfilter der Medien und dem Hörensagen-Weitersagen des Internets.

Wir lernen, nicht alles zu glauben, auch wenn die Quantität oder die Qualität der Lüge, also ihre Popularität, es uns nahelegt. Auch wenn wir emotional einbezogen werden oder wenn es unsere Meinungen zu bestätigen scheint, müssen wir uns mit Skepsis wappnen. Oft können wir sogar das Falsche schon daran erkennen, dass es allzu windschnittig daherkommt. So können und müssen wir uns gegen den neuen Umgang mit Wahrheit und Realität wappnen.

Demnächst mehr über das Thema Virtualität - und dann weniger albern, versprochen.

Mehr von Konrad Kustos gibt es hier: chaosmitsystem.blogspot.de

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