Der Exilant

Eine lange Geschichte des politischen Schutzsuchenden zeichnet die europäische Geschichte. Schon in den alten italienischen Stadtstaaten des Hochmittelalters kennen wir jene Patrizierfamilien, die ihre Konkurrenten in die Verbannung schickten, weil sie auf der „falschen“ Seite standen.

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Gewannen die Guelfen eine Stadt, mussten die Ghibellinen gehen – und suchten in einer ghibellinischen Stadt Schutz, um dort den Umsturz in der Heimat zu planen und Verbündete zu finden. Ab der Reformation ist die konfessionelle Frage nicht selten auch eine politische: die Katholiken des protestantischen Englands standen im Verdacht, einen Umsturz zugunsten eines katholischen Monarchen zu planen. Die gesamte Geschichte des jakobitischen Widerstands ist zugleich eine Geschichte der Verfolgung und Ausweisung. Hier ist es nicht nur bloße Nachbarschaft: jakobitische Kräfte fanden im katholischen europäischen Ausland Schutz. Ähnlich erging es denjenigen Protestanten, die nach ihrer Ausweisung in protestantischen Monarchien eine neue Heimat suchten. Das englische Wort „refugee“ ist womöglich auch deswegen genauer als „Flüchtling“, weil die Person ein „Refugium“ sucht, bzw. „Asyl“. Dass diese Variation historisch eng mit der zwangsweisen Auswanderung der französischen Hugenotten zusammenfällt, ist kein Zufall.

Die Moderne hat insofern eine Änderung mit sich gebracht, als dass sich die bis dahin vorherrschende Ansicht eines „aktiven“ Schutzsuchenden hin zum „passiven“ Flüchtling änderte. Seit der Antike beherrschte Europa die Vorstellung, dass ein Verfolgter Schutz erflehte und suchte – im alten Griechenland etwa, indem er das Heiligtum einer Gottheit aufsuchte. Ähnlichkeiten zum Kirchenasyl sind offensichtlich. Bereits ab der Französischen Revolution kündigte sich jedoch ein massiver Umbruch an: vor der Revolution flohen mehr als 100.000 Menschen ins europäische Ausland. Die eng umgrenzten Gruppen derjenigen, die ein dezidiertes Refugium suchen, wandelt sich zur amorphen Masse der Flüchtlinge. Die spezifizierte Gruppe aus katholisch-englischen Geistlichen oder hugenottisch-französischen Webern wandelt sich zu einer unspezifizierten Gruppe, die sich nur noch dadurch auszeichnet, dass sie „vor etwas flieht“. Der Personenkreis verliert somit auch ihre Identität: es sind keine Katholiken, keine Protestanten mehr; es sind keine Adligen oder Seidenspinner; keine Monarchisten oder Republikaner; keine Guelfen, keine Ghibellinen.* Die Massengesellschaft des späten 19. und 20. Jahrhunderts kennt mit millionenfachen Flüchtlingsströmen ein Phänomen, das der Frühen Neuzeit und dem Mittelalter in dieser Form fremd ist. Im Übrigen einer der Gründe, warum es so unpassend ist, Parallelen zwischen heutigen Erscheinungen und bspw. den Hugenotten ziehen zu wollen. Die Ansiedlung frühneuzeitlicher „refugees“ erfolgte nicht chaotisch, sondern folgte einem streng geplanten Muster und in begrenzten und kontrollierten Bahnen – die Migranten blieben eine homogene, überschaubare Gruppe und damit: menschlich.

Presse und Politik haben heute einen großen Anteil daran, zugunsten des Tagesgeschäftes etablierte und tragfähige Begriffe der Geschichtswissenschaft zu entreißen und zu entfremden. Die Unterscheidung zwischen Auswanderer, Asylant oder Flüchtling sind dermaßen aufgeweicht worden, dass eine Nennung der Kategorien bereits eine politische Aussage geworden ist. Dass damit nebenbei ein großer Teil des menschlichen Erfahrungsschatzes gezielt oder fahrlässig aufs Spiel gesetzt wird, ist nachrangig. Dass bis zur Revolution – und auch einige Zeit danach – der „normale“ Flüchtling kein mittelloser Auswanderer war, sondern im Gegenteil nahezu immer der oberen Schicht angehörte, oder zumindest einen Beruf ausübte, der im Ausland gefragt war, bleibt heute nahezu immer auf der Strecke. Die Hugenotten waren das, was man heute „Facharbeiter“ nennt; die Italiener, die im Deutschland der Frühen Neuzeit tätig waren, fast durchweg Architekten, Maler oder Ingenieure. Die Schweiz der letzten zweihundert Jahre bildete das Refugium störrischer Künstler und Ideologen.

Der Begriff, der im Folgenden eine Rolle spielen soll, ist der des Exilanten. Die ganze Welt redet von Flüchtlingen, doch von Exilanten spricht so gut wie keiner mehr. Die heutige Gesellschaft hat den amorphen Flüchtling liebgewonnen: er bleibt ein Phantom, ein unbekanntes Subjekt, weshalb man es gleichermaßen hassen wie heiligen kann. Der Exilant dagegen bleibt Individuum. Tief im Kulturgedächtnis sitzend, assoziieren wir mit dem Exilanten Persönlichkeiten wie Ovid, Dante, Bonaparte oder Einstein. Die Guelfen oder Ghibellinen, die in der Ferne den Umsturz in der Vaterstand planten, dürften historisch eher in diese Kategorie passen; vielleicht am ehesten noch Cosimo de Medici, der im venezianischen Exil saß, und später die Herrschaft der Albizzi in Florenz beendete. Es existieren keine Flüchtlingsregierungen, aber sehr wohl Exilregierungen. Das Exil bedeutet zugleich: Rückkehr. Der Exilant sieht seinen „Aufenthalt in der Fremde“ als genau das an – er wartet auf die Heimkehr. Ein Flüchtling dagegen ist eine „displaced person“, deren Zukunft ungewiss ist, vielleicht selbst nichts von der persönlichen Zukunft weiß.

Die Frühe Neuzeit kennt eine ganze Reihe Exilanten. An erster Stelle die bereits anfangs erwähnten Gläubigen, die ihrer Heimat den Rücken kehren, weil die Umstände für sie unerträglich geworden sind. Die Italienischen Kriege verändern jedoch auch auf weltlicher Ebene die Gewichte massiv. Die Familie Medici lebt für Jahrzehnte im Exil, bis sie in Florenz ihr Herzogtum errichtet. Nicht alle Familien haben dieses Glück. Die Sforza verschwinden ebenso aus der Geschichte wie die Bentivoglio. Letztere verlieren nur Bologna, erstere ein ganzes Herzogtum. Es gibt sie überall: die unbekannten Adligen, die bis zu den Umwälzungen des 16. Jahrhunderts friedlich ihre kleine Herrschaft pflegten, und dann entthront oder enterbt werden. Nicht jeder kommt dabei so gut weg wie Caterina Corner, deren Königreich – die Insel Zypern – vom venezianischen Staat einverleibt wird, dafür aber eine satte Pension erhält und ihren Lebensabend am Hof von Asolo verbringt.

Unser Exilant heißt Raffaele di Tesino, dessen Vater der Graf des Tesinotals im Trentino war und alles in den Italienischen Kriegen verlor. Raffaeles Sehnsucht nach seinem Grafenthron wird dazu führen, dass er auch jene Stadt, die ihm Asyl geboten hat, in den Untergang reißt.

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Ekkehardt Fritz Beyer

... „Eine lange Geschichte des politischen Schutzsuchenden zeichnet die europäische Geschichte. Schon in den alten italienischen Stadtstaaten des Hochmittelalters kennen wir jene Patrizierfamilien, die ihre Konkurrenten in die Verbannung schickten, weil sie auf der „falschen“ Seite standen.“ ...

Ist unter unserer(?) christlichen(?) Göttin(?) nicht nur ähnlich – sondern vielleicht sogar noch um Einiges extremer?

Sieht man es nicht daran, dass ihr sogar der Mord Bin Laden christliches Entzücken entlockte?
https://www.stern.de/politik/deutschland/freude-ueber-bin-ladens-tod-fuehrt-uns-merkel-ins-mittelalter--3582020.html

„Gibt es Hoffnung nach Merkel? ... Wer auf die Zerstörerin Merkel folgt, hat die Aufgabe, unseren ramponierten Glauben an Demokratie und Rechtsstaat zu reparieren. Ist eine deutsche Politik zum Wohl des Volkes heute überhaupt möglich? In den Staaten Osteuropas geht es doch!“ ...
https://dushanwegner.com/hoffnung-nach-merkel/

Gravatar: Miesepeter

Zur Zeiten des Kalten-Krieges war auch der Begriff Dissident gebräuchlich. Gemeint waren damit überwiegend Personen, die im Ostblock politisch aktiv waren und eine Art Opposition zum kommunistischen System darstellten. Es war klar, dass dieser Personenkreis Repressalien ausgesetzt war und verfolgt wurde. Gerade auf diesen kleinen, politisch aktiven Personenkreis wurde unser Asylsystem abgestimmt.

Die größte intellektuelle Leistung eines "Asylanten" heutzutage ist es, sich in das deutsche Sozialsystem zu schleppen, sich dort mir allen Mitteln festzukrallen und Geld abzuschöpfen.

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