Der Computer als Komplize zur Wiedergewinnung realer Lebenszeit
Der Computer ist ein hilfreiches Werkzeug. Die Archivierung von Schriftstücken, Bildern und anderen geistigen Werken gelingt fast mühelos. Gerade der Aspekt der Zeitersparnis macht das Medium Computer so unwiderstehlich. Allerdings hat das virtuelle Ordnungsverfahren auch Nachteile, die sich am Ende aber als Vorteile entpuppen.
Die Ordnung im Computer, so leicht und rasch sie mittels Bäumchenordner, Schubladen oder Apps eingerichtet werden kann, ist und bleibt volatil – ein schwankender Boden, der sich immerzu neu formiert, weil sich auch die Umgebung verändert. Was zweidimensional auf dem Bildschirm sichtbar wird, befindet sich nicht in der plastischen Welt wie zum Beispiel die Ordner, welche im Regal aufgestellt sind. Die gespeicherten Schriftdaten lassen sich nicht angreifen, in die Hand nehmen, von allen Seiten besehen und beriechen. Das Verschieben auf dem Bildschirm mittels Fingerwisch ist ein symbolischer Akt, die weiterentwickelte Form des Verschiebens mittels einer Maus. Die Ordner mit unseren Daten sind wie Sterne am Nachthimmel – für das Auge sichtbar, und doch unerreichbar. Sobald es Tag wird oder Wolken den Himmel bedecken, verlieren wir die Sterne aus den Augen – genauso, wie wir unsere Daten nicht mehr sehen, sobald der Computer vom Stromnetz genommen wird.
Der Computer ist ein Chaot
Diesen Essay schreibe ich auf dem Computer. Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort erscheint auf dem Bildschirm, das Formulieren geht flott von der Hand, Korrekturen sind flink erledigt. Der Text wächst und ist bald fertig. Abgelegt wird er nach logischen Kriterien in einer passenden Überdatei. Ich stelle den Computer ab, der Bildschirm erlischt, die Platte im Gehäuse rödelt noch ein bißchen und schweigt dann still. Der Aufsatz ist verschwunden. Da auf dieser Welt nichts verschwinden kann, wie uns die Physik lehrt: wo ist das Schriftstück geblieben? Allmählich zweifle ich an der Ordnungsliebe meines Computers. Wer das Programm zum Aufräumen einer Festplatte laufen läßt, kann das bunte Bild von Strichen und weißen Löchern bestaunen; es dokumentiert, wie wenig ordentlich es in einem Computer zugeht. Listig täuscht er eine Ordnung vor, die gar nicht vorhanden ist. Im Verborgenen herrscht ein grandioses virtuelles Durcheinander. Welchen Kontrast dazu bildet das jederzeit sicht- und greifbare, das durch und durch ehrliche körperliche Durcheinander von Schriftstücken auf dem realen Schreibtisch! Hier wird nicht geblufft, hier offenbart sich die ungeschminkte Wahrheit.
Körperlich vorhandene Schriftstücke erzeugen mehr Druck
Das Abarbeiten aufgelaufener Pflichten erzeugt Unbehagen, gern möchte man sich davor drücken. Aber die körperlich vorhandenen Dinge in unserem Arbeitszimmer signalisieren in penetranter Weise die unmißverständliche Aufforderung: Tu dies! Erledige das! Diesen Brief beantworte endlich! Jenes Manuskript muß gelesen und korrigiert werden! Der unaufgeräumte Schreibtisch ist ein wahrhaft unbehaglicher Ort. Er läßt auf Dauer nur zwei Alternativen zu: Flucht oder Aufräumen. Da niemand seinem Schreibtisch auf Dauer weglaufen kann, wird man sich irgendwann zum Aufräumen aufraffen. Es besteht dabei durchaus die Möglichkeit, den ganzen Schriftkram zu packen und spornstreichs in die unterste aller Schubladen zu stopfen. Da mag dann das Papier, unseren Blicken entzogen, still vor sich hingilben. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit groß, daß uns gerade diese Schublade nächtens in unseren Träumen heimsucht. Denn diese Schublade sehen wir täglich, auch wenn der Computer nicht an ist. Und auch ohne die Schublade zu öffnen, wissen wir, was sich darin verbirgt. Die Schublade ist kein virtueller, sondern ein höchst realer Ort! Ein Handgriff, und das gesamte Ausmaß vernachlässigter Pflichten liegt still anklagend vor uns. Nun könnte man täglich einen großen Bogen um diesen unanständigen Ort machen. Doch, weil dieser uns im Weg ist, buchstäblich zu Umwegen oder zum Wegschauen zwingt, wird seine Präsenz umso lebendiger. Da ist eine Datei, die im Computer gespeichert hat, wesentlich bescheidener. Sie ist kein aufdringliches Hindernis, dem man ausweichen muß. Und weil sich die Computerdatei dezent im dunklen Hinterzimmer versteckt, läßt sich ihre Existenz so lange erfolgreich aus dem Bewußtsein verdrängen, bis sie ganz und gar vergessen ist.
Das Ordnunghalten im Computer ist gar nicht so einfach
Vielleicht gehören Sie zu jenen willensstarken und konsequenten Menschen, die sogleich bei jedem Arbeitsgang eine dauerhaft sinnvolle Ordnung herzustellen und auf dem Bildschirm digital umzusetzen wissen. Ich gebe zu, mir ist dies noch nie gelungen, auch wenn meine Vorsätze stets die besten waren. Erstens weiß ich aufgrund fehlender Zukunftsvisionen nicht recht, welche Schriftstücke später dazukommen werden, zweitens verleitet die Leichtigkeit der Ablage dazu, einen Text kurz mal irgendwo „hinfallen“ zu lassen, wo er dann ein Schattendasein führt und womöglich später gelöscht wird. Ein reales Schriftstück, das im Papierdurcheinander auf dem Schreibtisches zu liegen kommt, ist zwar auch vom Schicksal des Vergessenwerdens bedroht. Allerdings ist die Gefahr wesentlich geringer. Das liegt zum Teil auch daran, daß Dinge, die wir anfassen und riechen können, die also körperlich vorhanden sind, größere Wertschätzung genießen als das Virtuelle, Ungreifbare, bloß aus Entfernung zu Betrachtende. Körperliche Unordnung nervt und zwingt zum Aufräumen. Virtuelle Unordnung führt ins Nirwana, wir nehmen sie nicht ernst, denn eigentlich ist sie überhaupt nicht da.
Der Computer macht sich nicht so breit wie Papier
Vor kurzem habe ich in einem spontanen Anfall quälenden Überdrusses mein Büro aufgeräumt. Auch die ins unterste Schubfach gestopften Manuskripte kamen dabei zum Vorschein. Ich habe sie mit grimmiger Entschlossenheit aufgearbeitet. Danach war die Schublade leer. Das erregte in mir solche Freude, daß ich die Stunden danach in märchenhafter Heiterkeit verbrachte. Wie bescheiden ist doch ein Computer! Gleich, wieviel Unerledigtes in ihm stecken mag, nie plustert er sich auf. Gänzlich fremd ist ihm die Wichtigtuerei des Papiers, nie würde er wie dieses die Unverfrorenheit besitzen, Zentimeter für Zentimeter raumgreifend Regale, Tischflächen, Sitzgelegenheiten und sogar den Boden zu besetzen. Mein Computer steht immer schlank und bescheiden an dem ihm zugewiesenen Platz, und wenn man ihn ausmacht, ist er so herrlich aufgeräumt wie nichts sonst in diesem Haus. Über diesem wunderbaren Anblick kann man ganz vergessen, daß irgendwo hinter dem Blechgehäuse zahlreiche virtuelle Aufgaben gespeichert sind. Man sieht sie nicht, der Apparat scheint sie sich einverleibt zu haben. Fort sind sie und vergessen!
Zuletzt nun will ich ein vertrauliches Geständnis ablegen, aber bitte – das bleibt unter uns. Die eben geschilderte Eigenschaft des Computers ist mir ist mir gar nicht unsympathisch! Für die diskrete Entsorgung von gewissen Schriftstücken ins digitale Nirwana bin ich meinem Computer sogar dankbar. Der Kasten ist nicht nur ein zuverlässiger Arbeitskumpel, sondern zugleich ein Komplize, der mir treu und verschwiegen zur Wiedergewinnung von Qualitätslebenszeit verhilft. Dezent läßt er Dokumente verschwinden und zeigt damit, daß längst nicht alles wichtig ist, was wichtig scheint.
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