Definition von Armut = Armut? Oder = Absurdität

Gemäß der Definition der Europäischen Union gelten Menschen als armutsgefährdet, die mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Bevölkerung auskommen müssen. Ist das aber wirklich Armut? Diese Definition ist willkürlich. Warum ausgerechnet 60 Prozent, warum nicht 55 Prozent oder 65 Prozent?

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Eine Definition ist dann definitiv falsch, wenn sie zu absurden Ergebnissen führt. Die Armutsdefinition der EU führt zwangsläufig zu absurden Ergebnissen. Würde sich zum Beispiel morgen die Stadt Starnberg, die einen Spitzenplatz beim Pro-Kopf-Einkommen zu verzeichnen hat, für unabhängig erklären, dann würden dort ganz automatisch Bürger unter die Armutsdefinition fallen, die gemeinhin als Besserverdiener gelten würden.

Als absurd kann man es nur bezeichnen, wenn eine Gesellschaft im Ganzen reicher wird, es aber plötzlich nach der Definition mehr Armut gibt.

Stellen wir uns vor, im nächsten Jahr würde sich die Kaufkraft aller Bundesbürger verfünffachen. Also jeder Bundesbürger könnte fünfmal so viele Güter und Dienstleistungen kaufen als zum jetzigen Zeitpunkt – und zwar jeder Bundesbürger vom Harz-IV Empfänger bis zur Bankenvorstand. Würde das etwa dazu führen, dass die Armut nach der Definition zurückgeht. Nein, es wären immer noch genauso viele Arme zu beklagen wie vorher, selbst wenn jeder Bundesbürger sich seine eigene Sauna und Swimmingpool leisten könnte.  

Nehmen wir an, dass vier Füntel aller Bundesbürger ihr Einkommen verfünffachen würden und das untere Fünftel ihr Einkommen immer noch vervierfachen. Dann würde laut EU-Definition die Zahl der Armen sogar steigen. Wenn die Statistik mehr Armut aufweist, wenn der Wohlstand explodiert, dann ist die Definition, die dem Armutsbegriff zu Grunde liegt, absurd.

Das Szenario lässt sich natürlich auch umdrehen. Eine Gesellschaft stürzt ins Elend, aber laut Definition nimmt das Armutsrisiko ab! Stellen wir uns vor, eine wirtschaftliche Katastrophe käme über uns und die Einkommen aller Bürger würden plötzlich halbiert. Mit einem halben Einkommen, hätten viele Bürger schon das Gefühl, jetzt ärmer zu sein. Die Statistik sieht das nicht so, solange das Durchschnittseinkommen ebenfalls sinkt. Dass während der Finanzkrise viele Spitzenverdiener pleite gegangen sind, kann dazu führen, dass plötzlich weniger Bürger als Arm gelten, weil der statistische Durchschnitt sinkt. Die Harz-IV-Empfänger haben also Grund zur Hoffnung. Wenn nur genug Banker pleite gehen, gelten sie plötzlich nicht mehr als arm…

Diese Definition führt im EU-Vergleich dazu, dass das Armutsrisiko in Großbritannien vergleichbar ist mit dem von Rumänien und das Armutsrisiko in Bulgarien sogar geringer als das von Großbritannien. Wie bitte?. Das Armutsrisiko soll in Bulgarien geringer sein als in Großbritannien? Vielleicht sollten die EU-Statistiker einmal Bulgarien besuchen und dann darüber nachdenken, ob sie an dieser Definition festhalten wollen.

Dazu Philip Plickert in der FAZ

Eine Armutdefinition, die auch dazu führen kann, dass Menschen als "arm" bezeichnet werden, die in Saus und Braus leben, und Menschen als reich, nur weil diese etwas weniger elend leben als der Rest der Gesellschaft,  ist unbrauchbar.

 

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Gérard Bökenkamp

Egon Kirsch: Vielleicht habe ich mich mich mißverständlich ausgedrückt. Ich meinte das Real- und nicht das Nominaleinkommen. Eine Verfünffachung ist, wenn der Zeithorizont lang genug ist, nicht ausgeschlossen. Vergleichen Sie etwa die Einkommen eines mittleren Einkommens um 1900, um 1950 und 2000, dann sind in diesen Zeiträumen solche erheblichen Zuwächse durchaus Wirklichkeit gewesen.

Gravatar: maromano

@Fabian Heinzel
Ich denke, der Autor hatte denselben absoluten Armutsbegriff im Sinn – welchen auch sonst, wenn er den relativen ablehnt – er hatte wohl nur nicht den Mut, dies auszuformulieren.
Die Konsequenz daraus wäre natürlich (wie man am Vergleich mit Indien sieht): Wir in Deutschland sind doch alle reich – welchen Grund gibt es also sich zu beschweren? Das ist absurd – es sind nun mal nicht alle gleich reich und daraus folgt, dass es auch Arme oder besser Ärmere gibt.
Was man dabei als menschliche Grundbedürfnisse erachtet, ist auch noch mal eine Frage der Definition – da würde ich weiter gehen. Was ist mit Bildung – z.B. teure Universitätsausbildung?
Warum gibt es eine zwei Klassen-Medizin? Der absolute Armutsbegriff ignoriert all das.
Mir scheint daher eher der absolute Armutsbegriff ein politischer Kampfbegriff zu sein, der offensichtliche Unterschiede in unserer Gesellschaft verdecken soll. Genau wie der in diesem Zusammenhang so gern verwandte Begriff des Neides verdecken oder abwerten soll, dass die Forderungen der „Neidischen“ eigentlich nur Forderungen nach etwas mehr Gerechtigkeit sind.

Gravatar: Karin Pfeiffer-Stolz

Herr Heinzel, geben Sie sich keine Mühe. Leute, deren Weltbild statisch ist, werden das niemals verstehen können.
Diskussionen von Anhängern und Profiteuren der Wohlfahrtsunternehmen sind ohnehin nur eitles Geschwätz. Das Gerede von Armut dient der Eigenwerbung der „Sozialunternehmer“, für tatsächlich notleidende Existenzen interessiert sich keiner, mit denen ist kein Geschäft zu machen.
Willkürlich in Zahlen gegossene Armutsgrenzen dienen der Gewinn- und Verlustrechnung aller Wohlfahrtsunternehmen. Je größer die Anzahl der Armgerechneten, desto höher die Rendite.
Auch die Wohlfahrtsindustrie gehorcht den universellen Gesetzen des Marktes.

Aber: erklären Sie das mal den Leuten, welchen die politischen Zahlenbretter vorm Kopf den Hausverstand vernagelt haben!

Dazu ein kleines Erlebnis, das bereits mehr als 40 Jahre zurückliegt. Ich ging damals als Jugendliche mit einer Gruppe Sternsingen. Wir besuchten auch eine Barackensiedlung. Die Leute galten als bitter arm und bezogen so etwas wie Sozialhilfe. Aufgrund meiner Sternsingerei kam ich damals erstmals in solche Behausungen hinein und war entsetzt – nicht etwa wegen eventueller Unordnung oder Einfachheit. Nein! Mit Bestürzung entdeckte ich in fast jeder Hütte einen Fernseher und weitere Geräte der zivilisatorischen Entwicklung, die in unserem bürgerlichen Haushalt fehlten, weil meine Eltern sie für zu teuer und für unnütz erklärt hatten! Bislang hatte ich geglaubt, Armut schlösse den Besitz von Gegenständen aus, die mir damals wie heute aus überflüssiger Luxus erscheinen wollen. Die Erfahrung, daß dem nicht so ist, hat nach dem damaligen Erlebnis noch jahrelang beschäftigt. Und wie man sieht, war dieser Eindruck so groß, daß ich mich bis heute daran erinnere.

Gravatar: Fabian Heinzel

@maromano: Der relative Armutsbegriff ist ein politisches Konstrukt. Das Beispiel vom Swimmingpool ist nicht unsinnig - immerhin haben Flachbildfernseher und Automobile es ja bereits jetzt in Haushalte geschafft, die als "relativ arm" gelten". Der Begriff relativ arm verzerrt den Blick auf das was eigentlich der Sinn von Armutsbekämpfung sein sollte: Die Bekämpfung von Elend (Elend= kein Essen, keine Kleidung, kein Obdach, keine medizinische Versorgung, also absolute Armut, nicht Elend = einer hat mehr als der andere). Ich weiß nicht genau, wie der Autor, das sieht, aber mein Gegenvorschlag wäre, wenn es um politische Armutsbekämpfung geht, sich an den Begriff der absoluten Armut zu halten. Übrigens ist selbst die Kaufkraft eines ostdeutschen Arbeitslosen heute höher als zu DDR-Zeiten von so manchem DDR-Parteibonzen. Klar, wir vergleichen uns mit anderen, und wenn diese mehr haben als wir, werden wir neidisch - davon ist keiner frei, aber glauben Sie wirklich, dass es deshalb sinnvoll ist, den Begriff "arm" für jemanden, der auf den Straßen von Kalkutta um eine Handvoll Reis bettelt, genauso zu verwenden, wie für einen Übergewichtigen in einer beheizten Wohnung in Marzahn? Und wo wir schon bei Indien sind: Dort ist die relative Armut angesichts des Wohlstandswachstums bestimmt auch gestiegen. Da sollte man die Inder doch mal fragen, ob sie die alten, gleicher verteilten Zeiten zurückhaben wollen...

Gravatar: Egon Kirsch

Richtig, die Grenze ist absurd und willkürlich. Wenngleich auch Ihre Begründung ebenso absurd ist, denn würde man das Einkommen verfünffachen, müsste es auch entsprechend erwirtschaftet werden, was nur bei fünfmal höheren Preisen geht, womit wir wieder beim gleichen Zustand wie zuvor wären...

Aber es gibt einen faktischen Grenzwert, der als Hartz-IV bekannt ist: Wer weniger hat, ist echt arm dran...

Grundsätzlich sollte sich die Definition aber an den lokalen Verhältnissen orientieren, und nicht an den unseren. In Osteuropa käme man mit dem Hartz-IV-Satz prima über die Runden, und gälte zu recht als reich.

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