Das Leiden der Nomenklatura

Chaim Noll wuchs als Kind eines privilegierten Schriftstellers mit den Kindern der DDR- Nomenklatura auf. Jetzt hat er seine Erinnerungen daran vorgelegt.   Wer einen langweiligen Lebensbericht erwartet, täuscht sich.

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Chaim Noll wuchs als Kind eines privilegierten Schriftstellers mit den Kindern der DDR- Nomenklatura auf. Jetzt hat er seine Erinnerungen daran vorgelegt.

Wer einen langweiligen Lebensbericht erwartet, täuscht sich.

Noll erzählt mit viel menschlichem Mitgefühl die Geschichten der Menschen, denen er damals begegnete, ob Politbüromitglied,  Professor, Maler, Schriftsteller oder hoher Parteifunktionär- sie werden ebenso einfühlsam beschrieben, wie die Tischler, Verkäuferinnen, Verwaltungsangestellten, Straßenbahnfahrer.

 

Heraus kommt ein sehr differenziertes Bild der DDR, das trotzdem keinen Zweifel daran lässt, dass es sich um eine Diktatur gehandelt hat, die zwar nicht mehr so tödlich war, wie die stalinsche, aber ebenso effizient bei der Zerstörung von Persönlichkeiten, Träumen, Hoffnungen, Wünschen, individuellen Lebensentwürfen, von Selbstachtung.

Überraschend ist, wie wenig die machthabenden Funktionäre und ihre funktionierenden Mitläufer selbst an das Gesellschaftsmodell geglaubt haben, das sie zäh, bis zur Selbstverleugnung verteidigten.

Noch überraschender, dass die Mehrheit der privilegierten Kinder der DDR mit größerer Skepsis, ja Abneigung gegenüberstand, als ein unter normalen Verhältnissen aufgewachsener Jugendlicher. Es scheint so zu sein, dass, wenn man immerhin an einem Zipfel des Mantels der großen weiten Welt teilhaben kann, die Enge und die Beschränkungen der Verhältnisse als noch unerträglicher empfunden werden.

Besonders viele Funktionärskinder kehrten der DDR den Rücken. Schließlich auch Noll und seine Frau, Tochter des bekanntesten und beliebtesten Grafikers der DDR, Werner Klemke. Beide hatten es zu Meisterschülern an der Berliner Kunsthochschule gebracht, einschließlich des Privilegs, unter Aufsicht Galerien und Museen in Westberlin besuchen zu dürfen, ausgestattet mit 5 DM „Tagegeld“, die nur reichten, weil Fahrten mit den öffentlichen Verkehrsmitteln und der Museumseintritt für DDR- Passbesitzer frei war.

Allein durch solch armselige Privilegien gelang die Gängelung eines großen Teils der Kulturszene. Bis kurz vor dem Grenzübergang wusste man nicht, ob man wirklich über die Grenze durfte. Erst in letzter Minute wurde von der Genossin, die alle Pässe mit zum Treffpunkt brachte, eine Ablehnung mitgeteilt, natürlich ohne jede Begründung.

 

Wer einmal die Grenze passiert hatte, hoffte darauf, es irgendwann wieder einmal tun zu dürfen und hielt den Mund.

In welchem Maß das System den Menschen verbog, beschreibt Noll an seinem eigenen Beispiel. Für ihn kam es nicht infrage, sich zur Nationalen Volksarmee einziehen zu lassen, weil  die NVA- Uniform zu sehr an die Wehrmacht erinnerten.

Eine offene Verweigerung, also eine Konfrontation mit dem System, scheute Noll noch zurück. Er kam auf die Idee, zu hungern und sich wegen seiner Essstörungen in die Psychiatrie einweisen zu lassen. Er hielt das wochenlang durch und verlor über 15 kg Körpergewicht. Mit Erfolg, weil er genug Ärzte fand, die ihm halfen, indem sie seine Simulation zur Krankheit erklärten, obwohl sie ihn durchschauten.

Immer wieder hat Noll auf seinem Weg solche Helfer gefunden.

Neben den stillen Verächtern des Systems unter den Funktionären gab es auch die zynischen. Noll erlebte ein eindruckvolles Beispiel.

Mit seinem Vater besuchte er im September 1968 die legendäre „Faust“ Premiere im Deutschen Theater in Berlin. Die Inszenierung von Wolfgang Heinz fand größten Anklang beim Publikum.

In der Pause trat Kulturminister Klaus Gysi zu Vater und Sohn Noll und machte witzige Bemerkungen über die begeisternden Regieeinfälle.

Aber am Ende der Vorstellung verließ Walter Ulbricht mit Gattin ohne Beifall zu spenden noch während des euphorischen Schlussapplauses das Theater.

Am nächsten Tag verfügte Gysi zahlreiche Veränderungen an der Inszenierung. Wolfgang Heinz musste als Intendant zurücktreten. Das Stück wurde nie wieder so, wie bei der Premiere gespielt.

Der witzige Gysi wurde über Nacht zum „erbarmungslosen Exekutor“ des Parteiwillens.

Interessant ist Nolls Erzählung über die Brüder Heartfield/ Herzfelde. Ich hatte bisher keine Ahnung, dass dem berühmte John Heartfield, Erfinder der politischen Fotomontage, in den fünfziger Jahren vom DDR- Regime verboten worden war, in Berlin zu wohnen. Das Verbot wurde erst aufgehoben, nachdem Heartfield im Zug von Leipzig, wo er wohnen musste , nach Berlin, wo er arbeitete, einen Herzanfall erlitt und Brecht zu seinem Gunsten intervenierte.

Wieland Herzfelde, der seinen  Bruder in die DDR zurück geholt hatte, beschreibt Noll als „von einer geistigen Kühnheit“, wie sie heute, unter der Fuchtel der Politischen Korrektheit, undenkbar ist. Das lässt immerhin ahnen, worin die Anziehungskraft der kommunistischen Intellektuellen bestand, die trotz aller Kühnheit bereit waren, der Partei zuliebe zu kuschen.

Natürlich hatte Noll auch privilegierten Zugang zu in der DDR verbotenen Büchern. Er beschreibt seine Qualen beim Lesen von Margarete Buber- Neumanns Bericht über ihre Erlebnisse in den Lagern Stalins und der Nazis. Wie schwer es ihm fiel, zu glauben, wie viele Millionen Opfer Väterchen Stalin gefordert hat und dass er zeitweilig mit den Nazis kooperierte. In der DDR war der Hitler- Stalin- Pakt und die Auslieferung deutscher Kommunisten, die in die Sowjetunion emigriert waren, an die Nazis praktisch unbekannt.

Noll bemerkt an dieser Stelle richtig, dass die Zahlen relativ unberührt lassen. Nur durch Einzelschicksale wird begreiflich, was sich abgespielt hat und nicht wiederholen darf.

Das Verfälschen der Geschichte geht bis heute weiter.

Im Untergeschoß des deutschen Bundestages gibt es ein „Kunstwerk“, in dem jeder Reichstags-, und Bundestagsabgeordnete bis 1999 mit einem Namenskästchen vertreten ist. Die von Stalin ermordeten deutschen Kommunisten werden hier als Opfer des Nationalsozialismus bezeichnet.

Nolls Bericht legt Zeugnis ab, wie es in der DDR wirklich zuging. Wer ihn liest, dem wird klar, dass dieser Staat ungeliebt war, selbst bei denen, die dort die Macht hatten, oder von der Macht profitierten.

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