Charly, du blöder Hund!

oder

Sündenbocksyndrom, tierisch

 

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Meine Laufstrecke führt vom Fluß fort und geradewegs zwischen die Häuser hinein. In den letzten Tagen hat es getaut. Verwitterte Schneehaufen lehnen erschöpft an den Gartenzäunen. Schwärzlich schimmert der Asphalt im matten Licht des Nachmittags.

Wo mein Weg in die Querstraße einmündet, versperrt mir ein schwarzer Riesenschnauzer den Weg. Ich sehe, daß der Hund von einer Frau an der Leine geführt wird und will dem Gespann in weitem Bogen ausweichen. Der Hund ist jedoch vom Wunsch beseelt, die nahende Läuferin begrüßen zu wollen.
„Charly, hierher!“ ruft die Frau. Sie zieht an der Leine, holt diese aber nicht ein. Ungehindert nähert sich mir der Hund.
„Charly!“ Da hat mich Charly schon erreicht, er ist außer sich vor Freude über die Begegnung und zeigt das auch.
„Charly!“ kreischt die Frau. Sie reißt an der Leine, versäumt es aber, diese zu arretieren. Die heftige Zugbewegung geht ins Leere. Es gibt einen eindruckvollen Plumps, als ihr Körper der Länge nach auf den mit Streugut durchsetzten Schneewall niedergeht. Und dann ist es auf einmal ganz still.

Charly läßt von mir ab und läuft zu seinem gestrauchelten Frauchen. Ich bremse meinen Lauf und eile ebenfalls zur Unfallstelle. Die Frau liegt seitlich, die rechte Hand unter sich begraben. Sie rührt sich nicht.

„Haben Sie sich wehgetan?“

Keine Antwort.

„Haben Sie sich was gebrochen?“

Leises Wimmern.

„Können Sie aufstehen?“ Ich beuge mich über die Liegende und berühre sanft ihren linken Oberarm. Sie richtet sich ein wenig auf, zieht die rechte Hand unter dem Gesäß heraus und beäugt sie wie einen wundersamen Gegenstand, den sie im Schneehaufen gefunden hat.
„Ist etwas gebrochen?“ frage ich und überlege schon, bei welchem Haus ich schellen und Hilfe holen soll.

Die Frau verliert das Interesse an der Hand und stiert den Hund an. Sie ergreift den auf der Straße liegenden Griff und vergißt diesmal nicht, die Leine zu arretieren. Der Schnauzer macht einen Hüpfer, als er den harschen Zug spürt. Mit angelegten Ohren und zitterndem Schnurrbart duckt er sich nieder. 
„Blöder Hund!“ kreischt die Frau in einer Lautstärke, welche die Grenze der gesetzlich tolerierten Dezibelobergrenze deutlich überschreitet. „Platz!“
Charly folgt aufs Wort.
„So ein braver Hund“, sage ich und versuche mit gespielter Heiterkeit die Situation zu entkrampfen. „Schimpfen Sie ihn doch bitte nicht aus, er hat ja gar nichts gemacht.“

Mein Beschwichtigungsversuch scheitert. Auf dem Schneehaufen sitzend scheißt Frauchen ihren Charly nach Strich und Faden zusammen. Schließlich fasse ich die Tobende unter dem linken Arm und ziehe sie hoch. Jetzt sehe ich ihr Gesicht aus der Nähe: ein farblos-teigiges Antlitz mit Tränensäcken über ausgeprägten Augenringen. Ein feiner Bierkellerhauch umweht mich. Die Frau klopft sich den Mantel ab, ein abgerissenes und schmutziges Ding.

„Charly, du blöder Hund!“ keift sie und zerrt das Tier an der Leine hinter sich her. Mich läßt sie stehen, genau wie den verwitterten Schneeberg, auf dem sie eben noch gesessen hat. Während meine Beine beim Weiterlaufen zum gewohnten Tempo zurückfinden, denke ich: „Charly, du armer Hund!“

 

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Krümelmonster

Gut gemeint und gut gemacht! Nicht jeder Hund geht gleich in Angriffsstellung, wenn man sich um seine Rudelmitglieder kümmert. ;-) Charly, du armer Hund - dein Frauchen hat dich sicher nicht verdient.

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