Berufungspraxis in Deutschland

Im Berliner Journal für Soziologie (Jahrgang 20, Ausgabe 4, Jahr 2010, Seiten 499-526) wurde eine wissenschaftliche Abhandlung publiziert, die die Besetzung von Lehrstühlen in einem chirurgischen Fach während der letzten 30 Jahre untersucht. Die Ergebnisse sollen hier vereinfacht wiedergegeben werden.

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Die Politik beeinflusst die deutschen Universitäten zunehmend. Hier sei besonders auf die sogenannte Exzellenzinitiative verwiesen. Das hat Auswirkungen auf die Vergabe von Spitzenpositionen, denn immer weniger Universitäten bekommen immer mehr Geld. Die Berufungsverfahren beschreiben sich zwar selbst als objektiviert und neutral, also ausschließlich den Verdiensten der Bewerber verpflichtet – aber stimmt das? Zunächst wurden darum in der Studie die 34 in Frage kommenden Universitäten auf ihre Forschungsqualität hinuntersucht (verausgabte Drittmittel, Publikationsanalyse, Anzahl von Promotionen pro Jahr, Angaben über die Zahl von Erfindungsmeldungen sowie weitere Parameter). Es gibt in Deutschland wenigstens 20 Universitäten, die im Forschungsranking als hervorragend einzustufen sind. Danach wurden die offiziellen Kompetenzindikatoren (wie Operationserfahrung, Kompetenz in der Lehre, Anzahl und Güte der wissenschaftlichen Publikationen sowie seit einiger Zeit Höhe der Drittmittel), die geeignete Kandidaten innerhalb der Berufungsverfahren für einen Lehrstuhl definieren, untersucht. Dabei konnte auch eine breite Streuung von Personen nachgewiesen werden, die diese Kriterien erfüllen.

Die empirische Untersuchung der tatsächlich erfolgreichen Besetzungen zeigte,dass sogenannte Schließungsmechanismen eine Rolle spielen, da die erfolgreichen Bewerber in den letzten 30 Jahren nur aus maximal 10 von 34 Kliniken stammen. Das finanzielle Kapital in Form von Drittmitteln war das wichtigste Zuweisungskriterium. Hier stellt sich erstens die Frage, ob es ein fachliches Verdienst ist, viel Geld eingeworben zu haben. Dann muss festgestellt werden, dass aufgrund der zunehmend ungleichen Verteilung von Geldern zwischen den Universitäten von einer echten Chancengleichheit nicht mehr gesprochen werden kann: Von einer drittmittelschwachen Universität aus braucht man sich gar nicht erst zu bewerben. Die Drittmittel konnten die Art und Weise der erfolgten Besetzungen aber nicht völlig erklären, denn in den letzten 15 Jahren waren es 4-5 andere finanzkräftige Kliniken als in den 15 Jahren davor und manche "starken" Kliniken hatten trotzdem keinen Erfolg.

Nach Untersuchung aller Kriterien erwies sich bei formal weitgehend gleichqualifizierten Bewerbern und einer daraus folgenden Unsicherheit über die Entscheidungsgrundlagen innerhalb des Berufungsverfahrens als entscheidendes Unterscheidungsmerkmal die Herkunft des Bewerbers im Sinne einer persönlichen Beziehung zu einem Lehrstuhlinhaber, von dessen Klinik auser sich bewarb und der als Patron agierte. Diese Patronage von getreuen Schülern durch immer dieselben wenigen Personen erklärt den Besetzungserfolg am besten. Es sind vor allem einflussreiche Netzwerke, nicht wissenschaftliche Reputation, die entscheidend sind. Dabei fällt auf, dass das erfolgreichste Netzwerk auch die Gutachter stellt, die über die Forschungsanträge und benötigten Gelder entscheiden. Es kommt damit zur Reproduktion des Führungspersonals aus großenteils denselben Kliniken und zur Ausbildung eines akademischen Kastensystems. Diese kartellartige Schließung verschärft sich zunehmend.

Ob das in anderen Fächern auch so ist, kann die Studie natürlich nicht beantworten. Der Wissenschaftsrat sollte aber doch als Konsequenz seine Empfehlungen zur Ausgestaltung von Berufungsverfahren überarbeiten.Politisch sollte überlegt werden, ob man im Rahmen der weiteren Modernisierung der Universitäten das Lehrstuhlprinzip (den "deutschen Professor") nicht durch ein Staffsystem, wie in Amerika üblich, ersetzen sollte.Damit würden solche Patronagen zumindest erschwert.

FAZ vom 19. Januar 2011: „Auf den Zahn gefühlt. Vetternwirtschaft: Eine Studie zur Berufungspraxis bei den Kieferchirurgen.“

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