Auf dem Fließband zum Herrn Doktor

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Das deutsche Gesundheitssystem gilt bislang als vorbildlich in der Welt. Lange Wartezeiten in Arztpraxen, der immense Kostendruck der Krankenkassen und die geringen Entgelte für Arztleistungen haben das System aber in Schieflage gebracht. Noch nehmen es die meisten Patienten geduldig hin.

In Deutschland hat jeder Bürger Anspruch auf eine ordentliche medizinische Versorgung. Wir sind stolz auf das System der umfassenden Krankenversicherung, darauf, dass jeder im Krankheitsfall beste ärztliche Behandlung bekommt. Aber es verändert sich etwas im Gesundheitswesen.

In dieser Woche war ich mit meiner Mutter beim Augenarzt. Sie hatte um einen Termin gebeten und nun, zwei Monate später, war es so weit. Als sie pünktlich zur vereinbarten Zeit um 9.30 Uhr die Praxisräume betrat, saßen und standen dort sage und schreibe 35 weitere Patienten, die noch vor ihr dran waren. Während ich im Flur der Praxis mangels Sitzplätzen an der Wand lehnte, habe ich sie gezählt. Der Unmut im Wartezimmer wuchs indes von Minute zu Minute.

 

Eine andere Dame hatte uns bereits mit dem Satz "Sie haben sich hoffentlich ein Butterbrot mitgebracht. Das dauert hier immer lange" begrüßt. Und nach und nach schalteten sich andere Patienten in das Gespräch ein. Manche erzählten von stundenlangem Warten auch in anderen Praxen. Das Wort "Fließband" fiel, eine ältere Frau sagte, ihr habe mal ein Doktor gesagt, sie solle über den Friedhof spazieren gehen und schauen, wie viele Leute in ihrem Alter da bereits lägen. Heißt: Stellen Sie sich mal nicht so an wegen der paar Schmerzen. Nach einer Stunde und 15 Minuten wurde meine Mutter vorgelassen. Untersuchung und Gespräch beim Arzt dauerten rund vier Minuten.

 

 

All das mag nicht repräsentativ sein, aber jeder hat so etwas schon erlebt und sich gefragt: Warum ist es nicht möglich, einen Termin zu erhalten, der dann auch gilt – plus minus zehn Minuten, meinetwegen? Viele vermuten Raffgier der Ärzte, die Porsche-Cabrios und exotische Reisen zu den Golfplätzen der Welt finanzieren müssen. Die Wahrheit sieht leider oft ganz anders aus. Sie liegt in einem immensen Kostendruck für die Praxen und einem fragwürdigen Abrechnungssystem der Kassen. "Ich muss pro Stunde 250 Euro abrechnen, um Praxis und Mitarbeiter bezahlen zu können", erzählte mir jüngst ein niedergelassener Chirurg aus einer nordrhein-westfälischen Kleinstadt. 250 Euro – bei einer Fallpauschale von 23 Euro pro Patient und fünf Euro pro Röntgenaufnahme für ein ganzes Quartal kann sich jeder selbst ausrechnen, wie viel Zeit einem Arzt für das Gespräch mit dem Patienten bleibt und warum immer mehr Praxen als Druckbefüllung für die Behandlungszimmer organisiert werden.

Für die Behandlung einer Fraktur, also eines Knochenbruchs, kann ein Tierarzt bei einem Hund etwa das Zehnfache abrechnen wie ein niedergelassener Chirurg bei der gleichen Behandlung eines Kassenpatienten. Das habe ich inzwischen recherchiert. Hier gerät ein ganzes System langsam in die Schieflage. Eigentlich ist es fast schon ein Wunder, wie geduldig viele Patienten das alles immer noch hinnehmen.

Beitrag erschien zuerst auf: rp-online.de

 

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Paul

Herr Kelle, dann stärken Sie mit Ihrer Stimme die AfD, wenn sich in Deutschland grundsätzlich etwas ändern muß.

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