1989- Tagebuch der Friedlichen Revolution

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Sechzehnter November 1989

Die rege Reisetätigkeit von Ost nach West führt zu einem rapiden Verfall des Umtauschkurses der DDR-Währung in D-Mark. Auf dem freien Markt sackt er auf 1:20, was prompt zu Spekulationen über eine Währungsreform führt.

 

Das Neue Deutschland verkündet auf der ersten Seite, dass es sich von seiner Chefredaktion trennt.

 

Die Ostberliner Akademie der Wissenschaften rehabilitiert ihre ehemaligen Mitglieder Ernst Bloch und Robert Havemann. Letzterer war der einflussreichste Dissident der DDR: ein von den Nazis zum Tode verurteilter Kommunist sich in seiner Zelle mit kriegswichtigen Forschungen befassen durfte und die Vollstreckung des Todesurteils deshalb aufgeschoben wurde.

In der DDR wurde Havemann 1964 aus der SED rausgeworfen, bekam 1965 Berufsverbot und wurde 1966 aus der Akademie der Wissenschaften ausgeschlossen. Bis zu seinem Tod im Jahr 1982 war er der bekannteste und zugleich wirkungsvollste Gegner der SED. In gewisser Weise ist er Mitbegründer der Opposition der 80er Jahre, denn der kurz vor seinem Tod von ihm und Rainer Eppelmann initiierte „Berliner Appell“ für atomare Abrüstung war die Initialzündung für die Gründung von Friedenskreisen in der DDR.

 

Der Gründungsaufruf für eine Grüne Partei wird veröffentlicht. Darin wird ein konsequenter ökologischer Umbau der DDR gefordert, aber auch eine radikale Absage an ein „umweltzerstörerisches, rohstoffvergeudendes Wachstum“. Der Text liest sich streckenweise, wie aus Wolfgang Harichs „Kommunismus ohne Wachstum“ herauskopiert. Tatsächlich tauchte Harich, dessen totalitäre Tendenzen bei den westlichen Umweltschützern nur bedingt Anklang gefunden hatten, regelmäßig bei den Vorbereitungsveranstaltungen der Grünen Partei auf, um Einfluss zu nehmen. Aber aus dem blendenden Rhetoriker war ein starrköpfiger alter Mann geworden, dessen Philippiken immer weniger Anklang fanden.

 

Siebzehnter November 1989

Die Verhältnisse in der betonierten Tschechoslowakei kommen in Bewegung. In Prag findet eine große Demonstration zu Ehren des von den Nationalsozialisten ermordeten Jan Opletal statt. Etwa 50.000 Studenten und Professoren haben sich auf dem Wenzelsplatz versammelt. Die Demonstration ist genehmigt. Aber als die Studenten „Freiheit!, Freiheit!“ zu rufen beginnen, schreitet die Polizei ein. Bei der nachfolgenden Schlägerorgie gibt es viele Verletzte.

 

In Ostberlin wollen sich Mitglieder des Verbandes Bildender Künstler die Freiheit nehmen und die Mauer auf der Ostseite bunt bemalen. Sie werden zwar nicht daran gehindert, aber in der Nacht werden die Bilder von Grenzsoldaten grau überstrichen.

 

Währenddessen tagt schon wieder die Volkskammer. Die Alibi-Parlamentarier wollen richtige Volksvertreter werden. Bei ihrer letzten Sitzung am 13. November hatten die Abgeordneten SED-Bezirkschef Hans Modrow zum Ministerpräsidenten gewählt. Nun bildet Modrow seine Regierung. Statt bisher 44 Minister weist das Kabinett Modrow „nur“ noch 28 auf, darunter drei Frauen – zwei mehr als zuvor. Einige der neuen Minister sind als Inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit registriert. Die Blockparteien stellen mehr Minister als je zuvor in einer Regierung. Das Kabinett Modrow nennt sich „Koalition“.

Stellvertreter von Modrow wird der für Kirchenfragen zuständige CDU-Chef Lothar de Maiziere. Ursprünglich war dafür Konsistorialpräsident Manfred Stolpe vorgesehen. Da sein Vorgesetzter, der Berliner Bischof Gottfried Forck, aber Stolpes Dienstentlassung ankündigte, sollte er Mitglied der Regierung werden, zog Stolpe seine Zusage zurück. Er wusste, dass er auf den Schutz der Kirche nicht verzichten konnte.

In seiner Regierungserklärung verspricht Modrow jedem alles: die Unumkehrbarkeit der Demokratisierung, Einbeziehung der verschiedenen Interessengruppen in die weitere Umgestaltung der Gesellschaft, Aufbau rechtsstaatlicher Verhältnisse, eine Wirtschaftsreform, Umweltschutz. Für sein Programm braucht er vor allem viel Geld aus dem Westen. So einfach war das aber nicht mehr zu bekommen.

Das Ministerium für Staatssicherheit wird nicht, wie von den Demonstranten gefordert, ersatzlos aufgelöst, sondern nur verkleinert und mit neuem Namen, Amt für Nationale Sicherheit, versehen.

 

Die Volkskammerabgeordneten beginnen eine groß angelegte Säuberungsaktion. Bereits am 13. November waren 27 Abgeordnete ersetzt worden. Nun folgen weitere. Etwa die Hälfte verliert ihren Sitz. Rechtlich gesehen ist das Verfahren mehr als fragwürdig. Es zeigt vor allem, dass die Volksvertreter noch lange nicht in der Demokratie angekommen sind.

 

Gesäubert wird auch in Bulgarien. Todor Schiwkow wird nach scharfer Kritik auch von seiner Funktion als Staatsratsvorsitzender entbunden.

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Rüdiger Braun

Da hoffen wir mal das bald der 01. Januar ist und Sie ihren Blick auf die Gegenwart werfen können. Retrospektiven sind laaangweilig und nur für Historiker irgendwie von Belang.

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