1989- Tagebuch der Friedlichen Revolution

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Vierter November 1989

Großdemonstration in Berlin. Es ist die erste von der SED genehmigte Kundgebung, zu der nicht von der SED, einer Blockpartei oder einem anderen staatlichen Organ aufgerufen wurde. Aber die SED hat erfolgreich Einfluss genommen. Dem Vorbereitungskreis gehörten nicht nur Oppositionelle und Künstler, sondern auch Vertrauensleute der SED an. Darunter Gregor Gysi, der sein rhetorisches Talent dafür eingesetzt hatte, dass neben ihm auch der ehemalige Spionagechef der Staatssicherheit Markus Wolf und Politbüromitglied Günter Schabowski einen Platz auf der endlos langen Rednerliste bekamen. Keine Chance hatte dagegen Wolf Biermann, dem an diesem Tag die Einreise in die DDR verweigert wurde.

Der Wunsch der SED-Führung ist es, mit dieser Demonstration das Heft des Handelns wieder in die Hand zu bekommen. Es soll ein Bekenntnis zu Reformen werden, mit dem Ziel, einen demokratischen Sozialismus aufzubauen. Natürlich unter Führung der SED.

Etwa 500.000 Menschen versammeln sich in Berlin, was die Kundgebung zur bisher größten der friedlichen Revolution macht.

Dass die Veranstaltung dennoch ein zwiespältiges Gefühl hinterließ, lag an ihrer Konzeption, die bewirkte, dass es am Schluss zwei Kundgebungen gab: Eine fand auf dem Podium statt, die andere auf dem Platz.

Zunächst bewegt sich der Demonstrationszug am Gebäude der Nachrichtenagentur ADN vorbei zum Palast der Republik. Von dort geht es zum Alexanderplatz, eine große, zugige Freifläche. Dort ist eine hölzerne Tribüne aufgebaut, die Walter Kempowski, der vor dem Fernseher sitzt, an ein „grob zusammengezimmertes Schafott“ erinnert.

Als erster Redner besteigt Spionagechef a. D. Markus Wolf das Schafott. Gysi hatte den Künstlern in der Vorbereitungsgruppe eingeredet, bei Wolf handele es sich um einen Reformer. Den Menschen vor der Tribüne ist das nicht weiszumachen. Wolf, den Kempowski als „Typ Reichswehr-Offizier“ deklariert, wird bald durch Pfiffe und Sprechchöre am Weiterreden gehindert. Damit ist seine Reformkarriere beendet, bevor sie beginnen konnte.

Politbüromitglied Schabowski wagt dennoch den Versuch, die Masse auf Partei- und Staatschef Egon Krenz, auf Reformen und einen demokratischen Sozialismus einzuschwören. Er behauptet, Krenz hätte den Schulterschluss mit Gorbatschow vollzogen, stellt sogar mehr Reisefreiheit in Aussicht. Auch ihn wollen die Menschen nicht hören. Pfiffe, Buh-Rufe und Sprechchöre fordern: „Aufhören, Aufhören!“

Der Bürgerrechtler Jens Reich, der neben Schabowski steht, sieht, wie dessen Gesichtszüge entgleisen. Er kann die Zurückweisung der Menge nicht ertragen. Widerspruch auszuhalten gehört nicht zu den Tugenden eines Politbüromitglieds.

Später beschreibt Schabowski dieses Erlebnis als Wendepunkt in seinem Leben, da ihm bei dieser Gelegenheit klar wurde, dass die SED ihre Macht verspielt hat.

Gysi, der zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt ist, kann sich mit Spitzen gegen die Stasi vor allzu vielen Pfiffen schützen. Aber auch ihm nehmen die Menschen die Reform-Rhetorik nicht ab.

Außer den vier Genannten spricht noch eine Reihe von Schriftstellern, Künstlern und Bürgerrechtlern. Alle halten sich an die Vorgaben und werben für Reformen und den demokratischen, den „richtigen“ Sozialismus. Nur Christa Wolf geht auf die Demonstranten ein. Sie bekennt ihre Schwierigkeiten mit dem Begriff Wende und führt den Wendehals in die Debatte ein. Sie weist auf die Rolle der Sprache bei der Befreiung von Diktatur und Zensur hin. „Was bisher so schwer auszusprechen war, geht uns auf einmal frei über die Lippen.“ Aus den Sprüchen und Losungen der Demonstranten leitet sie ein leidenschaftliches Bekenntnis zur Revolution ab, die für die bekennende Sozialistin ebenfalls nur den „richtigen“ Sozialismus zum Ziel haben durfte. Wenn Christa Wolf noch genauer hingeschaut hätte, wäre ihr nicht entgangen, wie sehr die Menschen auf dem Platz sich bereits vom Sozialismus verabschiedet haben.

„SED in die Opposition“, lauten die Parolen der Sprechchöre und Transparente, „SED- Ade!“ oder „8, 9, 10 – SED kann geh’n!“. „Der Sozialismus in der DDR steht zur Disposition“, ist in Abwandlung eines Krenz-Spruchs zu lesen, und „Es lebe die Straße“.

Wenn die Sonne ab und zu durch die Wolken bricht, ertönt sofort der Ruf: „Reisewetter, Reisewetter“!

Gegenüber Egon Krenz sind die Demonstranten unmissverständlich: „Zirkus Krenz – die Vorstellung ist aus“, „Abschaffung der Krenz-Truppe“, „Krenz-Xiaoping? – Nein, danke!“.

Was in Berlin an Forderungen zu sehen ist, trifft auf alle anderen Demonstrationen dieses Tages und der kommenden Wochen zu. Aufmerksamen politischen Beobachtern hätte es spätestens am 4. November 1989 dämmern müssen, dass es mit der DDR vorbei war.

Außer in Berlin gibt es Demonstrationen in fast 50 Städten und Gemeinden der DDR. Über eine Million Menschen sind an diesem Tag auf den Beinen.

 

Seit den frühen Morgenstunden ist die Grenze zwischen der Tschechoslowakei und der DDR wieder offen. Um zu verhindern, dass es erneut zu einer Besetzung der Prager Botschaft der BRD kommt, verkündet der Vize-Innenminister der DDR im Fernsehen, dass Anträge auf ständige Ausreise ab sofort „unbürokratisch“ entschieden würden. Alle Ausreisewilligen sollten ihren Wunsch der zuständigen Polizeidienststelle mitteilen und nicht den Weg über die Tschechoslowakei nehmen.

 

Fünfter November 1989

Es vergeht kein Tag mehr ohne eine öffentliche Willensbekundung. In Gera fordern die Teilnehmer einer Demonstration die Streichung des Führungsanspruchs der SED aus der DDR-Verfassung.

Das Volk der DDR ist nicht wiederzuerkennen. Es zeigt immer deutlicher, dass es der SED überdrüssig ist. Auch die Opposition emanzipiert sich von der SED. Am Vorabend wurde auf der ersten ordentlichen Vorstandssitzung des Demokratischen Aufbruchs beschlossen, nur noch mit Gruppen zusammenzuarbeiten, die den Führungsanspruch der SED ablehnen.

 

In Rostock findet die letzte Dialog-Veranstaltung nach SED-Manier statt. Der erste Sekretär der Bezirksparteileitung Rostock will über Meinungspluralismus diskutieren. Als er schon bei der Frage ins Stottern kommt, was er unter Diktatur des Proletariats verstehe und auch weitere Fragen nicht beantworten kann, übernimmt kurzerhand ein Mann von Neuen Forum den Platz im Podium.

 

Eine „Gründungsinitiative“ gibt den Aufruf zur Gründung einer Grünen Partei in der DDR heraus. Es ist eine der letzten Parteigründungen der Opposition. Sie ist schwierig, weil einige Ökologiegruppen schon längere Zeit mit der staatlichen Gesellschaft für Natur und Umwelt (GNU) zusammenarbeiten, die als eine Antwort auf die kirchliche Umweltbewegung ins Leben gerufen worden war. Die Diskussion, ob Strukturen der GNU in die neue Partei hineingenommen werden sollten oder nicht, wirkt sich hinderlich aus.

Ich wurde Mitglied er Grünen Partei, wie kurz darauf Matthias Platzeck, der für ein Gründungsmitglied der Umweltgruppe Argus in Potsdam gehalten wurde. Die Grüne Partei der DDR wurde zum Trittbrett für Platzecks politische Karriere.

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